Alle Vögel sind schon da ...
… wo Wirtschaft und Politik lieber rauchende Schornsteine sehen würden
(iz) Anfang der siebziger Jahre wurden zwischen Voslapp und Hooksiel 1600 Hektar Watt und Salzwiesen eingedeicht und mit Sand aus der Jade aufgespült, um Flächen für umfangreiche Industrieansiedlungen vorzuhalten. Der Industrieboom lässt – von Raffinerie und PVC-Werk mal abgesehen – bis heute auf sich warten. Die Natur hingegen hat die Zeit für sich genutzt und sich ihren Raum auf den größtenteils ungenutzten Flächen zurückerobert.
Schon in den achtziger Jahren zeigten wissenschaftliche Untersuchungen, dass große Teile des Voslapper Grodens durchaus naturschutzwürdig waren. Auf den Brachflächen hatten sich großflächige Schilfröhrichte entwickelt sowie z. T. undurchdringbare Gebüschgesellschaften, Zwergstrauchfluren, offene Kleingewässer und sumpfige Bereiche, Dünengebiete, Trockenrasenbereiche und Feuchtgrünland. Hier fanden vor allem zahlreiche Vogelarten, deren natürliche Lebensräume durch die Aufspülung verloren gegangen waren, einen Ersatzlebensraum – denn Watt und Salzwiesen, die ihnen Brut- und Nahrungsplätze geboten hatten, waren bis über drei Meter tief unter dem aufgespülten Seesand aus der Jade begraben.
Durch die Industriebetriebe und die östlich verlaufende Chemiepipeline ist der Groden von der öffentlichen Nutzung abgeschirmt. So konnten sich bis heute Tier- und Pflanzenwelt dort nahezu ungestört entwickeln. Im städtischen Landschaftsrahmenplan von 1999 ist der gesamte Voslapper Groden außerhalb der genutzten Flächen als naturschutzwürdiger Bereich bzw. besonders geschützter Biotop (§28 Nds. Naturschutzgesetz, s. Kasten) verzeichnet. Diese Flächen „bilden die größten zusammenhängenden naturnahen Biotopkomplexe des Stadtgebietes mit einer für Wilhelmshaven außergewöhnlich hohen Artenvielfalt und Vorkommen zahlreicher gefährdeter Tier- und Pflanzenarten.“ (Landschaftsrahmenplan S. 73)
Das muss die Wirtschaft zunächst nicht beunruhigen, denn die gesamte Fläche ist sowohl im städtischen Flächennutzungsplan von 1974 als auch im niedersächsischen Raumordnungsprogramm von 1994 als Vorrangfläche für Industrie vorgesehen. Das birgt auch für WZ-Kommentator H. J. Schmidt „Beruhigendes“. Nicht ohne Schadenfreude resümiert er (13.1.2001): „Auf den für industrielle Belange aufgespülten Flächen gibt es allenfalls einen Naturschutz auf Zeit. Das ist gut zu wissen im Zusammenhang mit Überlegungen zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung Wilhelmshavens.“ Im Landschaftsrahmenplan findet sich eine andere Lesart: „Mit der Inanspruchnahme durch bauliche Anlagen, Industrie und Gewerbe geht in der Regel ein völliger Lebensraumverlust der dort siedelnden Arten und Lebensgemeinschaften einher … Besonders gravierend werden sie sich auf den Gesamtartenbestand in Wilhelmshaven bei Inanspruchnahme der großräumigen naturnahen Bereiche im Rüstersieler und Voslapper Groden auswirken.“ (ebenda S. 85 f.)
Der Landschaftsrahmenplan wurde vom selben Rat der Stadt verabschiedet, der auch Planungen für den Containerhafen und damit neue industrielle und gewerbliche Nutzungen im Voslapper Groden vorantreibt.
Nun leben wir aber nicht mehr nur in Deutschland, sondern in Europa. Die europäische Union hat eine Vogelschutzrichtlinie erlassen, die für alle Mitgliedstaaten bindend ist (79/409/EWG).
