Bittere Realität
Junges Theater gab einen verstörenden Einblick in menschliche Beziehungen
(iz) Ein Stück über Gewalt, in dem kein einziges Mal „echte“ Gewaltszenen gezeigt werden? In einer Medienwelt, die Brutalität in allen Facetten als unterhaltsames Element ohne Ekelgrenze ausreizt, entfaltet „Nachtblind“ genau deshalb seine starke Wirkung. Es ist an der Zeit, die Toleranzschwelle wieder ganz tief zu setzen und schon junge Menschen für das Hinschauen und Eingreifen zu sensibilisieren.
Einen starken Auftakt der Theatersaison lieferte das Junge Theater mit diesem Stück über Gewalt und Sprachlosigkeit in Familie und Beziehungen. „Nachtblind“ (von Darja Stocker) soll vor allem Jugendliche (ab 14), aber auch deren Eltern und Lehrkräfte ansprechen.
Die Geschichte: Leyla macht gern auf cool und überlegen. Das lässt sie auch den sanften Moe spüren, obwohl auch sie sich zu ihm hingezogen fühlt. So ist der Flirt geprägt von schlagfertigen Wortgefechten, witzig zunächst, bis sich schnell der Wortsinn zeigt: Sprache als Waffe, als Schlagabtausch, als Gefecht eben. Leyla kennt es nicht anders. Ob Mutter, Bruder Rico oder ihr Noch-„Freund“, „der Große“: Kommunikation besteht nur in gegenseitiger Verletzung. Jede/r ist gekränkt, aber keine/r macht den Anfang, die Gewaltspirale aufzubrechen. Jede/r erwartet Interesse, Rücksichtnahme und Verständnis, ist aber selbst rücksichtslos, verschwiegen und unfähig zuzuhören.
Moe ist anders. Er fragt, er hört zu, er erzählt. Moe ist rot-grün-blind. Er kann nichts anfangen mit den Graffitis, die Leyla mit dem „Großen“ nachts an die Bahnanlagen sprüht. Doch er nimmt seine Umwelt mit allen Sinnen, die er hat, intensiv wahr und verpackt das Erlebte in so lebendige Erzählungen, dass selbst Leyla mal die Klappe hält. Ihre Sinne sind abgestumpft, sie spürt nur noch etwas, wenn es richtig weh tut.
„Der Große“ tut ihr weh. „Es ist drei Jahre her, als er mich zum ersten Mal …“ Nie spricht Leyla etwas ganz aus. Sie lässt weg, was konkret, was verbindlich sein könnte. Doch die Lücken, die entstehen, sagen viel mehr als das, was sie verschweigt. Ihre Sprache ist einerseits arm, aber doch besonders, weil auf das Wesentliche reduziert.
Ist Leyla ein Opfer der sozialen Strukturen, in denen sie lebt? Die Familie ist „gut situiert“, Vater berufstätig, Mutter selbständig als Journalistin. Sie hat es sich so schön vorgestellt, mit der erwachsen werdenden Tochter bei einem Glas Wein Frauengespräche zu führen. Aber die verweigert sich. Der Vater geht fremd. Doch statt Trost erfährt die Mutter von Leyla deswegen noch Hohn und Vorwürfe. Nimmt sie ihrerseits die Tochter in Schutz? Bruder Rico, gleichfalls seelisch gestört, knallt Leyla Obszönitäten um die Ohren, die wir hier nicht wiederholen wollen. Die Mutter interveniert nicht. Damit bestätigt sie den Sohn in seinem frauenfeindlichen Verhalten und die Tochter darin, dieses als „normal“ hinzunehmen. So kehrt Leyla immer wieder zum „Großen“ zurück, der sie immer wieder … Die Mutter denkt, „der Große“ sei doch ganz nett. Sie kann es nicht anders wissen, weil Leyla nichts erzählt. Bis sie die Blutergüsse auf dem Rücken der Tochter entdeckt. Platzt jetzt endlich der Knoten? Nein, Leyla bleibt in ihrem Schneckenhaus, den dicken Klamotten, die cool aussehen, aber in Wahrheit eine kaputte Seele in einem geschundenen Körper verstecken sollen.
Die Nicht-Kommunikation der Protagonisten zeigt eindeutig Züge des Suchtverhaltens: So, wie es ist, ist es nicht gut – aber es ist zumindest vertraut. Der Ausbruch wäre ein Aufbruch ins Bessere, aber auch Ungewohnte. Die Mutter ist hilflos, die Tochter zickig, der Sohn ein Macho: Wenigstens darauf ist Verlass.
Moe kommt aus einfachen Verhältnissen, doch die Familie hat ihm Werte vermittelt wie Selbstbewusstsein, Hilfsbereitschaft und Verständnis für die Probleme anderer. Auch er kämpft mit der Pubertät, doch seine Gedanken kreisen nicht einzig um Weltschmerz und Selbstmitleid. Graffitis mögen cool sein – Moe tüftelt zu Hause an physikalischen Experimenten. Ein Langweiler? Sein Vater lackiert Autos – und ist auch rot-grün-blind. Moe erfindet ihm ein Gerät zur Farberkennung. Leyla wirft ihm vor, er solle sein Leben nicht nach den Eltern ausrichten.
