Mahnwache für die Opfer von Hanau
Feb 222020
 

Mahnwache im Pumpwerk für die Opfer des Terroranschlags in Hanau. Foto: Ulf Berner

(iz) Am 19. Februar erschoss ein rechtsextremistisch motivierter Täter in Hanau acht Menschen mit Migrationshintergrund und tötete danach seine Mutter und sich selbst. Zum Gedenken an die Opfer des Terroranschlags fanden sich heute über 400 Menschen im Pumpwerk zu einer Mahnwache zusammen. Eingeladen hatten die  Stadt Wilhelmshaven, der Landkreises Friesland und der Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven statt. In einer gemeinsam vorgetragenen Rede brachten Wilhelmshavens Oberbürgermeister Carsten Feist und Frieslands Landrat Sven Ambrosy auf den Punkt, was aus diesem Anlass einmal gesagt werden musste.

Sven Ambrosy: Es sind Stunden der Trauer. Ich bin traurig, weil 10 Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Es waren feige und brutale Morde. Geplant und vollzogen von einem Mann, der unauffällig inmitten einer mittelgroßen Stadt lebte. Dabei ist unerheblich, ob der Täter psychisch krank oder gesund war. Erheblich ist, dass er politisch motiviert gehandelt hat.
Familien haben Angehörige verloren. Menschen, die mitten aus dem Leben gerissen wurden. Menschen, die nun für den Rest ihres Lebens mit der Trauer und den Verletzungen an ihrer Seele leben müssen. Die nicht verstehen werden, warum ihre Schwester, ihr Bruder, ihr Sohn, ihre Mutter und ihr Vater hingerichtet wurden.
Ich bin traurig, denn die Hinterbliebenen und Verletzten werden nie wieder ein normales Leben führen können.
Dem Generalbundesanwalt zufolge haben alle Erschossenen bis auf die Mutter des Täters einen Migrationshintergrund. Die Getöteten waren zwischen 21 und 44 Jahre jung, einige von ihnen mit kurdischer Herkunft und deutscher Staatsbürgerschaft, ferner Menschen aus der Türkei, Rumänien, Bulgarien, Afghanistan und Bosnien-Herzegowina.
Doch welche Rolle spielen Herkunft und Staatsbürgerschaft? Keine! Es waren Menschen, die einem politisch motivierten brutalen Mörder zum Opfer wurden!

Carsten Feist: Als Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke im Juni 2019 wegen seiner klaren Haltung gegen den Rassismus ermordet wurde, waren wir sprachlos. Als in Halle an Jom Kippur im Oktober 2019 Schüsse auf die Synagoge fielen, waren wir von Ohnmacht gelähmt und fassungslos.
Als am Mittwoch in Hanau erneut Menschen starben, weil ein menschenhassender Rassist den Völkermord des dritten Reiches weiterführen wollte, fand ich meine Fassung wieder. Ich fand meine Sprache wieder. Ich erwachte aus meiner Ohnmacht. Ich war und ich bin wütend.
Ich bin wütend, dass den Feinden unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung bisher keine Einhalt geboten werden konnte.
Ich bin wütend, dass der stumme Aufschrei der vielen Menschen, die sich nach Kassel und Halle solidarisch mit den Opfern zeigten, nicht gefruchtet hat.
Ich bin wütend, dass in Thüringen kein deutliches politisches Zeichen gesetzt wurde, dass zuerst ein Blumenstrauß geworfen werden musste, um die Vernunft wachzurütteln.
Ich bin wütend, dass sich die Bundestagsabgeordnete Renate Künast von einem rechten Netzaktivisten als „Drecksfotze“ bezeichnen lassen muss, der dafür von unseren Gerichten noch nicht einmal verurteilt wird.
Ich bin wütend, dass sich gewählte Ratsmitglieder unserer Stadt von einem Ratsherrn als „dreckiges Volk“ bezeichnen lassen müssen.1
Ich bin wütend, dass die rechte Gewalt so alltäglich geworden ist, dass sie heute in den Medien zum Teil hinter dem Karnevalsauftakt zurückstecken muss.
Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem es nicht mehr ausreicht, mit Worten gegen rechts zu sein. Wir müssen den Anfängen wehren, mit der ganzen Härte unseres Gesetzes. Wir müssen aufstehen und tätig werden.
Wer auf Worte wie „Drecksfotze“ und „dreckiges Volk“ nicht reagiert, macht sich mitschuldig. Er toleriert Entgleisungen, Verletzungen und Diffamierungen, Hetze, Rassismus und Diskriminierung. Er duldet damit verbale Gewalt und sieht tatenlos dabei zu, wie aus verbalen Übergriffen blutiger Terror wird.
Ich sage es ganz deutlich: Jetzt muss Schluss sein.
Denn wenn jetzt nicht Schluss ist mit dem Schweigen, mit dem Akzeptieren und stummen Zuschauen, dann erlauben wir, dass sich das dunkelste Kapitel der Geschichte unseres Landes wiederholt. Dass Gewalt, Rassismus und Hetze zurückkehren und sich breit machen.

