Neujahrsgeplauder
Feb 082011
 

Neujahrsgeplauder

(iz) Jeden Silvester habe ich nur EINEN guten Vorsatz: Diesmal gehe ich NICHT zum Neujahrsempfang im Rathaus. Die Reden kannste auch nachher lesen. Und dann falle ich doch wieder drauf rein und gehe hin. Vielleicht geschieht ja ein Wunder und jemand sagt doch irgendwas Neues, Zukunftsweisendes, Erhellendes abseits ausgetretener Pfade.

Auf der Rednerliste steht immer der OB sowie ein hochrangiger Vertreter von Marine, (Hafen-) Wirtschaft oder Großindustrie. Dieses Jahr ist es Herr Scholz von der GDF Suez, die gerade ein Kohlekraftwerk im Rüstersieler Groden baut. Deswegen kommen auch die Ratsvertreter der GRÜNEN nicht zum Neujahrsempfang: Wegen der Kohlekraftwerke ist der grüne Bürgermeister Werner Biehl ja zurückgetreten.
“So einen doch nicht!”, haben Radio Abonga, LAW und das Epizentrum ihr Flugblatt überschrieben, das zum Neujahrsempfang vor dem Rathaus verteilt wird. Nach Inbetriebnahme wird das GDF-Kraftwerk tonnenweise CO2 und andere Schadgase, giftige Schwermetalle und Stäube in Luft und Wasser verteilen; das Kühlwasser wird den Jadebusen erwärmen, zu Lasten der heimischen Tier- und Pflanzenwelt; hinzu kommen Tonnen toter und verletzter Fische durch Entnahme und Wiederabgabe von Kühlwasser.
Nun ist das nicht Herrn Scholz persönlich anzulasten: Er ist ein nicht ganz kleines, aber austauschbares  Rädchen im Getriebe der Industriegesellschaft, in der Gewinnmaximierung der Konzerne mehr zählt als die Lebensqualität durch gesunde Umwelt für alle Menschen. So lange Politik und Behörden solche Dreckschleudern zulassen, werden sie gebaut; und so lange die Scholzens dieser Welt eingeladen werden, auf öffentlichen Veranstaltungen kostenlos Firmenmarketing und Imagepolitur zu betreiben, werden sie gern kommen.
Aber die Frage an die Organisatoren, warum fast immer nur Vertreter der oberen Zehntausend auf dem Neujahrsempfang reden dürfen, ist berechtigt. “Haben wir zu Neujahr keine andere Person aus Handwerk, Politik, Wirtschaft und Kultur, die am Wohlergehen der Stadt Wilhelmshaven interessiert ist und eine Neujahrsrede halten könnte? Auch ein Hartz 4 Empfänger hätte uns wahrscheinlich Wichtigeres zu sagen, als Herr Scholz heute”, so die Verfasser des Flugblattes.
Kämen die Schwächeren unserer Stadt zu Wort, oder die, die sich um sie kümmern, wäre das Interesse der “normalen” BürgerInnen am Neujahrsempfang wohl größer. Aber so bleiben Schlips und Kragen unter sich.

Menzelsche Logik
Auf die Absage der GRÜNEN reagierte OB Menzel persönlich: Biehl sei ja ein großer Finnland-Fan. Dort setze man aber intensiv auf Kohle- und Atomenergie, und das sei doch ein Widerspruch zu Biehls Haltung. Häh? Was Biehl toll findet, ist das finnische Bildungssystem, aber deshalb doch nicht gleich den ganzen Rest. Ich finde z. B. die Nationalparks in den USA toll, verabscheue aber trotzdem die Todesstrafe.

