Kinderwohngeld
Okt 112007
 

Eine neue Sozialleistung „made in Wilhelmshaven“

(noa) Unser Artikel „Amtsmissbrauch“ in Ausgabe 228 veranlasste einen aufmerksamen Leser und Mitbürger zum Handeln: Er erstattete bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg Strafanzeige gegen die Geschäftsführung des Job-Centers Wilhelmshaven wegen Verdachts des Betruges.

Betrug?

Unter Bezugnahme auf den o.a. Gegenwind-Artikel schrieb der Kläger: „Das Job-Center Wilhelmshaven verschafft sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu Lasten des Bundes, indem es bei Alg II-Empfängern, deren Kind(er) Kindergeld und Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss erhält (erhalten), durch Vorspiegelung falscher Tatsachen den Irrtum erzeugt, sie hätten Anspruch auf Wohngeld und seien daher verpflichtet, entsprechende Anträge auf Wohngeld zu stellen.“
Der Kläger hält diese Vorgehensweise für rechtswidrig und verweist auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 07.11.2006, wonach Eltern und minderjährige Kinder eine Bedarfsgemeinschaft bilden und aus einem Topf wirtschaften. Er nennt den ihm persönlich bekannten Fall einer allein erziehenden Mutter, deren 5-jähriger Sohn Kindergeld und vom Vater Unterhalt erhält. Diese Frau hatte die Kosten der Unterkunft vom Job-Center erstattet bekommen, Anfang 2007 aber vom Job-Center die Mitteilung erhalten, sie sei verpflichtet, Wohngeld zu beantragen.
Abschließend bittet er das Verwaltungsgericht „um Überprüfung, ob diese Vorgehensweise des Job-Center Wilhelmshaven strafbar ist“.

Argumentationshilfe vom Bauministerium

Ernst Taux von der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland hat einen anderen Weg beschritten, um herauszufinden, ob die Wilhelmshavener Erfindung des „Kinderwohngeldes“, die mittlerweile übrigens vom Job-Center Friesland und neuerdings auch von der Optionskommune Leer kopiert wird, legal oder illegal ist. Er hat einen Brief an das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geschrieben und Mitte August eine Antwort erhalten. In dieser Antwort steht eine wirklich sehr spitzfindige Herleitung dafür, dass es legal sei, das Hartz IV-Gesetz, das den Bezug von Wohngeld durch Alg II-BezieherInnen ausschließt, teilweise außer Kraft zu setzen: „Nach § 3 Abs. 3 SGB II dürfen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur dann erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann. Hilfebedürftig ist nur, wer nicht den Lebensunterhalt durch Arbeitsaufnahme oder aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern und die erforderliche Hilfe insbesondere nicht von anderen Sozialleistungsträgern erhalten kann (§ 9 Abs. 1 SGB II). Daraus folgt u.a., dass andere Sozialleistungen, wie zum Beispiel das Wohngeld, vorrangig vor den Leistungen des SGB II zu erbringen sind.“

Versteckte arme Kinder

In der Ausgabe 229 berichteten wir unter dem Titel „Kinderarmut in Wilhelmshaven“ von der Juli-Monatsversammlung der ALI, in der Michael Bättig anhand von Statistiken einen seltsamen Schwund an Kindern in Wilhelmshaven festgestellt hatte. Wir hatten gemutmaßt (sh. „Verschollen“ in derselben Ausgabe), dass dieser drastische Rückgang an Kindern und Jugendlichen im SGB II-Bezug durch den Wohngeld-Coup des Job-Centers Wilhelmshaven zu erklären sei. Das Schreiben des Bauministeriums an Ernst Taux bestätigt diese Mutmaßung. Es heißt dort nämlich weiter: „Die dem Haushalt der Eltern oder eines Elternteils angehörenden Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, gehören nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nur dann zur Bedarfsgemeinschaft, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können. Offensichtlich reichen die Einnahmen der Kinder in dem von Ihnen geschilderten Fall zur Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung des zu erwartenden Wohngeldes aus, so dass die vorrangige Sozialleistung Wohngeld beantragt werden muss.“ Die Kinder, die nur durch den Wohngeldbezug aus der Bedarfsgemeinschaft herausfallen, sollen also Wohngeld beantragen, weil sie nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehören? Wie war das mit der Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt?