Im Frühjahr 2000 haben sechs VogelkundlerInnen aus Wilhelmshaven und Oldenburg erstmals den Voslapper Groden flächendeckend auf sein Brutvogelinventar hin untersucht. Dabei wurden 54 Brutvogelarten im Untersuchungsgebiet festgestellt. Hiervon stehen 10 Arten auf der Roten Liste der in Deutschland gefährdeten Brutvogelarten, 18 von ihnen sind auf der niedersächsischen Roten Liste aufgeführt. Dazu zählen u. a. die Rohrdommel, die Rohrweihe, das Tüpfelsumpfhuhn, der Schilfrohrsänger, der Neuntöter, die Bartmeise und das Blaukehlchen. In ganz Niedersachsen brüten schätzungsweise nur noch 500 Blaukehlchenpaare – davon kommen allein 91 (18%) im Voslapper Groden vor, der damit zu den fünf wichtigsten Brutgebieten dieser Art in Niedersachsen zählt. Für die Bartmeise ist der Groden das viertgrößte Vorkommen Niedersachsens. Da besonders empfindliche Bereiche nur vom Rand aus kartiert wurden, sind die ermittelten Zahlen nur Mindestzahlen, d. h. der tatsächliche Vogelbestand ist wahrscheinlich noch größer. Insgesamt ist der Voslapper Groden als Brutgebiet internationaler Bedeutung bzw. als „Important Bird Area“ nach der EU-Vogelschutzrichtlinie einzustufen und müsste demnach (laut Vogelschutzrichtlinie) vom Land nach Brüssel gemeldet werden.
Eine akute Gefährdung bestünde erst dann, wenn der JadeWeserPort realisiert und westlich davon die erwarteten Folgeansiedlungen umgesetzt würden. Dann ist auf jeden Fall eine Umweltverträglichkeitsprüfung bzw. eine Ausnahmegenehmigung von der Vogelschutzrichtlinie der EU erforderlich. Die Ausnahme kann jedoch nur erteilt werden, wenn das schutzwürdige Gebiet zuvor in Brüssel gemeldet wurde. Dem Land Niedersachsen liegt die vogelkundliche Studie vor. Bislang hat es das schutzwürdige Gebiet jedoch nicht gemeldet. Falls es tatsächlich zu industriellen Folgeplanungen käme, würden die Probleme nicht durch die Vögel entstehen, sondern durch dieses Versäumnis.
Vogel Strauß zahlt sich nicht aus
Wenn ein offiziell gemeldetes Vogelschutzgebiet für wirtschaftliche Nutzung beansprucht werden soll, gibt es natürlich ein aufwändiges Verfahren, um eine Ausnahmegenehmigung für diese Nutzung und damit weitgehende Zerstörung der Naturflächen zu erhalten. Wer jedoch annimmt, durch Unterschlagung eines Schutzgebietes gegenüber der Europäischen Gemeinschaft das Verfahren umgehen zu können, irrt gewaltig. Es nützt nichts, wie der sprichwörtliche Vogel Strauß den Kopf in den (Jade-)Sand zu stecken in der Hoffnung, die EU würde nicht merken, dass ein Mitgliedsstaat oder dessen Bundesland eine (gemeinsam verabschiedete!) Richtlinie durch ein Hintertürchen umgehen will.
In seinem Urteil vom 7.12.2000 (Aktenzeichen C-374/98) hat der Europäische Gerichtshof ein sehr weitreichendes Urteil zu möglichen Eingriffen in faktischen EU-Vogelschutzgebieten getroffen (also solchen, die noch nicht gemeldet sind, aber die Kriterien der Richtlinie eindeutig erfüllen). Gegen Frankreich hat er festgestellt, dass für solche Gebiete eine totale Veränderungssperre besteht, solange sie vom Mitgliedsstaat nicht gemeldet wurden. In Niedersachsen sind u. a. die größten Blaukehlchen-Brutgebiete nur teilweise oder noch gar nicht gemeldet.
Zitat aus einer Debatte des niedersächsischen Landtags (zu einem Vogelschutzgebiet auf der geplanten Trasse der A20): „Man täte sich wesentlich leichter, wenn dort keine Ausweisung erfolgen würde; denn mit einem faktischen Schutzgebiet könne man wesentlich leichter umgehen.“ Eben nicht, siehe oben. Landwirte, Straßenbau und Wirtschaft, die allerorten erbitterten Widerstand gegen die Vogelschutzrichtlinie leisten, provozieren ein Problem, das nicht nur ein Eigentor ist, sondern nachher alle Steuerzahler treffen wird. Denn neben der Veränderungssperre verhängt der Europäische Gerichtshof für Verstöße gegen die Richtlinie saftige Geldstrafen, die bis zur Nachbesserung täglich sechsstellige Summen betragen können.
Wenn Land und Bund ihre Hausaufgaben schon nicht ordentlich machen, dann hoffentlich die Naturschutzverbände, indem sie beim EU-Gerichtshof eine Klage gegen die Bundesrepublik anstrengen.
Imke Zwoch
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