Konvent-ionell
Neu ist am diesjährigen Empfang nur, dass er jetzt “Neujahrskonvent” heißt. OB Menzel beginnt seine Rede mit einem GDF-Werbeblock: Eine “neutrale Institution” habe festgestellt, dass die EU-Klimaschutzziele nur mit fossilen Kraftwerken zu erreichen seien, also wenn man alte gegen neue mit einem Wirkungsgrad von über 45% Wirkungsgrad austauscht. Das GDF-Kohlekraftwerk in Wilhelmshaven soll 46% erreichen (54% der Kohle verbrennen also zweckfrei) und kann, wie Menzel betont, mit einer Anlage zur Abscheidung von CO2 nachgerüstet werden. Das verflüssigte Schadgas soll dann ja unterirdisch verstaut werden. Wie toll das klappt, war gerade aus einem kanadisch-amerikanischen Pilotprojekt zu hören: Durch tote Tiere an plötzlich blubbernden Gewässern kam man drauf, dass das Zeugs leider ungefragt wieder an die Oberfläche kommt.
Pleiten, Pech und Pannen kann Menzel natürlich nicht verschweigen, aber wichtig ist dabei immer, dass ER / die Stadt nicht schuld daran ist. Mit Stilllegung der Raffinerie im Voslapper Groden stehen Hunderte Arbeitsplätze auf dem Spiel. Menzel erhebt den Zeigefinger gen Houston (grobe Richtung: westwärts) und fordert “von den Verantwortlichen bei Conoco Philipps”, sich darum zu kümmern, dass es weitergeht.
Hach, es ist immer dasselbe: Wenn sich ein Industriebetrieb hier ansiedeln will, kommen deren “OB-Hunter” wohlerzogen ins Rathaus, beteuern ewige persönliche Freundschaft ganz speziell zu Wilhelmshaven, kriegen dann ruckzuck alle gewünschten Flächen und erforderlichen Genehmigungen und los geht’s. So lange es gut läuft, fühlen sich unsere kommunalen Spitzen voll verantwortlich für den Erfolg. Doch wehe, eine globale oder sektorale Wirtschaftskrise zieht herauf – dann setzt allgemeine Amnesie ein: Wilhelmshaven? What? Where? Never ever heard of it! Und im Rathaus will auch keiner schuld gewesen sein. Obwohl man inzwischen wissen sollte: Großindustrie ist immer Poker. Man opfert einerseits Qualitäten der Stadt (gesunde Natur, attraktiv für Tourismus), kriegt dafür mehrere hundert Arbeitsplätze auf einmal – aber wenn der Laden dicht macht, sind die auch auf einen Rutsch flöten. Monostruktur eben. Global betrachtet ist das scheißegal (aus Sicht des Konzerns), lokal hingegen höchst fatal. Das ist wie in der Landwirtschaft: Wer ausschließlich auf industrielle Hühnermast setzt, hat jetzt durch den Dioxinskandal die Arschkarte. Wer hingegen einen vielfältig strukturierten Betrieb hat, kriegt eine weiche Landung hin.

Ebi & Angie
Nächstes Thema, wie seit gefühlten 100 Jahren, der JadeWeserPort, laut Menzel die derzeit “bedeutendste Investition” und “große Chance” ganz Deutschlands. Soso. Wirklich? Aktuell laufen Antragsverfahren zur Vertiefung von Weser und Elbe auf 14,5 m Tiefe. Statt unter allen deutschen Seehäfen endlich ein abgestimmtes, ökonomisch und ökologisch sinnvolles Konzept zu entwickeln, macht man sich, mit staatlicher und EU-Unterstützung, weiter Konkurrenz. Das wäre ja mal ein Thema für die internationale maritime Konferenz, die Ende Mai in Wilhelmshaven abgehalten wird. Dafür will Menzel die Innenstadt ordentlich aufbrezeln. Vor dem geistigen Auge sieht man schon Menzel & Merkel einträchtig im Bus auf Sightseeing-Tour entlang Potemkinscher Dörfer in der City. Oh menno! Die Teilnehmer der Konferenz sollen sich bitte mit Fachfragen beschäftigen, für Tralala ist echt keine Zeit.
Viel Aufmerksamkeit für das W’havener Containerterminal verspricht sich Menzel von der Teilnahme an der “Asian Roadshow”. Naja, ist zumindest etwas Abwechslung für die Mitreisenden aus WHV.
Zum Standardrepertoire des OB gehört auch das Abkanzeln kritischer Bürger/innen. “Dagegensein aus Prinzip ist populär”, schimpfte er, zitiert natürlich auch das Wort des Jahres “Wutbürger” und beklagt deren “mangelnden Respekt vor der Mehrheit”. Ich halte dem – natürlich aus Prinzip – entgegen: Hätten Einzelne oder (vermeintliche) Minderheiten in der Geschichte immer aus Respekt vor der (vermeintlichen / schweigenden) Mehrheit die Klappe gehalten, dann gäbe es z. B. bis heute keine Gleichberechtigung für Frauen, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen usw.
Zum Abschluss gab es noch einen klassischen Menzel aus der Kategorie “peinliche Selbstdarstellung”. Es gäbe ja Gerüchte, so der OB, über seinen Wegzug aus Wilhelmshaven nach Ende seiner Amtszeit im Herbst. “Lasst fahren alle Hoffnung dahin”, er, Menzel, werde in WHV bleiben. Spätestens jetzt war gar, dass dieser Konvent allenfalls Stammtischniveau hat. Wen bitte, außer seinen Freunden, interessiert ernsthaft, wo die Eheleute Menzel mal wohnen werden? Als Rentner hat Menzel dann jedenfalls richtig Zeit zum Lesen, z. B. eine kritische Biografie über Henry Ford, den er danach vermutlich nicht mehr dauernd zitieren würde.

