Wilhelm Tell
Okt 112007
 

Schweizer Terroristen

Wilhelm Tell 2

Wie aktuell ist Wilhelm Tell?

(iz) „Theater für Demokratie“ lautet das Motto der aktuellen Spielzeit der Landesbühne. Den Auftakt bildete „Wilhelm Tell“, den Regisseur Christian Hockenbrink und Dramaturg Hauke Bartel angenehm kompakt und zeitlos in Szene setzten. Wir wären in der Schulzeit froh gewesen, einen Klassiker in dieser Form präsentiert zu bekommen. Doch welchen aktuellen Anlass kann und darf man dazu in Bezug setzen?


Wilhelm Tell 1Die Story sollte allen seit der schulischen Mittelstufe bekannt sein: Tell erledigt den Tyrannen, das Volk den Rest. Die erforderliche Kürzung der in Umfang und Ausstattung bombastischen Vorlage ist dabei außerordentlich gelungen, da ist keine Requisite, kein Textschnipsel und keine Person zuviel, die nicht für Darstellung und Verständnis der wesentlichen Handlungsstränge erforderlich wäre. Nicht einmal „durch diese hohle Gasse …“ durfte das Publikum mitwispern – kennt sowieso jede/r, kann man also getrost weglassen. Selbst der Apfelschuss und weitere Gewalttätigkeiten blieben der Phantasie der Zuschauer überlassen. Die Bühne: ein irgendwie konspirativer Raum, dreckige Schaufenster, mit Zeitungen zugepappt. Dort wird auch der Rütlischwur geschworen, da braucht es keine opulenten Berggemälde, es reicht eine minutenlange Klangkulisse, ein beachtliches Pfeif- und Krächzkonzert der Darsteller, um zu spüren: Ich glaub, ich bin im Wald.
Großen Wert legte man beim Einstudieren des verbliebenen Textes auf das typisch Schillersche Versmaß (war das nicht der fünfhebige Jambus?), mit wohlklingendem Ergebnis. „Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muss, in Versen wenigstens anfänglich konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird“, schrieb Schiller einmal an Goethe. Na ja, so platt ist die Geschichte eines Freiheitskampfes auch wieder nicht.
Eine gewisse Gewichtung kommt durch den jeweiligen Rotstift freilich schon zustande; hier stand eher der Bürgeraufstand als der traurige Einzelheld im Mittelpunkt, was auch in Ordnung geht. Denn tatsächlich ist Schillers Tell eher zufällig am Freiheitskampf des Schweizer Volkes beteiligt. Nicht politisches Bewusstsein, sondern persönliche Rache ist sein Motiv, den ätzenden Landvogt Gessler um die Ecke zu bringen, der ihn zwang, auf den eigenen Sohn zu schießen. Besonders deutlich wird dies noch im (hier komplett gestrichenen) letzten Auftritt: Der Herzog von Österreich sucht, nachdem er den Kaiser erschlagen hat, Zuflucht bei Tell, in dem er einen Gleichgesinnten wähnt. Von wegen! Tell setzt ihn vor die Tür: „Darfst du der Ehrsucht blut’ge Schuld vermengen mit der gerechten Notwehr eines Vaters?“ Nur Heim und Herd zu schützen und dafür auch zu morden, findet Tell okay. Politische Umstürze sind nichts für das schlichte Gemüt (überzeugend dargestellt von Daniel Scholz). Seine Mitbürger haben derweil die Zwingburgen der Habsburger Tyrannen gestürmt, und man möchte gar nicht wissen, wie viel Blut dabei vergossen wurde. Tells Attentat allein hätte die Zwangsherrschaft vermutlich nicht besiegt.
Ausgelöst wurde der Aufstand erst durch Frauen wie Gertrud Stauffacher (radikal: Katrin Hilti) und Berta von Bruneck, die den Männern ins Gewissen redeten. Sie selbst mussten allerdings noch gut 600 Jahre warten, um von der errungenen Freiheit zu profitieren: Das Wahlrecht erhielten die Schweizerinnen erst 1971 – durch eine Volksabstimmung der männlichen Bevölkerung, die allerdings nicht in allen Kantonen damit einverstanden war. Gegen deren bleibenden Widerstand erhielten die Appenzeller Frauen das Wahlrecht sogar erst 1990.
Was die handwerkliche Umsetzung der Landesbühne betrifft, können wir unserem dicken Lob nichts mehr hinzufügen. Wenden wir uns also der Botschaft zu. Da platzte der Tell direkt in die mediale und politische Auseinandersetzung um „30 Jahre deutscher Herbst“. Bezeichnend ist, dass der von Schiller erzählte und heroisierte Tyrannenmord seit 200 Jahren gesellschaftlich akzeptiert ist. In der Rütliszene legt Schiller der Gestalt des Werner Stauffacher seine Auffassung des individuellen und kollektiven Widerstandsrechts gegen die Tyrannei in den Mund:
„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, | wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, | wenn unerträglich wird die Last – greift er | hinauf getrosten Mutes in den Himmel, | und holt herunter seine ew’gen Rechte, | die droben hangen unveräußerlich | und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – | Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, | wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr | verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – | Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen | gegen Gewalt […]“
Seit der Uraufführung 1804 gab es keinen grundlegenden Widerstand gegen diese Auffassung, mit Ausnahme der Nazis, die Tell und Stauffacher anfangs auch heroisierten, aber 1941, nach diversen Attentaten auf Hitler, das Stück verboten.
Was hat das nun mit dem „deutschen Herbst“ zu tun? Wir wollen hier nicht das Fass aufmachen, ob Motive und Methoden der RAF für eine gesellschaftliche Veränderung „richtig“ oder „falsch“ waren. Der Tell verleitet aber – und das soll Theater ja auch – zu gedanklichen Spielereien um den aktuellen Bezug, und dieser drängt sich nun mal auf, wenn Köhler, Aust, BILD & Co. einen wochenlang mit eher lauwarm aufgewärmten Infos zum „heißen Herbst“ konfrontieren. Mit unterschiedlicher Tiefenschärfe, aber klarem Konsens: Baader und Co. handelten nicht aus politischen, sondern aus niedrigen Beweggründen. Ihre Opfer werden bis heute zu Helden stilisiert, die sich jeder Kritik entziehen, fantastische Menschen waren und nur das Beste für das deutsche Volk wollten. Dass das nicht stimmt, gibt zwar keinem das Recht, sie umzubringen, aber diese Schwarz-Weiß-Malerei ist unerträglich. Wenn die RAF-Leute „normale“ Mörder waren bzw. sind, dann waren auch ihre Opfer ganz „normale“ Menschen mit Stärken und Schwächen. Deren Hinterbliebene sind nicht bemitleidenswerter als jene, die durch Mord aus Habgier oder Rache Verwandte oder Freunde verloren haben. Und das Gnadengesuch der Mörder ist nicht weniger gnädig abzuhandeln als das eines Sexualstraftäters, der drei unschuldige Kinder auf dem Gewissen hat. Alles andere signalisiert: Die toten Kinder sind weniger „wertvoll“ als ein Arbeitgeberpräsident oder Generalbundesanwalt, und dessen Witwe hat ein größeres Anrecht, zu leiden und deshalb Haftverlängerung zu fordern, als deren Eltern. Wenn dies der Fall ist, darf sich unsere Gesellschaft nicht humanistisch nennen.
In der herrschenden Denkart ist Wilhelm Tell keinen Deut „besser“ als jemand, der aus Eifersucht mordet, denn auch bei ihm waren persönliche Gründe das Motiv. Doch ab wann „legitimieren“ politische Gründe jemanden, einen anderen umzubringen? Wer bestimmt „die Grenze der Tyrannenmacht“? Wer ist ein Held des Freiheitskampfes und wer ein Terrorist? Über 600 Jahre nach Stauffacher ging Stauffenberg (sic!) als Held in die Geschichte ein, dessen Attentat auf Hitler, wäre es geglückt, Schlimmes verhindert hätte. Was waren seine Motive? Grundsätzlich stand Stauffenberg zum Nationalsozialismus, hier bestieg er seine Karriereleiter. Allein dessen Auswüchse wie Deportationen, Besatzungspolitik und systematische Vernichtung der Juden trieben ihn in den Widerstand. Dessen Erfolg hätte ihm zu einiger Macht verholfen – sein Motiv war nicht allein altruistischer Art.

