Damit nichts untergeht
„Bilal – Leben und Sterben als Illegaler“ thematisiert das menschengemachte Flüchtlingsdrama zwischen Afrika und Europa. Noch im Programm: Eine spannende deutsch-polnische Inszenierung der Dreigroschenoper und ein Musical.
Szenenfotos aus „Bilal – Leben und Sterben als Illegaler“. Bildrechte: Landesbühne
(iz) Beim Stichwort „Schiffsunglück im Mittelmeer“ erinnern Sie sich bestimmt spontan an folgende Zeitungsmeldungen:
- 24.1.2011: Taucher finden 16. Todesopfer der Costa Concordia
- 25.1.2011: Costa Concordia: Vier deutsche Todesopfer identifiziert
Oder eher an diese?:
- 15.3. 2011: 35 Menschen auf dem Weg nach Italien ertrunken
- 6.4.2011: 150 Menschen vor Lampedusa ertrunken
- 14.4.2011: Seit 1988 haben über 10.000 den nassen Tod gefunden
- 9.5.2011: Dutzende vor Tripolis ertrunken
- 2.6.2011: 270 Menschen im Mittelmeer ertrunken
- 19.8.2011: Über 2.000 ertrunkene Boatpeople wurden in den vergangenen Monaten zwischen Nordafrika und Lampedusa bzw. Malta gezählt
- 13.8.2011: Nato ließ bis zu 1800 lybische Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken
- 11.4.2011: „Auf Europa rollt ein menschlicher Tsunami zu (Silvio Berlusconi)“
Ihr Verbrechen ist die Hoffnung auf ein besseres Leben – auf ein wenig Würde. Wer ohne Visum kommt wird kriminalisiert – muss Europa verlassen und taucht in die Illegalität ab. Vom Status her ist er ein Verbrecher. Unsere Gesetze machen aus Helden Verbrecher. Torsten Leißer, Referent für Menschenrechte und Migration der Evangelischen Kirche beim Publikumsgespräch am 19. Januar 2011
Die einen wussten nicht, wohin mit ihrem Geld, und leisteten sich eine Kreuzfahrt; die anderen wussten nicht, wo sie es hernehmen sollten, damit ihre Familie nicht verhungert. Die Aussicht, es in Europa zu verdienen, war der Strohhalm, an den sie sich klammerten, der sie durch die Strapazen einer Flucht durch die Wüste trug, aber nicht retten konnte nach dem Kentern einer Nuss-Schale, die sie ins Land der Verheißung bringen sollte.
Der italienische Journalist Fabrizio Gatti mischte sich unter die Flüchtlinge, die sich zu Zehntausenden ans Mittelmeer durchschlagen, wenn sie nicht schon vorher verhungern, verdursten, zu Tode geprügelt werden oder nicht mehr weiterkommen, weil ihnen das letzte Geld von Schleppern und Trittbrettfahrern abgezockt wurde. Darüber schrieb er ein Buch, das Intendant Gerhard Hess in die Hand bekam und beschloss, es auf die Bühne zu bringen. Mit „Bilal – Leben und Sterben als Illegaler“ greift die Landesbühne ein Thema auf, das uns alle aufrütteln sollte.
Ich würde sie alle dahin gehen lassen, wohin sie wollen. Dramaturg Peter H. Fliegel beim Publikumsgespräch am 19. Januar 2011
Vor der Premiere gab es ein Publikumsgespräch mit Fabrizio Gatti, Thorsten Leißer (Referent für Menschenrechte und Migration der Evangelischen Kirche in Deutschland) und Peter Hilton Fliegel (Dramaturg), moderiert von Katharina Guleikoff (Radio Jade). Am 6.2. gibt es eine weitere Gesprächsrunde mit Flüchtlingen. Schon in der Einführung zum Stück hat Fliegel alles gesagt, was man dazu sagen kann, um der Arroganz wohlhabender Europäer zu begegnen: „Wir dürfen die Flüchtlinge nicht als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ diffamieren.“ Gemeinhin werden Flüchtlinge schlicht und bequem unterteilt in „gute“, weil politisch verfolgte, und „schlechte“, die „nur“ wirtschaftliche Probleme haben und sich in die Hängematte unseres Sozialsystems legen wollen. Tatsächlich geht es um Leben und Tod ganzer Familien, die das letzte Geld zusammenkratzen, um die Stärksten auf die weite Reise zu schicken. Die wollen arbeiten und Geld nach Hause schicken, statt allein in der Fremde von einem Minimum dahinzuvegetieren.