Warum bin ich nicht spätestens an diesem Punkt gegangen?

Auftritt GDF-Scholz. Schon 2005 habe der Konzern in seiner Standort-Auswahlliste “Wilhelmshaven dick unterstrichen”, und das habe “mit dem Hausherrn zu tun”. Sag ich doch: Der zeigt sich von seiner besten Seite, sobald ein Großinvestor anrückt, s. o. Warten wir mal ab, wenn der Energiemarkt zusammenbricht, die Kohle plötzlich teuer wird oder sonstwas den Konzern zu grundlegenden Entscheidungen zwingt, wie eng dann noch die Freundschaft ist. Wenigstens kann man dann im sogenannten Partnerschaftsvertrag zwischen Stadt und GDF von 2007 nachlesen, wie schön es mal war.
Scholz sprach vom “Energiehunger”, der global zukünftig noch wachsen wird. Da hat er leider Recht: Vom Energiesparen redet kaum noch jemand, wäre ja auch blöd für die Konzerne, die kräftig dran verdienen.
Man müsse den Menschen die Wahrheit über die Kosten sagen, so Scholz weiter. Für Strom aus Kohlekraftwerken würden die Verbraucher nur den Marktpreis zahlen, während erneuerbare Energien kräftig subventioniert würden, z. B. Solarenergie mit 60 Mio. Euro. Marktpreis, soso. Wie setzt sich der denn zusammen? Die Energiekonzerne zahlen im Leben nicht den echten Preis, den die Kohle kosten müsste. Angefangen von Dumpinglöhnen und gruseligen Arbeitsbedingungen in den Bergwerken weltweit, über indirekte Subventionen im Zoll- und Transportbereich, exorbitante Forschungsgelder für die „CCS-Technologie“ bis zur kostenlosen Nutzung von Wasser, Boden und Luft zur Entsorgung der “Nebenprodukte” wie Schadgase, Schwermetalle oder Abwärme.
Das Kohlekraftwerk in Scholzens Zahlen: Über eine Milliarde Euro Investitionen, 1400 Bauarbeiter, 300 Arbeitsplätze (vorwiegend Leute aus der Region), eine Fläche von 17 Fußballfeldern, 90.000 m2 Beton. (Zahlen wie CO2, Quecksilber etc. in Tonnen blieben ungenannt, wie auch über 100 Hektar Wald, die früher dort wuchsen und CO2 verdauten, wo jetzt das Kraftwerk wächst und CO2 produzieren wird).
Zumindest geht Scholz höflicher (=professioneller) mit Kritikern um: Bei ihm heißt es “kritische Stimmen”, denen man “im offenen Dialog” begegne.
Einziger Sprecher der “Basis”, der auch wirklich was Inhaltliches zu sagen hatte, war WRG-Betriebsratsvorsitzender Geertsema. Er fasste kurz und knapp den Sachstand zum bedrohten Raffineriestandort zusammen. Statt nur auf die Konzernspitze zu schielen, haben die Beschäftigten ein eigenes Konzept zum Fortbestand entwickelt (das einige Tage später von der Conoco-Zentrale abgelehnt wurde – red.) Sein Beitrag war okay. Aber der Rest? Ich schwöre: Nächstes Jahr gehe ich da nicht wieder hin!! Obwohl: Da gibt’s ja einen neuen OB – vielleicht hat der wirklich was zu sagen? …:

Grünes Kontrastprogramm
Wo ich nächstes Jahr auf jeden Fall wieder hingehe, ist der Neujahrsempfang im Botanischen Garten. Nicht, weil dort auch unser grüner Bürgermeisterkandidat Michael van den Berg auftauchte. Sondern weil das ein richtig schöner Empfang ist. Kein stickiger Saal, sondern frische Luft. Keine Schlipse, sondern robuste Outdoorklamotten prägen das Bild. Keine Selbstdarstellung der Ewigselben, sondern ein sachlicher, aber lockerer Rückblick aufs vergangene Jahr und ein ebensolcher Ausblick aufs kommende. Zur Sprache und zu Wort kommen die, die an der Basis viel Kleines bewegen, mit großer Wirkung. So folgten letztes Jahr die Hälfte aller hiesigen Schüler/innen der Einladung zu einem Besuch im Botanischen Garten! Es gab 2010 und gibt wieder 2011 viele Aktionen, Vorträge, Feste … Hernach entwickelten sich bei Heißgetränken und selbstgemachten Kräuterschnäpsen anregende Gespräche. Wir können stolz sein auf den Botanischen Garten, der kleinste Deutschlands und trotzdem großartig, der ohne dicke Subventionen durch das Engagement Vieler lebt.

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