Arbeitsloseninitiative
Feb 012007
 

Wind von vorn

Wieder einmal hat der Oberbürgermeister sich bei Arbeitslosen unbeliebt gemacht

(noa) Alle Jahre wieder ist die Januar-Versammlung ein Highlight im Veranstaltungsreigen der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland, denn da kommt Oberbürgermeister Eberhard Menzel. Letztes Jahr musste er sich vertreten lassen, weil er außerhalb war, und im Jahr davor kam er eine Stunde zu spät.

 Zur ALI-Versammlung am 9. Januar kam er nur 3 Minuten zu spät. Diese Zeit holte er aber wieder rein, indem er seinen Vortrag so zügig hielt, dass es zeitweise schwierig war, genau nachzuvollziehen, was er sagte.

Wilhelmshavens wirtschaftliche Zukunft

Leistungen an Arme, so unser OB, sind nur finanzierbar, wenn die Stadt Einnahmen hat. Von den 40 Mio. Euro, die 2006/2007 unverhofft ins Stadtsäckel fließen, bleiben leider nur 12 Mio. Euro; alles andere fließt in die Gewerbesteuerumlage und den Finanzausgleich. Und: Die Stadt Wilhelmshaven hat kein Ausgabe-, sondern ein Einnahmeproblem. Deshalb seien die geplanten Investitionen (rasche Aufzählung von JadeWeserPort, Kraftwerk, Cracker u.a.m.) mit einem Gesamtvolumen von „roundabout“ 6,8 Mrd. Euro notwendig, denn: „Ohne diese Projekte hat Wilhelmshaven keine wirtschaftliche Zukunft“, betonte Menzel, „und dann wird auf einmal die Rohrdommel gefunden.“(!)

Einfaches Wohnen

„Roundabout“ (offenbar sein Lieblingswort, 17 mal benutzte er es) 24 Mio. Euro, erklärte Menzel, habe die Stadt Wilhelmshaven im Jahr 2006 für die KdU (Kosten der Unterkunft) an Hartz IV-Betroffene auszahlen müssen und habe nur 29,1 % davon vom Bund zurückbekommen.
Bei dieser „Reform“, so findet Menzel, hat der Bund vieles falsch eingeschätzt. „Draußen war Nebel, und drinnen waren alle benebelt“, als Hartz IV beschlossen wurde, und die Angemessenheit der KdU sei eine Streitfrage. Keine Differenzen gebe es bei der Frage der angemessenen Wohnungsgröße, doch in der Frage des Standards bestünden kontroverse Ansichten. Alg II-Empfänger müssten in einfachen Wohnverhältnissen leben, und von solch einfachen Wohnungen stünden in Wilhelmshaven 3.000 – 4.000 leer. Den Einwurf aus dem Publikum, dass zahlreiche dieser „einfachen“ Wohnungen nach jahrelangem Leerstehen mittlerweile unbewohnbar sind, ignorierte Menzel. Oder war vielleicht die Ankündigung, dass künftig bei Widersprüchen im Zusammenhang mit der Angemessenheit der Wohnung spezifische Untersuchungen stattfinden sollen und dafür mehr Personal bereitgestellt wird, die Antwort darauf?
Die Methode der Stadt Wilhelmshaven, mittels derer sie ihre Mietobergrenzen für Alg II-EmpfängerInnen errechnet und begründet – laufende Auswertung von Anzeigen in der Presse – werde oft angezweifelt, sei aber gut und richtig. Die oft zitierte rechte Spalte der Wohngeldtabelle enthalte für Wilhelmshavener Verhältnisse zu hohe Werte, und einen Mietspiegel werde man hier nicht erstellen, weil dieser dazu führen würde, dass dann die Mieten steigen.
Und überhaupt: Das jüngst ergangene Urteil des Bundessozialgerichts, das immer noch nicht schriftlich vorliegt (vgl. GW 223, „Hartz IV und Recht“), gäbe, so wie Menzel die Presseberichte darüber verstehe, der ALI nicht Recht.

