Nazi-Aufmarsch
Jun 221992
 

Aus Fehlern lernen

Nachbetrachtung zur Organisation des Widerstandes gegen Neo-Nazis

(hh) Vier Wochen nach dem Aufmarsch der Braunen in .Wilhelmshaven hat sich die Aufregung längst gelegt. Fast scheint es so, als ob dies Ereignis als einmaliges Geschehen bereits ad acta gelegt worden sei, obwohl die politische Situation weitere Kraftdemonstrationen der neuen Rechten vermuten läßt.

nazi108_01Immerhin ist es gelungen, ca. 1500 Menschen gegen Rechts zu mobilisieren und den Auftritt der Faschisten insoweit zu verhindern, daß diese ihre Kundgebung nur unter massivem Polizeischutz abhalten konnten und gezwungen waren, sich danach im Wald zu verstecken.
Um für die Zukunft gut gerüstet zu sein, ist es unerläßlich, unsere Vorgehensweisen mit etwas Abstand kritisch zu beleuchten. Da zwar der Kundgebungstermin des Deutschen Kameradschaftsbundes 6 Wochen vorher bekannt war, Ort und Zeit jedoch nicht, einigte man sich in der Initiative „Viele Kulturen – eine Zukunft, dem Haß keine Chance“ auf eine Gegenkundgebung in Roffhausen. Ein Parkplatz in der Olympiastraße sollte Sammelpunkt der Neo-Nazis sein. So wurde ein Aufruf in hoher Auflage, von vielen wichtigen politischen Gruppen und Parteien getragen, verteilt. Von Roffhausen aus war Flexibilität gewährleistet, hätten doch die Kundgebungen der Rechten auch in Varel oder Wittmund stattfinden können.
nazi108_02Als deutlich wurde, daß Wilhelmshaven der Ort des Geschehens werden würde, schlug man eine neue Taktik ein. Viele Gruppen meldeten an allen potentiellen Plätzen eigene Kundgebungen an. Diese Taktik bot mit Sicherheit enorme Vorteile, führte jedoch auch, da ziemlich neu und nicht als taktisches Manöver transparent gemacht, zu erheblicher Verwirrung unter den GegendemontrantInnen. Manch eine(r) stellte sich die Frage nach dem Wohin am Samstagmorgen. Zudem hatte die SPD, die ebenfalls um 9.30 Uhr in Roffhausen gewesen sein wollte, für 11.00 Uhr eine Kundgebung auf dem Börsenplatz angemeldet und das nicht nur aus taktischen Gründen. Auch die Christen hielten ihre Kundgebung am Synagogenplatz ab.
Die Autonomen und AnarchistInnen, die zu einem Großteil aus anderen Städten angereist waren, trafen sich am Jadezentrum. Diese zahlenmäßig recht große Gruppe hatte sich bereits Wochen vorher aus dem Wilhelmshavener Bündnis gelöst und eigene Organisationsformen gebildet. Das hat im Vorfeld zu einigen Auseinandersetzungen geführt. Wilhelmshavener OrganisatorInnen fühlten sich „verarscht“ und als Zuträger von Informationen mißbraucht. Dies Verhalten ist bedauerlich. Es reißt Gräben auf, wo gemeinsames Handeln erforderlich wäre.nazi108_03
Gut, daß sich weite Teile der DemonstrantInnen an den Konsens der Wilhelmshavener gehalten haben, auf Gewalt zu verzichten. Schön, wenn es in Zukunft ganz ohne ginge, denn das Werfen von Flaschen hindert uns an der Mobilisierung einer noch breiteren Öffentlichkeit, die wir alle brauchen.
Positiv zu vermelden ist die insgesamt gute Öffentlichkeitsarbeit. Auch das Faltblatt der Autonomen brachte, abzüglich eines bösen Ausrutschers gegen den Naturkostladen Jonathan, gute Hintergrundinformationen. Im Pumpwerk, im Willy-Bleicher-Zentrum und im Kling Klang liefen prima Kulturprogramme, die auch mehr oder weniger gut besucht wurden. Daß auch einige Gastwirte ihre Speisen und Getränke fast zum Selbstkostenpreis anboten, ist höchst erfreulich.
Wichtige Kritikpunkte, wie eine größtenteils handlungsunfähige Demoleitung und die Spaltung in zwei Gruppen, eine in der Marktstraße und eine in der Börsenstraße, zwischen denen es keinerlei Kommunikation gab, müssen noch an anderer Stelle diskutiert werden.
Bleibt zu hoffen, daß alle Mitwirkenden auch in der Zukunft wieder ihr Talent, ihre Kraft und Entschlossenheit für die gemeinsame Sache einbringen werden.

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Kommentar:

