Ersatz
Nov 251991
 

Codein statt Heroin

Die Diskussion um eine Ersatzdrogentherapie gerät in Bewegung

(ub) Niedersachsens Sozialminister Walter Hiller zieht eine flächendeckende Methadonabgabe für Heroinabhängige in Erwägung. Ein Hoffnungsschimmer auch für Wilhelmshavener Hartdrogenabhängige? Der GEGENWIND sprach mit Betroffenen und Fachleuten.

Die Ärztekammer Hamburg setzt auf Methadon bei der Drogensubstitutionsbehandlung. In den jetzt von ihr herausgegebenen „Richtlinien für die Ersatzbehandlung mit Codeinpräparaten “ heißt es in Anspielung auf die rechtlich noch unklare Situation hinsichtlich der Methadonabgabe: „Bis zu einer Änderung des Betäubungsmittelgesetzes und der Betäubungsmittelverschreibungsordnung ist eine Substitution mit einem Codeinpräparat im Einzelfall ein ärztlich vertretbarer Ausweg.“
Ein mit Codein behandelnder Wilhelmshavener Arzt sieht sich mit hohen Regreßforderungen der Krankenkassen konfrontiert. Er hatte einigen drogenabhängigen Patienten das codeinhaltige Präparat Remedacen verschrieben. Die Krankenkassen verweigern die Kostenübernahme (siehe GEGENWIND 100).
Der GEGENWIND wollte wissen, wie jetzt die Perspektiven für Hartdrogenabhängige, die substituieren wollen, aussehen und führte ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der Aidshilfe und einer zur Zeit substituierenden Drogenabhängigen. Sie ist Mitarbeiterin der im Aufbau befindlichen örtlichen JES-Gruppe (Junkies, Ex-User, Substituierte). Des weiteren nahm an dem Gespräch ein Wilhelmshavener Apotheker teil.

Gegenwind: Anke, Du gehörst zu den Drogenabhängigen in Wilhelmshaven, die bis vor kurzem noch Remedacen als Drogenersatz verschrieben bekommen haben. Die Krankenkassen weigern sich bekanntlich, die Kosten für Remedacen zu übernehmen. Wie ist Deine momentane Situation?
Anke (JES): Ich habe zu Beginn meiner Substitution Remedacen bekommen; jetzt verschreibt mir mein Arzt einen codeinhaItigen Saft – allerdings auf Privatrezept. Das heißt, daß ich die Kosten für den Saft selber tragen muß.
Gegenwind: Was bedeutet das für Dich?
Anke (JES): Ich bin Sozialhilfeempfängerin. Sobald ich mit Remedacen substituiert wurde, konnte ich anfangen, meine persönlichen Dinge zu regeln, z.B. Sozialhilfe beantragen und mich um eine Wohnung kümmern. Jetzt bekomme ich finanzielle Probleme. Der Saft kostet mich 40.- DM pro Woche.

Gegenwind: Nun war vor kurzem in der Presse zu lesen, daß die Möglichkeit einer Substitutionsbehandlung mit Methadon in Niedersachsen ausgeweitet werden soll. Was bedeutet das für Heroinabhängige in Wilhelmshaven?
Olaf (Aidshilfe): Erstmal muß man feststellen, daß die Richtlinien für eine Ersatzdrogentherapie repressiver geworden sind. Es gibt eine Indikationsfassung ähnlich wie beim Paragraphen 218. Substitution durch Methadon ist für Wilhelmshaven ziemlich unwahrscheinlich. Hier fehlt die dafür nötige Infrastruktur. Es fehlt z.B. an Ärzten, die bereit wären, die Versorgung der substituierten Patienten auch an Wochenenden und Feiertagen abzudecken.
Apotheker: Es entsteht beim Methadonprogramm das organisatorische Problem, daß man Ärzte braucht, die bereit sind, rund um die Uhr, also auch am Wochenende da zu sein, um den Stoff abzugeben. Dieses Problem ließe sich jedoch ganz einfach lösen. Der behandelnde Arzt müßte nur mit einem Krankenhaus kooperieren, denn dort ist immer ein Arzt erreichbar.

