Gnadenlos
Im Namen des Volkes: Nach 55 Jahren Wohnungswechsel zumutbar
(noa) Ein scharfer Wind weht Mietern ins Gesicht, seit der Wohnraum knapper geworden ist. Daß Hausbesitzer jeden Mieterwechsel nutzen, um die Miete zu erhöhen, ist mittlerweile schon Brauch, und dagegen gibt es auch kein Gesetz.
Gegen mißbräuchliche Eigenbedarfskündigungen allerdings gibt es Gesetze und Grundsatzurteile – sehr zum Missfallen von Hauseigentümern. Doch hier scheint sich eine Wende anzubahnen.Mit einer unglaublich zynischen Argumentation verurteilte jüngst das Landgericht Oldenburg eine 87jährige Wilhelmshavenerin, aus dem Häuschen, in dem sie 55 Jahre gewohnt hatte, auszuziehen: „Mit dem Tod ihres Ehemannes hat sich ihr Leben ohnehin stark verändert. Es erscheint nunmehr auch fraglich, ob die Beklagte noch so sehr wie zu Lebzeiten ihres Mannes an der alten Wohnung hängt und ob sie überhaupt in der Lage sein wird, dort allein weiterzuleben. So dürfte der jetzige Zeitpunkt nicht ungünstig für eine räumliche Veränderung sein …“
Die Vorgeschichte: 1935 zogen Marie und Walter Starzonek in das Werfthaus Böttcherstraße 5. Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre verkaufte die Stadt nach und nach fast alle Werfthäuser an Privatleute. Gedacht war das damals so, daß die bisherigen Mieter zu Eigentümern werden sollten, doch nicht alle Bewohner konnten es sich leisten, ihr Haus zu kaufen.
Die Böttcherstraße 5 ging seit 1981 durch mehrere Hände. Wer ein bewohntes Haus kauft, so sieht es das Bürgerliche Gesetzbuch vor, tritt damit automatisch in den Mietvertrag ein. Die vorigen Eigentümer der Böttcherstraße 5 sicherten denn auch den Starzoneks ein Wohnrecht bis an deren Lebensende vertraglich zu. Als aber im September 1988 der Dachdecker Holger de Vries das Haus erwarb, kündigte er den Starzoneks wegen Eigenbedarfs.
Das Amtsgericht Wilhelmshaven erklärte die Kündigung für nichtig, doch de Vries legte gegen das Urteil Berufung ein.
Mittlerweile war Walter Starzonek im Mai 1989 gestorben, und darauf bezog sich nun das Landgericht Oldenburg in seiner Urteilsbegründung.
Der Vorsitzende Richter Johannes Dede, der dieses skandalöse Urteil „im Namen des Volkes“ sprach, ist Präses der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die Berichterstattung über diesen Rechtsstreit und das Urteil hat zu Kirchenaustritten geführt, und Dede erhielt danach empörte Anrufe.
Die Proteste haben Frau Starzonek nichts genützt. Am 30. Dezember 1990 ist auch sie gestorben. Wie mag sich der Eigentümer des Hauses Böttcherstraße 5 wohl jetzt fühlen?
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