Aussiedler
Mrz 171993
 

Kaltgestellt

Sozialabbau kostet die Stadt 3 Millionen

(hh) Die Streichung von Geldern für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ist in aller Munde. Aber die Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes treffen auch andere Gesellschaftsgruppen, z.B. die Aussiedler, radikal und ohne Vorwarnung.

Bis 1986 kamen jährlich ca. 40 000 Aussiedler nach Deutschland, 1987 waren es rund 86 000. Seit Öffnung der Grenzen kommen jährlich ca. 200 bis 300.000 deutsche Aussiedler aus dem früheren Ostblock zu uns. Gehörte es früher zum guten politischen Ton, die Heimkehr der „Brüder und Schwestern“ aus dem Osten einzuklagen, so weht denen, die der Einladung der Bundesregierung, hier bei uns zu leben, gefolgt sind, von eben jener ein eisiger Wind entgegen.
Hinzu kommt die Tatsache, daß die Öffnung der Grenzen den Vertreibungsdruck geradezu forciert hat. Viele sind nicht eben freiwillig gekommen, sondern durch Druck der nationalen Kräfte in den russischen Teilrepubliken.
In Wilhelmshaven leben ca. 2.300 Aussiedler, die vornehmlich aus Polen und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kamen. Ihr Ziel ist es, sich möglichst schnell zu integrieren. Sie bekommen in Sprachkursen der Volkshochschule und anderer privater Bildungsträger das nötige Rüstzeug, um sich hier zurechtzufinden. Die meisten Aussiedler haben Berufe, mit denen sie durchaus auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren könnten: Tischler, Kraftfahrer, Elektriker, Schlosser, aber auch Ärzte und Ingenieure. Natürlich ist es in den meisten Fällen nicht möglich, übergangslos einen Job zu finden. So folgten im Anschluß an die Sprachkurse sog. Anpassungsmaßnahmen, in denen sie ihre beruflichen Kenntnisse an den bundesrepublikanischen Standards messen und entsprechend dazulernen konnten. In anderen Fällen kamen Umschulungen in Frage, beispielsweise im Bereich Alten- und Krankenpflege.

Diese Situation hat sich seit 1.1.93 dramatisch verschlechtert. Alle Aussiedler, die vor Jahresbeginn eingereist sind, erhalten noch insgesamt 12 Monate ein sog. Eingliederungsgeld (EGG), das sich auf ca. 245,- pro Woche für einen Erwachsenen beläuft. Für die Dauer des jetzt nur noch 6monatigen Sprachkurses wird Eingliederungshilfe (EGHI) gewährt, das sind 14% weniger als EGG. Für diejenigen, die nach dem 1.1.93 eingereist sind, wird kein Eingliederungsgeld mehr gezahlt, sondern Eingliederungshilfe mit Bedürftigkeitsprüfung, und die auch nur noch für 9 Monate. Hatten alle Aussiedler im letzten Jahr noch Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, die sich im Anschluß an den Bezug von Eingliederungsgeld ergab und dadurch die Möglichkeit, an Anpassungs- oder Umschulungsmaßnahmen teilzuhaben, so fällt dies nun völlig weg. Nach Ablauf des Bezugs von Eingliederungsgeld bleibt nur noch der Gang zum Sozialamt. Es gibt keine Möglichkeit, Anpassungs- oder Umschulungsmaßnahmen bezahlt zu bekommen. Und das ist der eigentliche Skandal.
Träger von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, wie das Berufsfortbildungswerk des DGB, mussten dadurch und durch den Wegfall von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose bereits 4 Kollegen kündigen. Auch das Institut Freund, ein privater Bildungsträger, der sich auf Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen spezialisiert hat, kann Mitarbeiter nicht weiterbeschäftigen.
Auf die Stadt Wilhelmshaven kommen Mehrkosten von ca. 3 Millionen DM an Sozialhilfe zu, Geld, das in anderen Bereichen gespart werden muß, da Sozialhilfe eine Pflichtleistung darstellt. Ursula Aljets, Vorsitzende des Sozialausschusses, rechnet ab 1.7. mit einem Plus von 1.000 AntragstellerInnen. Diese Mehrarbeit ist von der Verwaltung nur dann zu leisten, wenn im Sozialamt zwei zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Stadtverwaltung ist gezwungen, sich trotz aller Proteste auf die neue Situation einstellen.

Kommentar:

Aussiedler, das sind Olga und Maria, Andreas und Johann, die mit großen Hoffnungen und einem festen Willen, sich eine neue Zukunft aufzubauen, nach Deutschland gekommen sind. Man hat sie eingeladen, hier zu leben. Sie können nichts dafür, in eine Situation wirtschaftlicher Rezession hineingeraten zu sein. Sie alle haben in ihren Herkunftsländern in ihrem Beruf gearbeitet und wollen keineswegs den Weg zum Sozialamt antreten. Es bedarf nur einer kleinen Brücke, damit sie sich in ihrem Beruf hier zurechtfinden. Diese Brücke wurde nun abrupt abgebrochen. Die Bundesanstalt für Arbeit wälzt Kosten auf die Städte und Gemeinden um und sie werden zur Manövriermasse. Den Aussiedlern bei uns wird jede Chance genommen, sie geraten in eine Sackgasse. Arbeitsmarktpolitisch ist dieser Schritt nicht nur unlogisch, er ist kontraproduktiv und nützt nicht einmal kurzfristig. Warum also dieser Einschnitt? Es ist zu vermuten, daß die Bundesregierung auf die abschreckende Wirkung solcher Maßnahmen setzt, eine Rechnung, die laut Aussagen von hier lebenden Aussiedlern nicht aufgehen wird.

Hilde Haake

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