Gegenwind: Die Krankenkassen weigern sich bisher standhaft, die Kosten für codeinhaltige Präparate zu übernehmen. Welche Perspektiven seht Ihr?
Olaf (Aidshilfe): Langfristig müssen die Kassen die Kosten übernehmen. Mittelfristig sehen wir die Möglichkeit einer sozialrechtlichen Lösung. Wenn Abhängige Probleme haben, den Saft zu bezahlen, gibt es durchaus sozialrechtliche Argumentationen, daß Sozialhilfeträger die vergleichsweise geringen Kosten für den Saft tragen. Hier muß noch eine genaue juristische und medizinische Prüfung, gegebenenfalls auch einzelfallbezogen, vorgenommen werden.gw104_spritze

Gegenwind: Wie sehen die praktischen Erfahrungen aus – gibt es in Wilhelmshaven genügend Ärzte, die den Saft verschreiben?
Anke (JES): Nein. Es gibt nur sehr wenige Ärzte, die den Saft von sich aus verschreiben.
Olaf (Aidshilfe): Ich denke, daß gerade die Abhängigen, die schon etwas stabilisiert sind, sich mit der Bitte um Verschreibung des Saftes auch an andere Ärzte wenden sollten, damit sich der Kreis der Ärzte vergrößert.
Gegenwind: Warum finden sich bisher so wenige Ärzte bereit, den Saft zu verschreiben?
Olaf (Aidshilfe): Du mußt davon ausgehen, daß Ärzte normalerweise der Auffassung sind, daß Junkies, solange sie mit Heroin zu tun haben, überhaupt nicht behandlungsfähig sind, Junkies sind demnach völlig kaputte, persönlichkeitsgestörte Individuen. Das heißt, daß nur der Junkie, der sagt, daß er vollkommen abstinent leben will, nach Meinung vieler Ärzte überhaupt behandlungsfähig ist. Es gibt jedoch Ausnahmen. Einige wenige Ärzte sind schon bereit, sich intensiv im Sinne der Substitutionstherapie weiter zu informieren.
Apotheker: Der klassische Mediziner wird durch seine Ausbildung in ein bestimmtes Denkschema geprägt. Die Auseinandersetzung mit „Sucht“ ist dort leider nicht selbstverständlich. Es ist für einen Arzt sicherlich einfacher, sich beispielsweise mit einem herzkranken Patienten zu beschäftigen. Das Gespräch mit einem Drogenabhängigen ist zudem in der Regel zeitintensiver. Bei der Behandlung eines Drogenabhängigen ist sicher auch Idealismus gefordert.

Gegenwind: Was heißt in diesem Zusammenhang Therapie?
Anke (JES): Durch die Substitution mit dem Codeinsaft oder mit Remedacen kannst du wieder anfangen, dich mit dir selber zu beschäftigen. Du kannst dich wieder um dein Leben kümmern, weil du nicht mehr ständig damit beschäftigt bist, Drogen beschaffen zu müssen.

gw104_codeinGegenwind: Wir haben in unserer Ausgabe Nr. 100 darüber berichtet, dass der Arzt J. Janssen sich derzeit Regreßforderungen der Krankenkassen in Höhe von mehreren zehntausend Mark ausgesetzt sah, weil er Remedacen verschrieben hat. Dürfen Arzte den codeinhaltigen Saft problemlos verschreiben?
Apotheker: Codeinzubereitungen, sobald sie unter einer Konzentration von 2,5 % liegen, fallen nicht mehr unter das Betäubungsmittelgesetz. Sie dürfen als normales Arzneimittel verordnet werden. Wäre dem nicht so, dann dürfte z.B. kein codeinhaltiger Hustensaft verordnet werden. Das Codein wird von der Knoll AG, einer großen Pharmafirma, geliefert. Diese Firma hat durch ihre Rechtsabteilung genau abgeklopft, ob die Abgabe an einzelne Apotheken zulässig ist.

Gegenwind: Gibt es schon langfristige Erfahrungen mit der Codeinsaftbehandlung?
Apotheker: Nach einer zehnmonatigen Saftbehandlung ist eine im großen und ganzen positive Bilanz zu ziehen. Man geht davon aus, daß in Deutschland ca. 5000 Patienten substituiert werden. Da man weiß, welche Schwierigkeiten es mit Methadon gibt, kann man davon ausgehen, daß der größte Teil mit Codeinsaft substituiert wird. Es ist sehr erfreulich festzustellen, wie z.B. Patienten in der „Abwärtsbewegung“ aufgehalten werden.

Gegenwind: Wir danken für das Gespräch.

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