Lohn unter Sozialhilfeniveau?
Die Forderung nach Mindestlohn ist nicht überflüssig, sondern überfällig
(noa) Nachdem monatelang auf den Versammlungen der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland immer wieder Hartz IV Thema gewesen war, gab es am 12. Oktober etwas Neues: Dr. Gabriele Peter, Juristin bei der NGG Hamburg, sprach zum Thema „Mindestlohn“.
Die Gewerkschaft NGG fordert seit 1999 die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland, stand damit innerhalb der Gewerkschaftslandschaft aber immer recht einsam da. Im Gegensatz zu den Beteuerungen aus Politik und Wirtschaft, Niedriglöhne würden Arbeitsplätze schaffen, da Unternehmer wegen der hohen Löhne sich scheuten, Arbeitskräfte einzustellen, weiß man im Hotel- und Gaststättengewerbe aus bitterer Erfahrung: Niedriglöhne bringen keine Beschäftigung! Die Forderung nach dem Mindestlohn ist also nicht überflüssig, sondern überfällig.
In den meisten EU-Ländern gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn; neun der fünfzehn EU-Staaten vor dem Beitritt von zehn neuen Staaten zum 1. Mai kennen ihn; die zehn neuen haben ihn ohne Ausnahme. Die folgende Tabelle zeigt die Höhe der Mindestlöhne in den neun „älteren“ EU-Staaten:
Die Länder mit den höchsten Mindestlöhnen sind unmittelbare Nachbarn Deutschlands – so abwegig ist der Wunsch, auch hier möge es einen Mindestlohn geben, wohl nicht. Erst recht nicht, wenn wir deutsche Tariflöhne dagegenhalten: So ist das unterste Tarifentgelt im Friseurhandwerk Nordrhein-Westfalens 770 Euro, knapp mehr als der halbe luxemburgische Mindestlohn!
In den neuen EU-Ländern sind die Mindestlöhne deutlich niedriger, das reicht von 543 Euro in Malta bis 61 Euro in Bulgarien. Damit kommt man allerdings weiter als ein Düsseldorfer Friseur: Die Kaufkraft des bulgarischen Mindestlohns entspricht immerhin der Kaufkraft von 810 Euro in Deutschland.
In der Armutsforschung gibt es die Unterscheidung zwischen „prekären Entgelten“ und „Armutslöhnen“, wobei als prekär ein Lohn in Höhe von 50 bis 75 Prozent des Durchschnittslohns, als Armutslohn ein Entgelt unter 50 Prozent gilt. In den alten Bundesländern haben 23,8% der Vollzeitbeschäftigten (das sind absolut 4,17 Millionen) ein prekäres Entgelt; 12,1% (2,21 Millionen) einen Armutslohn. Zum Vergleich die entsprechenden Zahlen aus den neuen Bundesländern: prekäres Entgelt 1,12 Mio. (= 26%), Armutslohn 0,41 Mio. (= 9,5%). Es sieht nicht so aus, als bräuchten wir dringend eine Ausweitung des Niedriglohnsektors!
Nach Geschlechtern betrachtet – na, dreimal raten! – bei den Frauen. Nach Betriebsgrößen betrachtet: in Kleinbetrieben. Und nach Branchen aufgeschlüsselt sind es die Dienstleistungsberufe, die am schlechtesten bezahlt werden. Nun wird oft behauptet, die ganz niedrigen Löhne lägen an der mangelnden Qualifikation der Leute, aber auch das stimmt nicht: 61,6% der EmpfängerInnen von Armutslöhnen und 64,3% derer, die ein prekäres Entgelt erzielen, haben eine Ausbildung.
Wenn man sich mal überlegt, wozu man arbeitet, dann sollte man davon ausgehen, dass man von einer Vollzeitbeschäftigung leben kann. „Gibt es denn überhaupt Löhne, von denen man nicht existieren kann?“, wollte ein Teilnehmer erstaunt wissen, und er bekam die Bestätigung, dass es hierzulande wirklich Löhne unter Sozialhilfeniveau gibt. Tatsächlich ist in Deutschland in vielen Bereichen die Äquivalenz zwischen Lohn und Leistung gestört; viele Löhne sichern nicht die Existenz und die soziale Würde.
Wie kann es kommen, dass ein so reiches Land so viele schlecht bezahlte Arbeitskräfte hat? Gabriele Peter nannte als einen Grund die abnehmende Tarifbindung. In Westdeutschland sind nur 70% der Arbeitsverhältnisse tarifgebunden, im Osten sind die weißen Flecken auf der Tariflandkarte noch größer, dort sind nur 55% der Arbeitsverhältnisse tarifgebunden. Das allein ist es aber nicht, denn viele Tariflöhne sind Niedriglöhne; bundesweit gibt es 130 Tarifbereiche mit Tarifgruppen unter 6 Euro/Stunde. Die Gründe hierfür liegen in Lücken im Tarifsystem, in der Tarifflucht von Arbeitgebern, in geringer gewerkschaftlicher Vertretungsmacht, in der Geringschätzung vieler Tätigkeiten, im Lohn- und Sozialdumping durch ausländische Beschäftigte, in der Zunahme tariffreier Branchen (so gibt es noch keine Tarifverträge in Call-Centern oder in der IT-Branche), in der EU-Osterweiterung und schließlich in politischen Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität von Niedriglohnangeboten (wie die Zumutbarkeitsregeln nach Hartz IV). Arbeitgeberverbände verlieren Mitglieder oder machen so genannte OT-Mitgliedschaften (d.h. der Unternehmer hat die Beratungs- und sonstigen Leistungen des Arbeitgeberverbandes, ist aber nicht an die Tarife gebunden). Doch auch da, wo es Tarife gibt, ist die gewerkschaftliche Macht oft gering: In Kleinbetriebe z.B. kommt eine Gewerkschaft oft nicht rein.
Die Befürchtung eines Teilnehmers, dass, sollte es zu einem Mindestlohn in Deutschland kommen, dessen Höhe durch das Arbeitslosengeld II definiert werden wird, teilte Frau Peter nicht. Es wäre politisch kaum durchzusetzen, denn es gibt eine EU-Festlegung, die besagt, dass der Mindestlohn eines Landes bei 50% des durchschnittlichen nationalen Einkommens betragen muss. Angesichts des deutschen Durchschnittslohns (2003) von 2884 Euro müsste hier der Mindestlohn auf (derzeit) 1442 Euro festgelegt werden.
Wie könnte man zu einem Mindestlohn kommen? Die Einzelgewerkschaften haben unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema, je nachdem wie gut ihre Tarife sind und wie groß ihr Organisierungsgrad ist. Der Vorschlag der NGG (die viel Erfahrung mit prekären und Armutslöhnen hat) lautet ganz einfach: Es soll ein Sockel als Mindestlohn gesetzlich festgeschrieben werden; erst darauf kann verhandelt werden.
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