Sag mir, wo die Kinder sind

Ganz unabhängig von Gegenwind-Lektüre oder Besuch von ALI-Versammlungen stieß jemand ganz anderer auf den Kinderschwund in Wilhelmshaven. Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) fand dieselben statistischen Angaben wie Michael Bättig – und fragte sich ebenfalls, wo die Kinder geblieben sind. Ihm fiel außerdem ein dem Wilhelmshavener Phänomen ähnlicher Vorgang im Kreis Friesland auf: „20,6 Prozent (535) weniger Kinder unter 15 in Hartz IV bei einer lediglich um 1,1 Prozent (68) gesunkenen Zahl von Arbeitslosengeld II-Empfänger/innen. (…)
Kein anderer Kreis in der Bundesrepublik Deutschland kann derart positive Zahlen zur Entwicklung der Zahl der Kinder unter 15 in Hartz IV präsentieren wie die beiden benachbarten niedersächsischen Kreise an der deutschen Nordseeküste. Im Bundesdurchschnitt nahm die Zahl der Kinder unter 15 in Hartz IV von März 2005 bis März 2007 um 2,4 Prozent zu (!), während die Zahl der Arbeitslosengeld II-Empfänger/innen um durchschnittlich 0,8 Prozent abnahm.“ Und Schröder fragte bei der Bundesagentur für Arbeit nach, wie sich dieses statistische Wunder erklärt.

Kein statistisches Wunder

Und da erfuhr er: „Die Daten der Kreise Wilhelmshaven (Stadt) und Friesland seien als plausibel und einzustufen. Ursache für die deutliche Senkung der Zahl der Kinder unter 15 in Hartz IV, bei nahezu unveränderter Zahl der Arbeitslosenheld II-Empfänger/innen seien ‚Verfahrensänderungen im operativen Geschäft’.“
So kann man Tricks zur Verschleierung von tatsächlicher Armut natürlich auch nennen! Schröder rechnet damit, dass andere Kreise dem Vorbild von Wilhelmshaven und Friesland folgen werden (womit er Recht hat – s.o.: Leer macht es jetzt auch schon so) und rät den Kreisen, die sich diese „best practice“ zu eigen machen wollen, dazu, „dann doch zumindest jene Fehler“ zu „vermeiden, die den beiden Kreisen bei ihren ‚Verfahrensänderungen im operativen Geschäft unterlaufen sind`.“

Statistischer Pfusch

Anhand der Zahl der erwachsenen Alg II-Berechtigten und der Zahl ihrer Kinder kann man die Zahl der armen Kinder ja immer noch berechnen – sie tauchen nur in den offiziellen Angaben nicht auf. „Und merkwürdig auch: Von den Kindern unter 18 in Hartz IV sollen im März 2007 in der Stadt Wilhelmshaven lediglich 61,0 Prozent und im Landkreis Friesland lediglich 67,8 Prozent unter 15 Jahre alt gewesen sein. Im Bundesdurchschnitt waren dies etwa 85,2 Prozent.“
Und der zweite Fehler: „In der Stadt Wilhelmshaven wurden laut Statistik der Grundsicherung für Arbeitssuchende im März 2007 bei einem Bestand von 1.146 SGB II-Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender in nur noch 17,3 Prozent (198) dieser Bedarfsgemeinschaften Einkommen aus Unterhalt angerechnet. Im April 2006 war dies in 53,7 Prozent (578) von 1.077 SGB II-Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender der Fall. Ähnlich stellt sich dieser ‚Schwund’ (…) im Landkreis Friesland dar. Im März 2007 wurde nur in 25,8 Prozent (230) von 892 SGB II-Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender Einkommen aus Unterhalt angerechnet. Im April 2005 war dies in 62,2 Prozent (559) der 899 Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender der Fall.“

Legal, illegal?

Schröder fand eine mögliche Erklärung für den Kinderschwund in den hiesigen Statistiken, die nach unseren Erkenntnissen nicht zutrifft; er vermutet, die Kinder wurden von hilfebedürftigen Müttern zu nicht hilfebedürftigen Vätern „umgebucht“. Er hatte vor seiner Ausarbeitung offenbar noch nichts vom Wilhelmshavener Kinderwohngeld gehört.
Ob dieses nun legal oder illegal ist, wissen wir immer noch nicht. Vielleicht wird ja die Klage des o.g. aufmerksamen Bürgers irgendwann einmal zur Aufklärung dieser Frage führen – hoffentlich bleibt er am Ball!

 

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