Blinder Aktionismus
Einen großen Teil der GegendemonstrantInnen anläßlich der Nazi-Kundgebung hatten die Wilhelmshavener Autonomen mobilisiert. Es hat sich wieder einmal gezeigt, was für eine wichtige Kraft die Autonomen darstellen, wenn es darum geht, viele Menschen für Aktionen zusammenzuschließen.nazi108_05
Viele AntifaschistInnen, die sich auf dem Börsenplatz eingefunden hatten, um gemeinsam die Nazi-Kundgebung zu verhindern, begriffen allerdings nicht, warum der autonome Block nach einer Megaphon-Durchsage „Stichwort“ und konspirativem Köpfe-Zusammenstecken in Richtung Synagogenplatz losmarschierte, bevor die Demonstrationsleitung das angekündigte Signal gegeben hatte.
Der vorzeitige Aufbruch führte dazu, dass der größere Teil der Demonstration unter Führung der Autonomen beim Eintreffen der Neonazis am falschen Platz und zudem durch die Polizei vom Geschehen bestens abgeschirmt war. Der blinde Aktionismus der Autonomen bewirkte, daß der am Synagogenplatz verbliebene Teil der GegendemonstrantInnen mangels Masse den Einmarsch der Neofaschisten nicht verhindern konnte und auch weitgehend tatenlos zusehen mußte, wie die Neonazis nach Beendigung ihrer Kundgebung geordnet abmarschierten, während der größere Teil, eingekesselt von der Polizei, in seiner Gegenwehr auf rituelles Eierwerfen beschränkt war. Man stelle sich vor, die gesamte Demonstration hätte die Nazis am Eingang ihres Kundgebungsplatzes erwartet! Bei der großen Zahl der anwesenden AntifaschistInnen wäre die Nazi-Aktion wahrscheinlich zu verhindern gewesen.
Unverantwortlich war, daß einige Teilnehmer aus dem autonomen Block ihren hilflosen Protest durch das Abschießen von Leuchtraketen zu unterstreichen versuchten. Diese unkontrollierten und völlig sinnlosen Aktionen gefährdeten die am Synagogenplatz verbliebenen Demonstranten!nazi108_07
Leider konnte man den Aufmarsch und die Kundgebung der Neonazis nicht verhindern. Umso erfolgreicher wurden die Faschisten dann allerdings am Verlassen der Stadt gehindert. Es ist erfreulich, daß die Rechtsradikalen durch die große Zahl der AntifaschistInnen davon abgehalten wurden, weitere Aktionen in Wilhelmshaven durchzuführen. Da ist es allerdings unverständlich, daß die Autonomen den endgültigen Abzug der Nazis um Stunden hinauszögerten, indem sie versuchten, den Parkplatz, auf dem sich die zur Abfahrt bereiten Neonazis befanden, zu blockieren.
Politisch sinnlos war auch die anschließende Schnitzeljagd“, die Teile der Autonomen bis in die späte Nacht hinein veranstalteten. Sie durchforsteten die umliegenden Wälder, um den Lagerplatz der „Deutschen Kameraden“ aufzuspüren und sie „aufzumischen“. Man stelle sich einmal vor, eine kleine Gruppe der zumeist sehr jungen Autonomen wäre tatsächlich fündig geworden. Sie hätten sich vermutlich blutige Nasen geholt.
Will man erfolgreich gegen einen politischen Gegner vorgehen, das zeigt sich immer wieder, dann ist Einheit erforderlich. Leider – und für viele unverständlicherweise – hatten sich die Autonomen nach anfänglicher Teilnahme aus dem antifaschistischen Bündnis wieder zurückgezogen, ihre Aktionen „autonom“ geplant und dabei den gemeinsamen politischen Gegner offensichtlich zeitweise aus den Augen verloren. Sprüche wie „DGB und SPD tun dem Kapital nicht weh“ haben bei einer antifaschistischen Kundgebung, die auf einem Bündnis mit eben diesen Organisationen beruht, nichts zu suchen. Wem derlei Spalterei nützt, hat die Geschichte gezeigt.

Schlagkraft und Biß
So viele Polizisten sah man in Wilhelmshaven noch nie auf einem Haufen – da ist die Polizei wohl den vollmundigen Ankündigungen des Organisators Thorsten de Vries, der Deutsche Kameradschaftsbund würde Tausende von Neonazis aus dem gesamten „Reich“ in Wilhelmshaven versammeln, aufgesessen.nazi108_06nazi108_09
Lediglich der „Gau“ Hamburg war dem Aufruf des Möchtegernführers gefolgt – für die aus ganz Niedersachsen zusammengezogenen Polizeitruppen bot sich dennoch die Möglichkeit, ihre Schlagkraft und ihren Biß unter Beweis zu stellen. Zu Tausenden waren nämlich die GegendemonstrantInnen erschienen, und zumindest einem Teil der „Freunde und Helfer“ schien es nicht darauf anzukommen, auf wen sie einschlugen oder ihre Hunde hetzten. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß zumindest einige Polizeibeamte große Sympathie für die Rechtsradikalen mitbrachten. Wie anders ist es zu erklären, daß einzelne Beamte unbeherrscht und wild auf AntifaschistInnen einprügelten?
Auf fast einstimmige Empfehlung des Rates der Stadt Wilhelmshaven hatte die Stadtverwaltung die Nazi-Kundgebung verboten. Nachdem das Verwaltungsgericht dieses Verbot aufgehoben hatte, war klar, daß die Polizei den Aufmarsch der Rechtsradikalen schützen würde. Sie war mit mehreren Hundertschaften präsent, aus Braunschweig war eine Hundestaffel angereist, Zivile trugen offen Schußwaffen bei sich.
Nach Beendigung der Kundgebung ermöglichte die Polizei den Faschisten unter Einsatz von scharfen Hunden und Schlagstöcken den ungestörten und geordneten Abmarsch. Die wenigen GegendemonstrantInnen auf der Börsenstraße wurden ohne vorherige Warnung auseinandergeknüppelt und von zähnefletschenden Polizeihunden angegriffen.
Es ist schlimm genug, daß Leute, die z.B. Ausländerwohnheime in Brand stecken, mit behördlicher Genehmigung und unter Polizeischutz das Demonstrations- und Versammlungsrecht für sich in Anspruch nehmen dürfen. Noch schlimmer ist aber, daß diejenigen, die aus der Geschichte gelernt haben und sich neofaschistischen Aufmärschen entgegenstellen, ihr Demonstrationsrecht nur in Konfrontation mit staatlicher Gewalt wahrnehmen können.

Uwe Brams
Anette Nowak

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