Konsumverhalten
Feb 082011
 

Wir haben es satt!

Tausende demonstrierten für nachhaltige Landwirtschaft – auch Erwerbslose schlagen Krach – jetzt ist kritisches Konsumverhalten gefragt 

(iz) Unter dem Motto „Wir haben es satt – Nein zu Gentechnik, Tierfabriken und Dumpingexporten“ demonstrierten am 22.1. in Berlin rund 22.000 Teilnehmer aus ganz Deutschland für eine grundlegende Reform der Agrarpolitik, die Abkehr von der industrialisierten Landwirtschaft und besseren Verbraucherschutz. Unsere Demo-Korrespondentin war vor Ort – und auf dem Wochenmarkt.

Bei der bislang größten Demonstration dieser Art zogen Bauern, Umweltschützer, Imker und Verbraucher /-innen gemeinsam vom Berliner Hauptbahnhof zur Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor. Getragen wurde die Veranstaltung von einem breiten Bündnis aus Bauern- und Umweltverbänden, Bürgerinitiativen gegen Massentierhaltung und Gentechnik sowie von Eine-Welt-Gruppen.

Krach schlagen statt Kohldampf schieben
Auch Erwerbslose lassen sich nicht mehr mit ungesunden Sparzwängen abspeisen oder vom unsäglichen Theo Sarrazin verhöhnen, der 2008 einen Hartz IV-Speiseplan mit Bratwurst, Leberkäse, Fertig-Kartoffelsalat und ähnlich gesunden Sachen vom “Plus-Markt” für 4 Euro am Tag vorlegte . Resigniert auf gesunde Lebensmittel zu fairen Preisen zu verzichten und die Billigdiscounter zu unterstützen, ist der falsche Weg. Schon am 10.10.2010 wurde bei der bundesweiten Demo in Oldenburg “Krach schlagen statt Kohldampf schieben” die Erhöhung des Regelsatzes um 80 Euro gefordert. Das Bündnis bundesweiter Erwerbslosennetzwerke gehörte zu den UnterstützerInnen der Demo in Berlin.
Absurd billige Preise drücken auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Einzelhandel und in der Lebensmittelverarbeitung und treffen letztlich auch die Bauern; Tier- und Eierfabriken bleiben, kleine Familienbetriebe sterben. Kritische Erwerbsloseninitiativen fordern höhere Hartz IV-Regelsätze, um vernünftiges Essen kaufen zu können und damit auch den Motor für gesunde, regionale, vielseitige und stabile “Nahrungsketten” vom Stall bis zum Markt wieder anzuwerfen.

Bei der Abschlusskundgebung erklärte Campact-Geschäftsführer Felix Kolb: „Der heutige Protest zeigt: Die Bevölkerung will ein Ende der industriehörigen Landwirtschafts- und Lebensmittelpolitik. Strengere Lebensmittelkontrollen alleine reichen nicht aus. Wir brauchen eine grundlegende Wende in der Agrarpolitik. Bundesagrarministerin Ilse Aigner muss eine echte EU Agrarreform und den Ausstieg aus der Massentierhaltung voranbringen, anstatt beides zu bremsen.“
Besonderen Beifall erhielt die Rede des alternativen Nobelpreisträgers Nnimmo Bassey aus Nigeria, Vorsitzender der internationalen Umweltorganisation Friends of the Earth (Freunde der Erde). Die Auswirkungen der europäischen Agrarpolitik seien für die Entwicklungsländer verheerend, sagte er, der weltweite Protest der Zivilbevölkerung gegen Gentechnik, Agrarfabriken und Dumping-Exporte für die Ernährungssicherheit der Welt dringend notwendig.

Geplant war die Demo bereits seit Monaten anlässlich des 3. Berliner Agrarministergipfels, der am 22. Januar im  Rahmen der “Grünen Woche“ stattfand. Der Skandal um Dioxin in Futtermitteln bzw. Eiern, Hühner- und Schweinefleisch war also nicht Anlass, aber ein zusätzlicher Motivationsschub, nach Berlin zu kommen und der herrschenden Agrarpolitik eine Abfuhr zu erteilen. 50 Bauern waren mit dem Trecker angereist und blockierten zeitweise die Zufahrt zur “Grünen Woche”, der weltweit größten Messe für (in erster Linie industrielle) Landwirtschaft und Ernährung.
Ein Blick auf das Abschlusskommunique des Gipfels lässt jedoch daran zweifeln, dass die MinisterInnen irgendwas kapiert haben. Zwar ist unentwegt die Rede von Nachhaltigkeit, fairem Handel, regionalen Märkten oder globaler Verantwortung, doch im Kontext gelesen kann alles so weitergehen wie bisher, und klare Beschlüsse wie z.B. Abschaffung von Subventionen für industrielle Landwirtschaft sucht man vergebens.