Wie dieser Stoff auf der Bühne umgesetzt wurde, darüber lässt sich streiten. Unter Regie von Eva Lange hat Diana Pähler die Ausstattung minimiert: eine kahle Schrägbühne, sonst nix. Als Kostüme Feinripp und Jogginghosen, nur der Italiener im Anzug. Und ein Haufen alter Schlafsäcke und Plastikwasserkanister als einziger Besitz der modernen Nomaden. Keinerlei „Atmo“, die in die Wüste, in ihre Heimat, ihre Kultur versetzt. Somit blieb alles Emotionale auf die Dialoge reduziert. Fast jede/r spielt mehrere Rollen, die fließend ineinander übergehen. So werden auch Schlepper zu Opfern eines brutalen Systems. Abstraktion als künstlerisches Mittel. Wer sich ohnehin mit dem Thema auseinandergesetzt hat, dem mochte das reichen.
Wer in der Konsequenz sein Leben, seine Zukunft in die Hand nimmt, kann kein Verbrecher sein. Sie suchen Arbeit, keine Sozialhilfe. Sie kommen hierher, um ihre Situation durch Arbeit zu verbessern. Hilfe für Afrika? Der Niger z.B. könnte aus eigener Kraft existieren – doch Frankreich beutet das Land aus, um billiges Uran zu bekommen. Deutschland und Italien sind die besten Freunde der Diktatoren in Eritrea. Die Migration ist nicht aufzuhalten. Wenn ich das weiß, kann ich doch dafür sorgen, dass sie vernünftig abläuft. Fabrizio Gatti, Autor von Bilal beim Publikumsgespräch am 19. Januar 2011
Gatti selbst sagte, dass er zwischendurch weinen musste. Er hat alles, was dazu gehört – Gestalten, Gesichter, Gefühle, Gerüche, Geräusche, Hitze, Kälte, Staub, Hunger, Durst – aus eigener Erfahrung lebenslänglich auf Abruf parat. Doch es geht ja gerade darum, bei jenen EMPATHIE zu wecken, die um „Concordia“-Opfer weinen, aber froh sind, dass Lampedusa ganz weit weg ist. Wenn ich solch eine Literaturvorlage auf die Bühne bringe, dann doch, um die Aussagekraft mit den verfügbaren Mitteln zu verdichten und zu verstärken. Die Leute zu packen und von ihrem mitteleuropäischen Wohlstandsthron zu holen. Der klassische BILD-Leser, selbst im Feinripp am Frühstückstisch, braucht mehr Folklore, damit ihm das Brötchen mal aus der Fresse fällt. Das hat, sagen wir mal, nicht so geklappt. KollegInnen anderer Zeitungen wie der NOZ haben sich drastischer ausgedrückt. Aus Respekt vor dem Engagement der Landesbühne in diesem gesellschaftspolitisch drängenden Thema lassen wir es dabei bewenden. Zumindest konnte die Schlusssequenz einiges herausreißen: Das Einzelschicksal aller Charaktere wird zu Ende erzählt und endet in einem vielstimmigen Choral, der die Vielfalt und Vielzahl der persönlichen Dramen transportiert.
Egal, wie die Inszenierung als solche ausfällt und was sie bei den Zuschauern hinterlässt: Schon mit der Aufnahme des Themas, den Begleitveranstaltungen und dem medialen Echo hat unsere Landesbühne ein brisantes Thema aus der allseitigen Verdrängung geholt. Das fand bereits überregionale Resonanz, und diese Auftragsarbeit wird hoffentlich die bundesweite Theaterlandschaft erobern. (iz / hk)
Weitere Aufführungen (jeweils 20 Uhr im Stadttheater): Fr., 03.02. / Mo., 06.02. / Mi., 15.02. / So., 26.02.
Am 6.2. um 18 Uhr 30, Oberes Foyer: Gesprächsrunde mit Sami Alsharif (Flüchtling aus dem Sudan) und Karim Al Wasiti (Flüchtlingsrat Niedersachsen), moderiert von Peter Hilton Fliegel. Die Klasse 10b des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums präsentiert den Zuschauern ein Interview mit Fabrizio Gatti, eine Gesprächsreihe mit Migranten, Hintergrundinformationen zum Thema Migration und eine exemplarische Flüchtlingsgeschichte.