DemokratieZugegeben: Ein weiter Schlenker, der gestattet sei – Theater soll das Denken anregen. Theater für Demokratie: Wer sich gar nicht erst damit auseinandersetzen will, wann Blutvergießen seine Berechtigung hat, der sollte viel früher damit anfangen, Demokratie zu leben. Den Mund aufmachen, Verbündete suchen, die miteinander laut für Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde eintreten. „Das Medium Theater ist unersetzlich“, so Intendant Gerhard Hess vor der Premiere, um unabhängig von der (herrschenden) Politik die gesellschaftliche Entwicklung zu beeinflussen. Der Tell, so Hess, sei zur Eröffnung dieser Spielzeit besonders geeignet, entstand das Stück doch am Beginn der Moderne. Manchmal hat man das Gefühl, dass wir uns gerade wieder zu diesem Punkt zurückbewegen. Es wäre wünschenswert, dass dieses – und andere – Theaterstücke die Errungenschaften der Moderne wieder ins Bewusstsein rücken, auf dass wir sie nicht kampflos aufgeben.

Spieltermine im Stadttheater Wilhelmshaven:
Mittwoch, 17. Oktober 2007 / Freitag, 23. November 2007 – jeweils 20.00 Uhr
Sonntag, 14. Oktober 2007 / 15.30 Uhr

 

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