Reformlüge
Nov 042004
 

Nicht sparen, sondern die Konjunktur anschieben

Albrecht Müller las im Pumpwerk aus seinem Buch „Die Reformlüge“

(noa) „Ich gehe in diesen Tagen gerne zu Gewerkschaften. Sie tun das, was die Aufgabe der Medien und der Intelligenz wäre – was diese Eliten aber nicht tun.“ So begrüßte der Autor Albrecht Müller die ca. 250 Menschen, die am 18. Oktober ins Pumpwerk gekommen waren, um sich über „Die Reformlüge – 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“ zu informieren.

Nichts spricht dafür, „nach fünfzig erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen“, wie Josef Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt a.M. 2003 anmahnte – die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Seit gut 20 Jahren wird in Deutschland auf neoliberale Weise reformiert; mit der Agenda 2010 hat die Bundesregierung das Reformtempo verschärft, doch der Erfolg bleibt aus. So konnte Müller die „Berliner Zeitung“ vom 16. Oktober zitieren, die feststellte, dass die Hartz-Reform wirkungslos ist – trotz des riesigen Aufwandes bei den Arbeitsagenturen wird nur jeder 20. Arbeitslose vermittelt.
Weitere Zahlen, die gegen den Strukturwandel sprechen, warf er an die Wand:

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Die Arbeitslosenquote stieg also unter der Anwendung der Angebotsökonomie kräftig an, während gleichzeitig das Bruttoinlandsprodukt von einem Jahrzehnt zum anderen weniger wuchs. „Wie die angebotsökonomischen Instrumente angewandt wurden, zeigt sich auch beim Vergleich der Entwicklung der Unternehmens- und Vermögenseinkommen einerseits mit der Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen andererseits. (…) Es gab (…) in den neunziger Jahren keinen Zuwachs bei den Löhnen, sondern ein Minus.“ Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen in den 80er Jahren gegenüber den 70ern, in den 90ern „half die neoliberale Politik aber auch den Unternehmens- und Vermögenseinkommen nicht mehr auf die Beine (…) Auch diese Einkommen wurden Opfer der mangelhaften Mengenkonjunktur.“ (Tabelle und Zitate aus „Die Reformlüge“, S. 56ff.)
1988/89 gab es noch einmal ein Wirtschaftswachstum und danach den Einigungsboom, doch dann wurde die Konjunktur abgewürgt – zu Lasten der Arbeitnehmer und der Unternehmer, die auf Binnennachfrage angewiesen sind.
– Wenige Tage nach der Veranstaltung klagte Schröder mal wieder im Fernsehen, dass die Binnennachfrage leider immer noch nicht steigt, dass wir alle uns zu sehr zurückhalten mit dem Geldausgeben – ja, was erwartet er denn, wenn die Löhne sinken und die Arbeitslosen auf die Armutsgrenze gedrückt werden! –
Es war natürlich in einer zweistündigen Veranstaltung nicht möglich, alle 40 Denkfehler aufzuzählen und zu erläutern, ebenso wenig wie es möglich ist, sie alle in einem Gegenwind-Artikel zu erklären. Müller nannte exemplarisch den Mythos „Die Zeiten, als man aus dem Vollen schöpfen konnte, sind vorbei.“ Tatsächlich sind die Einkommen der Arbeitnehmer in den letzten Jahren gesunken. Doch Deutschlands Manager schöpfen immer noch aus dem Vollen: „2002 verdiente ein Vorstandsmitglied der im DAX notierten Firmen im Schnitt 1,25 Millionen Euro jährlich. Das waren pro Kopf 90000 Euro mehr als im Vorjahr. DaimlerChrysler zahlte im Schnitt 3,7 Euro Millionen und damit trotz einer Reihe von drastischen Managementfehlern 130 Prozent (!) mehr als im Jahr zuvor. Bei Siemens stieg die Vergütung der Vorstände im Geschäftsjahr 2002/2003 pro Kopf um 29 Prozent auf 2,2 Millionen Euro. Die Bezüge von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann stiegen von 6,9 Millionen 2002 auf rund 11 Millionen 2003. Die acht Vorstände der Deutschen Bank verdienen mehr als die 603 Bundestagsabgeordneten zusammen.“ (S. 158)
Ein weiterer Mythos: „Jetzt hilft nur noch private Vorsorge!“ – Die gesetzlichen Rentenversicherer haben Verwaltungskosten in Höhe von 4% der eingezahlten Beiträge – private Lebensversicherer verbrauchen einen sehr viel höheren Teil der eingezahlten Summen für die Gehälter ihrer Beschäftigten. Bei der Riesterrente sind es z.B. 10%, in Chile (dem Vorbild der privaten Versicherer) 18%; in Großbritannien gar bis zu 40%. Wenn die private Versicherungswirtschaft 10% der öffentlichen Altersvorsorge an sich reißen kann, beschert ihr das ein Umsatzplus von 25% – kein Wunder, dass sie begeistert über das schwindende Vertrauen der Menschen in die gesetzliche Rente und den Run auf private Rentenversicherungen ist.
„Wir werden immer weniger“, lautet ein weiterer Mythos, den Müller im Pumpwerk näher beleuchtete. Ein Blick in einen Schulatlas zeigt, dass es nur wenige Länder gibt, die dichter besiedelt sind als Deutschland. Müller zeigte folgende Tabelle, die sich in seinem Buch auf S. 107 findet:[SCM]actwin,0,0,0,0;gw 203.pdf - Adobe Acrobat Acrobat 30.12.2014 , 19:31:18