Eltern machen Kinder arm

Und unmittelbar ging es weiter zum nächsten Thema. „Kinderarmut“, so Menzel, „ist ein relativer Begriff“, und: „Nicht immer bedeutet Kinderarmut, dass es an den Finanzen liegt.“ Erst am Vortag habe er mit Mitarbeitern des Allgemeinen Sozialdienstes zusammen gesessen und von diesen erfahren, dass es in Wilhelmshaven auch Alg II-Empfänger gäbe, deren Kindern es an nichts mangele, weil die Eltern es sich vom Munde absparen. Und so sei Kinderarmut, fand Menzel, eher ein Problem, das die Eltern machen. Wenn man dann noch bedenke, dass es sich im Internet-Chat-Zeitalter rumspreche, wie günstig man in Wilhelmshaven leben kann, und dass infolgedessen 22 Neubürger 12 Kinder mitgebracht hätten, die nun mangels angemessener Erziehungsfähigkeit der Eltern Unterbringungskosten in Höhe von jährlich 1,2 Mio. Euro verursachen, dann stelle sich die Frage, „ob Beträge, die wir für Kinder ausgeben, bei diesen ankommen“ – offenbar hatte Menzel dabei den LAW-Antrag auf Zahlung eines Weihnachtsgeldes von je 50 Euro an von Armut betroffene Kinder (in der Ratssitzung am 13. Dezember abgeschmettert) im Sinn.

Wie bitte?

Als Menzel sich wieder hinsetzte, mussten alle erst einmal nach Luft schnappen. Dann gab es Nachfragen: Wie war das mit dem Mietspiegel? Die Erstellung eines solchen würde die Mieten insgesamt erhöhen? Die Alg II-Empfänger in Wilhelmshaven sollten sich also mit KdU unter den Werten der Wohngeldtabelle zufrieden geben, weil sonst für alle die Mieten steigen würden? – Ja, sagte Menzel, das habe sogar mal eine Vertreterin des Mieterbundes gesagt. Keine Antwort gab er auf die Gegenrede eines Versammlungsteilnehmers, der sagte, dass diese Einschätzung vom Mieterbund selber kurz danach wieder zurückgenommen wurde, weil sie sich als unzutreffend erwiesen hatte.
Das BSG-Urteil gäbe der ALI nicht Recht, wohl aber dem Job-Center? Und was sei mit den Urteilen des Landessozialgerichtes wie auch des Sozialgerichts Oldenburg, die u.a. im GEGENWIND (Ausgabe 222) nachzulesen seien? Und wie könnten Beschäftigte des Job-Centers gegenüber Antragstellern, die sich auf diese Urteile beziehen, behaupten, davon nichts zu wissen? – Der GEGENWIND gehöre nicht zur Pflichtlektüre der städtischen Beschäftigten, sagte Menzel. (Zwischenruf an dieser Stelle: „Sollte er aber sein!“) Und eine eigene Stellungnahme zu den Urteilen, mit denen das Gericht dem Job-Center auferlegt hat, KdU in Höhe der in der Wohngeldtabelle genannten Werte zu erstatten, gab er gar nicht ab.
Trage er mit seinen Bemerkungen zur Kinderarmut nicht den Krieg ins feindliche Lager? Wolle er wirklich sagen, dass Kinder in Alg II-Bedarfsgemeinschaften deswegen arm seien, weil ihre Eltern egoistisch seien und zuviel Geld für sich behielten? – Nein, so habe er es nicht gemeint, antwortete Menzel. – Gesagt bzw. angedeutet habe er es aber, wurde gekontert. Und eine Teilnehmerin rechnete ihm vor, was das „Vom-Munde-Absparen“ heißt: Wer von 622 Euro (für zwei Erwachsene) etwa die Schulbücher abzweigen muss, kann selber am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilnehmen, ist ausgegrenzt. „Darüber sollte man nachdenken, bevor man so etwas sagt“, schloss sie ihren Beitrag. Menzels Entgegnung. „Damit habe ich nicht alle Eltern gemeint.“