TheaterKirche zu „Bilal“
Die TheaterKirche beschäftigt sich am Sonntag, 5. Februar, um 18 Uhr im Gemeindehaus der Christus- und Garnisonkirche mit dem Stück „Bilal“. Welche Konsequenzen hat die Abschottungspolitik der EU? Vor welche Gewissensfragen stellt uns der moderne Menschenhandel? Das Stück bietet für die Theaterkirche wie immer unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Die Kooperation TheaterKirche, das gemeinsame Projekt der Landesbühne Nord und der Christus- und Garnisonkirche, geht ab Sonntag in die nächste Runde. Gemeinsam wird wie immer eine Annäherung an die aktuelle Inszenierung des Spielplans gewagt. In 35 Minuten wird durch Live-Musik, Worte und Szenen Kirche mit Theater verknüpft. Dramaturg Peter Hilton Fliegel, zwei Schauspieler und Pastor Frank Morgenstern interpretieren das Stück.
Opera za trzy grosze (Deutscher Untertitel: Dreigroschenoper)
Das Gastspiel des Teatr Polski Bydgoszcz im Stadttheater war unglaublich. Eine gefühlt komplett ungestrichene Fassung des Brecht-Weill-Klassikers, über drei Stunden lang (mit zwei Pausen), auf POLNISCH. Das hieß für alle nicht polnischsprachigen Zuschauer: Drei Stunden deutsche Obertitel an der Leinwand lesen. Oder auch nicht. Denn es war ja Theater und kein Hörspiel, und wer das Stück kennt, hat zumindest die Songtexte im Ohr. Vor allem musste man sich einfach drauf einlassen. Oder auch nicht: Nach jeder Pause hatten sich einige Stühle geleert. Die blieben, zehren noch lange von einem unvergesslichen Theaterabend. Ein über 30köpfiges Ensemble auf der Bühne und im Orchester: Das gibt’s bei uns allenfalls mit Statisten. Ob mit oder ohne Simultan-Gucken-Hören- Lesen wurden alle Sinne stark beansprucht. Es war packend, intensiv, atemberaubend, überraschend, schräg, witzig, brutal. So dicht am Original und doch ganz neu erfunden und brandaktuell. Zum Auftakt wurden Bilder vom Royal Wedding (April 2011) eingespielt (die Oper spielt zur Zeit einer Krönung im 18. Jh.), am Ende waren Aufnahmen von den Unruhen in England im August 2011 zu sehen. Mehr ist nicht nötig, um über sprachliche Grenzen hinweg den passenden Kontext zu schaffen. Wer die Aufführung verpasst hat, darf zu Recht traurig sein, sich aber auf ein gemeinsames Projekt der Landesbühne mit dem Teatr Polski Bydgoszcz im Herbst freuen: „Der Bromberger Blutsonntag. Eine polnisch- deutsche Annäherung“. Die Kooperation wird gefördert im Fonds Wanderlust der Kulturstiftung des Bundes. (iz)
Eliza ohne Pisa
„My Fair Lady“ ist ein ausverkaufter Publikumsschlager, den wir gar nicht mehr bewerben müssen. Politisch oder gesellschaftlich interessant ist das Musical sowieso nicht, oder? Ein bisschen schon: Sprache bzw. Ausdrucksfähigkeit und gesellschaftlicher Status sind untrennbar miteinander verbunden. Nicht nur damals, nicht nur in England. Die Geschichte von Eliza Dolittle und dem geltungssüchtigen Professor Higgins, der das Unterschichten-Girl zu einer feinen Dame dressiert, ist 1912 angesiedelt. Doch auch heutzutage wird keiner im Bewerbungsgespräch beim Personalchef einer Bank mit „Hey, Alder, was geht?“ reüssieren (!). Egal: Regisseur Olaf Strieb wollte gar keine aktuellen Bezüge zu Pisa und ähnlichen Diskussionen schaffen, sondern den Klassiker als solchen in Szene setzen. Und das ist ihm und seinem Ensemble, allen voran Gaststar Marianne Curn aus Wien, wunderbar gelungen. Wenn Darstellung, Sprache, Tanz und Gesang ganz unangestrengt rüberkommen, weiß man, wie sich alle ins Zeug gelegt haben. Zwei Dinge am Rande: Erstaunlicherweise ist dies die erste Inszenierung dieses Musicals an der Landesbühne überhaupt. Nur die Vorlage, Bernard Shaws „Pygmalion“, kam hier 1961 mal zur Aufführung. Und dann fragten einige, warum man hier den Straßendialekt – Londoner Cockney – nicht in (plattdeutschen) Regionalkolorit übertragen Anzeige hat: Weil da schon bundesweit viele dran gescheitert sind. Auch eine schwäbelnde, babbelnde oder sächselnde Eliza funktioniert nicht, da passt nur die Berliner Schnauze. Karten gibt’s noch für die Aufführungen am 18.2., 12.3., 16.3., 23.3., 30.3. und 14.4. – jeweils um 20 Uhr im Stadttheater