Hartz IV verfassungswidrig?
Nov 042004
 

Haufenweise Verfassungsklagen?

Hartz IV verstößt nach Ansicht von Fachleuten gegen das Grundgesetz

(noa) Seit vielen Ausgaben ist Hartz IV Gegenwind-Thema. Auch diesmal beschäftigen wir uns mit diesem Gesetz, das zu einem Bestandteil des SGB II wurde, jedoch unter einem ganz anderen Blickwinkel als bisher. Angeregt wurde dieser Beitrag durch einen Artikel in der Arbeitslosenzeitschrift „quer“ 4/2004.

Ab 1.1.2005 werden Tausende in Wilhelmshaven Arbeitslosengeld II beziehen und damit in ihren Grundrechten massiv eingeschränkt werden. So sehen das einige hochrangige Richter und Rechtswissenschaftler.
Prof. Uwe Berlit, Richter am Bundesverwaltungsgericht, macht geltend:
Durch die neuen Bestimmungen des SGB II werden die Alg II-BezieherInnen gezwungen, eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben – wenn sie es nicht tun, wird ihr Alg II empfindlich gekürzt. Dadurch wird die Vertragsfreiheit eingeschränkt – ein Verstoß gegen Art. 2 GG.

  1. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
  2. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Bei Ablehnung von Prämienarbeit drohen den Alg II-Beziehern Sanktionen. Dies stellt einen Verstoß gegen das Verbot von Zwangsarbeit (Art. 12 GG) dar, dann jedenfalls, wenn die Arbeitskraft nicht zu marktgerechten Bedingungen eingesetzt werden kann.

  1. Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
  2. Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
  3. Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

Hartz IV ist nicht armutsfest. Dadurch wird das Bedarfsdeckungsprinzip verletzt, das durch das Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 GG ) zwingend zu beachten ist.

  1. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
  2. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Auch Dr. Wolfgang Spellbrink, Richter am Bundessozialgericht, sieht Verstöße gegen das Grundgesetz durch Hartz IV. Für ihn ist die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 (s.o.) beeinträchtigt, weil den Einzahlungen in die Sozialversicherungen keine äquivalenten Leistungen entgegenstehen. Prof. Dr. Heinrich Lang, Verfassungsrechtler an der Universität Köln, sieht durch die Streichung von Ansprüchen in Versicherungskassen, in die wir alle einzahlen müssen, eine Verletzung des Eigentumsschutzes (Art. 14 Abs. 1 GG).

  1. Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

Prof. Dr. Utz Kramer von der FH Düsseldorf hält das SGB II für teilweise verfassungswidrig, da es gegen das Sozialstaatsgebot (s.o.) in Zusammenhang mit Art. 1 GG verstößt.

  1. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Gegen die Würde des Menschen verstößt nach Kramer z.B. die Tatsache, dass die fehlende Zustimmung eines Alg II-Beziehers zu einer Eingliederungsvereinbarung durch einen Verwaltungsakt ersetzt werden kann.
Auch zwei Richter des Bundesverfassungsgerichtes (Dr. Christine Hohmann-Dennhardt und Dr. Siegfried Bros) teilen diese verfassungsrechtlichen Bedenken.
Die Autoren des „quer“-Artikels, Dorothee Fetzer und Günter Brauner, sehen außer diesen Bedenken auch Grundgesetzverstöße im Alg II-Antragsformular. Dort werden nämlich Daten abgefragt, die für die Antragsbearbeitung nicht erforderlich sind (z.B. Konto des Vermieters), was gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 Abs. 1 (s.o.) verstößt. Auch die Erbenhaftung (Erben eines Hauseigentümers, der Alg II bezogen hat, müssen diese Leistung zurückzahlen) ist wahrscheinlich grundgesetzwidrig und verletzt den Gleichheitsgrundsatz (Art. 14 Abs. 1 – s.o.) in Verbindung mit Art.3 Abs. 1: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Nach „quer“ ist auch der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 19 Abs. 4 GG (Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen) nicht mehr gewährleistet, da nach SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung mehr haben.
Vor dem Bundesverfassungsgericht klagen können nur Menschen, die direkt und persönlich in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden. Da das erst nach dem 1. Januar 2005 der Fall sein wird, kann auch erst dann Verfassungsbeschwerde erhoben werden.
Wer gegen die Grundgesetzwidrigkeit vorgehen will, sollte keinen Bescheid rechtsgültig werden lassen, sondern gegen alle Bescheide Widerspruch einlegen. Diese Widersprüche werden zwar abgelehnt werden, da die Widerspruchsbehörden nur die richtige Anwendung des Gesetzes, nicht aber die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes prüfen, so dass auf jeden Fall der Klageweg beschritten werden muss. Klagen beim Sozialgericht sind (noch) kostenfrei.
Leider können wir unsere LeserInnen für diese Fragen nicht an die ALI verweisen, denn „Arbeitsloseninitiative sieht Beratung bedroht“ (WZ, 19.10.) – wir wissen noch nicht, ob es nach dem 1.1.05 noch eine Beratungsstelle der ALI geben wird. Im Internet sind allerdings schon Kontakte zu finden, die eine Verfassungsbeschwerde vorbereiten (z.B. unter www.flegel-g.de ) .

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