Wind von vorn

Ein Versammlungsteilnehmer hat als Maler und Lackierer „einfache“ Wohnungen gesehen, bei denen Fenster und Türen so schlecht schließen, dass hohe Energiekosten für das Heizen unausweichlich seien. Wolle Menzel, dass Alg II-Bedarfsgemeinschaften dort wohnen?
Und zur Lage auf dem Arbeitsmarkt: Er finde keine Arbeit, denn wo er sich bewerbe, sage man ihm, dass man mit den Praktikanten, die aus Maßnahmen des Job-Centers heraus gratis in Betrieben arbeiten, gut klarkomme. Dies konnte ein anderer Diskutant bestätigen: Innerhalb einer 9-monatigen Maßnahme hat er 6 Monate lang bei Grove gearbeitet. Dort konnte man seine bei Olympia erworbenen beruflichen Erfahrungen und Fähigkeiten – gratis – gut nutzen. Seine Frau, ebenfalls Hartz IV-Betroffene, hat eine Arbeitsgelegenheit (= 1-Euro-Job) und hat da noch nie ihr Geld bekommen – das Job-Center, das darüber informiert ist, unternimmt nichts.
Ernst Taux brachte das Thema KdU auf den Punkt: Man dürfe nicht übersehen, dass es hier wie in vielen anderen Fragen um zwei entgegengesetzte Interessenlagen geht: Die Betroffenen wollen anständig wohnen, die Stadt will, dass sie einfach wohnen, damit sie ihnen wenig zahlen muss. „Eine Wohnung, die jemandem von hier zugemutet wird, müssen Sie, Herr Menzel, bewohnen wollen!“ Und: „Ein Kind unter 14 Jahren mit 207 Euro monatlich ernähren, kleiden, zur Schule schicken, das erfordert Fähigkeiten, die die Spitzenmanager missen lassen.“
Schließlich erzählte Ernst noch einen Witz, den er am Vortag in einer Fernsehendung über die untergegangenen kommunistischen Staaten gehört hatte, in einer Abwandlung für unsere heutigen Verhältnisse: „Eine schlechte und eine gute Nachricht. Die schlechte: Hartz IV-Empfänger haben die Aussicht, in den nächsten sieben Jahren nur von Scheiße zu leben. Die gute: Davon haben wir genug.“

Solidarität statt Ausgrenzung

Günther Kraemmer, ehemaliger ALI-Vorsitzender, zeigte auf, wo ein möglicher Lösungsweg für die Stadt liegt: „Es ist unerträglich. Erst nimmt man den Leuten die Arbeit, dann die Altersvorsorge und schließlich ihre Wohnung. Wenn den Kommunen das Geld nicht reicht, dann dürfen sie den Druck nicht nach unten weitergeben, sondern müssen sich mit anderen Kommunen zusammenschließen und es vom Gesetzgeber einfordern.“
In ein ähnliches Horn blies ein anderer Versammlungsteilnehmer: „Es ist nicht auszuhalten, dass jemand, der jahrelang gearbeitet hat und die Arbeit verloren hat, nach einem Jahr in der Stadt die Hundescheiße sortieren muss. Mit diesen Leuten haben die Kommunen sich zu solidarisieren, statt sie als Schmarotzer zu bezeichnen.“
Diese Beiträge scheint Menzel nicht gehört zu haben. Auf die Aufforderung eines Anwesenden, er solle die Probleme anders anfassen, fragte er: „Wie?“
„Es war gut, dass ich hier war“, sagte Menzel zum Abschied. Jetzt hat er ein Jahr Zeit, sich von dieser geballten Ladung Wind von vorn zu erholen und sich für die nächste Januar-Versammlung zu wappnen.

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