Täglich lokal handeln
Wenn sich oben nix ändert, muss die Basis wohl die Daumenschrauben anziehen. In einem kapitalistischen System ist nichts ist stärker als die Macht der VerbraucherInnen. Aktuell erlebt der Handel mit Biolebensmitteln einen Boom sondergleichen. Nachdem die Deutschen (die weltweit am wenigsten ihres Einkommens für Ernährung ausgeben) jahrzehntelang trotz BSE, Schweinepest & Co alles in sich reingefressen haben, bleibt zu hoffen, dass dies erst der Anfang war. Erfahrungsgemäß hat das Verbrauchergedächtnis allerdings eine geringe Halbwertszeit. Zu schnell verblassen die Fernsehbilder von geschundenen Puten, ekliger Futtermatsche und zurückgetretenen Ministerinnen. Strukturell kann sich erst dann etwas ändern, wenn nicht nur während drei Wochen nach dem letzten Lebensmittelskandal, sondern dauerhaft anders eingekauft wird – und auch kritisch nachgefragt! Ein Kilo Schweinefleisch für 2 Euro im Laden – wie soll das gehen, wenn das Schwein, die Bäuerin, der Schlachter, die Verkäuferin vernünftig davon leben sollen? Ein Kilo Bioschwein kostet deutlich mehr – aber muss es überhaupt täglich Fleisch sein, gar ein halbes Pfund Schnitzel, das allenfalls  nach überwürzter Panade schmeckt? Oder lieber seltener und weniger und dafür richtig lecker und mit gutem Gewissen gegenüber Tier, Mensch und Umwelt? Oftmals beruht “Bio ist teuer” auf reinen Vorurteilen von Leuten, die nie einen Bioladen betreten haben. Auch dort gibt es immer was im Angebot. Und auch ein guter konventionell erzeugter Käse ist teurer als der eingeschweißte Massengouda.

Saisonal, regional, biologisch, fair gehandelt – so lautet die Zauberformel. Wer sie verinnerlicht hat, wird die Supermärkte und Discounter mit fast leerem Einkaufskorb verlassen. Doch auch auf dem Wochenmarkt heißt es aufpassen: “Unsere Eier kommen direkt vom Hof” klingt toll, heißt aber erst mal gar nix. “Hof” kann irgendein landwirtschaftlicher Betrieb sein, und “direkt aus der Fabrik” würde keiner draufschreiben, selbst wenn die Hühner in “Kleingruppenhaltung” leben (das sind kleine Volieren mit etwas mehr Platz pro Huhn als in den bald ausgedienten Käfigen), und auch in Bodenhaltung kann mächtiges Gedränge ohne Tageslicht herrschen. Ebenso sind von Produzentenverbänden selbst vergebene Gütesiegel mit Vorsicht zu genießen. Aber zumindest kann man auf dem Markt direkt nachfragen und im Zweifelsfall auch den “Hof” besichtigen.


ALI: Wir haben es satt!

Mehr als zwanzigtausend Bäuerinnen und Bauern, Umweltaktivisten, Milchviehhalter, Menschen, die sich für bessere Lebensmittel und Lebensbedingungen einsetzten, waren zu der Protestdemonstration gegen Massentierhaltung und Zerstörung der Natur nach Berlin gefahren.
Aber auch die Arbeitsloseninitiativen aus dem Weser-Ems-Gebiet, also auch aus Friesland und Wilhelmshaven, waren dabei. Auch sie haben es satt, dass Millionen Menschen gezwungen sind, sich und ihre Kinder mangelhaft zu ernähren. Auch sie haben es satt, dass sie abgespeist werden mit Hartz-IV Sätzen, bei denen der Anteil für Nahrungsmittel weiter gesenkt wurde. Auch sie haben es satt, jedem Pansch- und Giftskandal zum Opfer zu fallen, weil sie in die Billigregale greifen müssen.
„80 Euro mehr für Lebensmittel“ war ihre Forderung, die sie mit den Verbündeten auf einem großen Transparent durch Berlin trugen.
„Dieses große Bündnis aus mehr als hundert bedeutenden Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft macht Mut, dass die Armen nicht weiter ins Abseits gedrückt werden“, meint Werner Ahrens von der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland.


Weitere Informationen: http://www.wir-haben-es-satt.de
Abschlusskommuniqué des Agrarministergipfels 2011: http://www.gffa-berlin.de/images/stories/GFFA2011/PDF/schlussfolgerung_de_final_logo.pdf

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