Aufschlussreich ist auch die Tabelle von Seite 106, an der man die Entwicklung der Gesamtbevölkerung Deutschlands nachvollziehen kann: Nach der mittleren Prognose des Statistischen Bundesamtes werden in Deutschland im Jahr 2050 75 Mio. Menschen gegenüber 82,5 Mio. heute leben. 1950 waren es 68,7 Mio. in beiden deutschen Staaten zusammen. In den alten Bundesländern lebten 1950 50,8 Mio. Menschen, und auf demselben Gebiet waren es 1939 43 Mio. Damals waren wir – wir wissen es aus dem Geschichtsunterricht – ein „Volk ohne Raum“; heute schrei(b)t der „Spiegel“, Deutschland sei bald ein „Raum ohne Volk“ und beschwört „den letzten Deutschen“! „Unter Umständen täte es unserem Zusammenleben, der Lebens- und Wohnqualität und der seelischen Befindlichkeit sogar gut, wenn Deutschland etwas weniger dicht besiedelt wäre“, schreibt Müller, „aber das darf man in Deutschland auf keinen Fall öffentlich sagen, denn die Grundstimmung der Meinungsführer ist auf ‚mehr’ getrimmt.“ (S. 107)
Die hier zu Grunde gelegte Prognose des Statistischen Bundesamtes geht von einer Geburtenrate von 1,4% aus. Sollten wir noch weniger Kinder kriegen, würde die Bevölkerungszahl Deutschlands bis 2050 auf 67 Mio. sinken. Diese Zahl nennt Frank Schirrmacher in seinem Buch „Das Methusalem-Komplott“ und behauptet, dieser Trend sei unumkehrbar, wobei dieses Szenario lediglich eines (das ungünstigste) von neun möglichen ist. (Die günstigste – ebenfalls höchst unwahrscheinliche -Variante, die das Statistische Bundesamt annimmt, sieht die Bevölkerungszahl 2050 übrigens auf dem Stand von heute.)
Wie die Bevölkerung sich tatsächlich entwickeln wird, hängt von Faktoren ab, die sich täglich ändern können. Das zeigt sich u.a. am Vergleich der Geburtenrate der alten und der neuen Bundesländer, die leider seit 2001 nicht mehr getrennt erfasst wird, bis dahin jedoch nach 1990, als die Ostdeutschen noch mehr Kinder bekamen als die Westdeutschen, in den neuen Bundesländern niedriger ist als in den alten – ein Spiegel der wirtschaftlichen Ungewissheit. Müller: „In einer Situation ohne Arbeitsplatz ist es ja fast unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen.“
Einige Besucher der Veranstaltung hatten Müllers Buch schon gelesen. So bezog sich ein Diskussionsteilnehmer auf Müllers Forderung nach öffentlichen Investitionen, um die Konjunktur anzuschieben: „Dann würde die Staatsverschuldung steigen, und sie soll doch auf 3% begrenzt werden!“ Sparen und Sparen ist zweierlei, antwortete Müller diesem Herrn. Wenn ein Privatmensch spart und Geld ansammelt, dann ist es da. Sparen Bund, Länder und Gemeinden an öffentlichen Investitionen, dann entfallen Steuereinnahmen. Allein die regelmäßigen Korrekturen von Eichels Steuerschätzungen seit 2001 summieren sich bisher auf 154 Mrd. Euro – so viel Geld hat das Sparen des Staates gekostet.
Dass die Bundestagsabgeordneten allesamt Sozialschmarotzer seien, wie ein Teilnehmer aus dem Publikum vertrat, mochte Müller so nicht bejahen – lieber würde er über die Nebentätigkeiten als über die Diäten der Parlamentarier reden.
Wie er angesichts der Politik der SPD in dieser Partei bleiben könne, wollte ein Teilnehmer wissen – Müller, der das „Modell Deutschland“ erfunden hat und 1972 den Slogan „Mehr Lebensqualität“ prägte, sagt dazu, dass er mehr Berechtigung als viele andere hat, in der Sozialdemokratischen Partei zu sein – „Ich stehe noch zu ihrem Programm“! Herbert Ehrenberg, wohl der prominenteste Besucher der Veranstaltung, erntete viel Zustimmung mit seinem Beitrag: „Ich galt immer als rechter Sozialdemokrat, aber die, die heute die Politik machen, haben mich alle meilenweit rechts überholt.“
Dass Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung große Faktoren bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation sind, warf ein weiterer Teilnehmer ein. Darüber hat Müller noch nicht eingehend geforscht und er nahm es als Anregung, doch dass die neoliberale Wirtschaftspolitik sehr zu Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung anregt, konnte er auch so schon sagen.

Was ist zu tun?

Die Strategie der Gewerkschaften, so Müller, sollte darin bestehen, immer und immer wieder die Wirkungslosigkeit der „Reformen“ zu thematisieren und die Forderung nach Konjunkturförderung zu erheben. Da wirklich keine Zeit mehr für weitere Erläuterungen war, verwies er auf „Denkfehler 31“, den wir hier kurz zusammenfassen: Während in Deutschland Hans Eichel sich einen Namen als Sparkommissar machte, entschied sich Frankreich zu einem anderen Konzept: Stärkung der inländischen Massenkaufkraft durch Entlastung der Bezieher von Löhnen bei stärkerer Belastung der Bezieher von Kapitaleinkommen und ein großes Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit – mit dem Erfolg einer Senkung des Staatsdefizits. Zwar hat Frankreich sein Konzept nach 2001 wieder geändert, doch in den Jahren 1998 bis 2001 hatte Frankreich gegenüber Deutschland in Sachen Wirtschaftswachstum, in Sachen Reduzierung der Schuldenstandsquote und in Sachen Senkung der Arbeitslosenquote die Nase vorn. Daraus könnte man etwas lernen, wenn man lernfähig wäre.

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