Doch Moes Leben, Denken und Fühlen hat jedenfalls eine Richtung, nicht im Kreis, sondern nach vorn. Er ist wissbegierig. Moe lässt sich von Leyla nicht täuschen, von ihren harten Attacken nicht abschrecken. Immer wieder versucht er, ohne sie aber je zu bedrängen, ihre zerbrechliche Seite zu erreichen.
Warum kann sich Leyla nicht vom „Großen“ lösen? Sie möchte beschützt werden. Doch „der Große“ nutzt seine Kraft nicht für, sondern gegen sie. Dass er namenlos und im Stück unsichtbar bleibt, macht ihn umso bedrohlicher und unkalkulierbarer. Stets hofft sie, dass er sich ändert – ohne dass sie sich ändern muss. Kann Moe sie beschützen? Körperlich nicht. Am Ende steckt er Prügel vom „Großen“ ein – vielleicht sogar, um noch besser mit Leyla fühlen zu können?
Die skizzierten Charaktere und Botschaften kommen keineswegs plakativ daher, sondern entfalten sich höchst subtil im Verlauf des Stückes. Es ergreift keine Partei für Einzelne, jede/r ist gleichsam Opfer wie Täter/in. Jede/r gestaltet – auch durch Passivität – aktiv die Umgebung mit, die sie/ihn krank macht.
Die sorgfältige Inszenierung (Dramaturgie: Carolina Gleichauf, Regieassistenz: Gabriele Kästner) mit überzeugenden Darstellern lässt ein verstörtes Publikum zurück. Überwiegend ein junges Publikum, das damit aufgerüttelt, aber nicht alleingelassen wird. So gab es nach den Aufführungen Gelegenheit zur Diskussion mit Mitarbeiterinnen des Vereins Schlüsselblume e. V. und des Frauen- und Kinderschutzhauses, die gemeinsam mit den SchülerInnen das Stück analysierten und ergänzende Informationen gaben. Sie selbst haben täglich mit Gewalt in Familie und Partnerschaft zu tun und bestätigten, dass die Darstellung auf der Bühne keineswegs übertrieben war, sondern die Erfahrungen in den Beratungs- und Hilfeeinrichtungen – leider – realistisch wiedergibt.
Das Ende des Stückes ist offen und für die Protagonisten wenig hoffnungsvoll. Doch in den Nachbesprechungen ging es eben darum, zu vermitteln, dass in der Realität jede/r dafür verantwortlich ist, das eigene Leben und das der Mitmenschen friedvoll und menschenwürdig zu gestalten. Nicht allein – Frauen und Kinder können sich körperlich nicht wehren, aber sie können und sollten sich Hilfe suchen. Wichtig sind dabei niedrigschwellige Angebote, z. B. die Möglichkeit, zunächst anonym per Telefon Kontakt zur Schlüsselblume oder vergleichbaren Einrichtungen aufzunehmen. Wichtige Botschaften der „Schlüsselblume“, um den Teufelskreis zu durchbrechen, sind „Traue deinen Gefühlen! Es ist nicht deine Schuld! Wir hören dir zu! Wir glauben dir! Wir helfen dir, dich zu wehren! Wir tun nichts gegen deinen Willen!“
Den SchülerInnen z. B. einer achten Realschulklasse war anzumerken, dass die offensive Herangehensweise an das Thema sie verunsicherte. Ihre Fragen und Wortbeiträge berührten meist nur die Oberfläche oder waren – wenn auch unfreiwillig – komisch. Doch mit dem Stück sollte erstmals eine Tür geöffnet werden, und niemand erwartete, dass Jugendliche unter dem Eindruck des Gesehenen und Gehörten sofort die Hemmungen ablegen, offen über ein Problem zu sprechen, das gerade durch Totschweigen auch unter den Erwachsenen entsteht. Oft braucht es Jahre, bis die Schmerzgrenze erreicht ist und Betroffene oder deren Freunde oder Verwandte erste Schritte unternehmen, um der Gewaltspirale zu entkommen. So weit sollte es erst gar nicht kommen. Deshalb sind auch Erwachsene gefragt, die täglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben, stets zu vermitteln, dass Gewalt nie toleriert werden darf. Gleichzeitig sollten sie wachsam sein, ihren Wahrnehmungen trauen und das Vertrauensverhältnis zu ihren Schützlingen pflegen. Als Hilfestellung gab es z. B. für Lehrkräfte begleitend zum Stück eine offene Probe von NACHTBLIND im Jungen Theater sowie Materialmappen mit Texten zum Stück und zur Inszenierung.
Mit „Nachtblind“ und dem Begleitprogramm hat das Junge Theater erneut bewiesen, dass modernes Theater eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Gestaltung unseres Lebensumfeldes spielen kann und soll.
AWO Frauen- und Kinderschutzhaus Wilhelmshaven, Tel. 04421-22234
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