Sven Ambrosy: Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Gewöhnen an den Terror, an politische Morde. Wir dürfen nicht abstumpfen, wenn Menschen aus rassistischen Motiven zu Opfern werden.
Auch dürfen wir im Alltag nicht abstumpfen. Denn längst ist Rassismus und Fremdenfeindlichkeit alltäglich geworden. In Gesprächen, am Stammtisch, im Verein, in der Nachbarschaft, in den Medien. Die Alltagssprache hat sich gewandelt, ist durchzogen von Verrohung, Verletzung und Bedrohung.
„Das wird man doch noch sagen dürfen“ – diesen Satz höre ich viel zu oft. Nein – es gibt Dinge, die darf man eben NICHT sagen! Ich darf niemanden beleidigen, herabsetzen, bedrohen. Ich darf keine Nazi-Sprache verwenden.
„Achten wir auf unsere Sprache in der Politik, in den Medien, überall in der Gesellschaft“, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dazu am Donnerstag in Hanau gesagt.
Wir sind alle täglich gefordert, Rassismus und Antisemitismus in den konkreten Situationen des Alltags aktiv und vehement zu widersprechen. Das mag unbequem sein – aber es ist notwendig!
Menschen mit religiösen Zugehörigkeiten, ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, politisch Andersdenkenden oder sexuell jenseits des Mainstreams orientierten Personen wird immer wieder im Alltag die Menschenwürde abgesprochen. Das ist gefährlich, weil es radikalisierte und aufgehetzte Täter dazu bringt, überhaupt zur Tat zu schreiten. Hier ist eine fatale Enthemmung in Gang geraten, und die Hetzer in den Parlamenten tragen daran eine erhebliche Mitschuld.

Carsten Feist: Unsere Demokratie braucht uns jetzt. Sie braucht aktive Demokratinnen und Demokraten. Sie braucht Menschen, die sich engagieren, die laut und mutig sind, die aufstehen, wenn sogenannte Minderheiten an den Pranger gestellt werden.
Diese Demokratie, in der wir seit über 70 Jahren leben dürfen, ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das Pflege, Zuwendung und Aufmerksamkeit benötigt, wenn verbale Brandstifter unter dem Deckmantel der von ihnen verachteten Demokratie den Nährboden anlegen, aus dem nachfolgend Gewalt bis hin zu Terror und Mord entsteht.
AFD-Mann Alexander Gauland verharmloste den Nationalsozialismus durch seine Bezeichnung der NS-Diktatur als “Vogelschiss in der deutschen Geschichte”. Der Dresdner AFD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier relativierte die Tat des norwegischen Massenmörders Anders Breivik, indem er sagte, Breivik sei aus „Verzweiflung“ über Kulturfremde zum Massenmörder geworden. Weitere Zitate will ich uns ersparen.
Verbal zündeln und anschließend relativieren, zurückrudern und es schlussendlich doch so meinen, wie es ursprünglich gesagt wurde. Dieses Muster ist kein Zufall. Es ist eine Strategie, die im Bund, in den Ländern und auch in den Kommunen einen sprachkulturellen Wandel verursacht hat. Dieser Wandel gefährdet unsere Demokratie, er ist Gift für unser tägliches Miteinander und er führt dazu, dass politisch motivierte Morde sich häufen.
Wer täglich „barbarische Zustände“ in Deutschland beklagt, Zugewanderte als „Goldstücke“ diffamiert und mit Begriffen wie „Umvolkung“ und „kleiner Halbneger“ hetzt, muss sich auch in die moralische und politische Verantwortung nehmen lassen, wenn tatsächlich jemand zur Waffe greift und Menschen ermordet, nur weil sie in den Augen der Mörder fremd aussehen oder einer ihnen nicht genehmen Glauben leben.

Sven Ambrosy: In Friesland und Wilhelmshaven leben knapp 180.000 Menschen. Menschen, die in Sicherheit und Frieden leben wollen. Menschen, die sich Sorgen machen, die Angst haben, wenn der Terror alltäglich wird und aus den Metropolen wie München und Berlin nun auch Städte wie Halle mit 240.000 Einwohner oder Hanau (96.000 Einwohner) erreicht. Von dort ist es nicht mehr weit in den ländlichen Raum.
Wir stellen uns dem kraftvoll und gemeinsam entgegen. Es ist gut und wichtig, dass am heutigen Abend so viele Menschen unserem Aufruf gefolgt sind. Danke, dass Sie dabei sind – das ist ein kraftvolles Zeichen an all diejenigen, die als Minderheit mit Terror in Worten und Taten ein anderes Deutschland wollen!
Ja – wir als friedvolle und tolerante Demokraten sind die deutliche Mehrheit. Aber es wird spätestens nach Hanau nicht mehr ausreichen, diesen Umstand als beruhigend zu empfinden.
Wir werden lauter werden müssen, wenn Rassisten das Wort ergreifen. Wir werden deutlich werden müssen, um die Hetzer in die Schranken zu weisen. Wir werden die bestehenden Gesetze konsequent nutzen müssen, um den Feinden unserer Demokratie mit den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates die Konsequenzen ihrer Entgleisungen spüren zu lassen.
„Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.“ Diese Worte von Albert Einstein sollten uns eine Mahnung sein, aber uns auch Mut machen. Mut, nicht nachzulassen. Mut, immer wieder einzutreten, wenn Schwache, Fremde und Hilfebedürftige angegriffen und verletzt werden.

Carsten Feist: Gemeinsamkeit gibt Kraft und macht Hoffnung. Gemeinsamkeit kann Trost spenden. Unsere Solidarität und unser Mitgefühl mögen den Menschen in Hanau eine kleine Hilfe sein, um mit ihrer Trauer umzugehen. Diese Hoffnung sollten wir mit in den Abend nehmen. Bei aller Trauer müssen wir hoffnungsvoll bleiben, um kraftvoll zu bleiben.
Nehmen Sie am Ausgang gerne noch eine Schleife mit auf den Weg. Sie ist ein Symbol für unsere Trauer und unser Mitgefühl für die Opfer des Terrors und die Menschen in Hanau. Bringen sie diese Schleife auf ihrem Weg nach Hause an Laternenmasten oder Zäunen an. Als sichtbares Zeichen unserer Trauer, die wir damit in die Mitte unserer Gesellschaft tragen. Vielen Dank.


1 während der Ratssitzung am 19. Februar bezeichnete der AfD-Fraktionsvorsitzende Thorsten Morisse die Anwesenden als „dreckiges Volk“. Daraufhin stellten Oberbürgermeister Carsten Feist und Ratsvorsitzender Stefan Becker Strafantrag und Strafanzeige gegen Morisse.

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