Revolution light
Zwischen Untertanengeist und Widerstand: Landesbühne inszeniert 100 Jahre deutsche Sozialgeschichte
(iz) Auf den ersten Blick haben „Der Biberpelz“ von 1893 und „Die fetten Jahre sind vorbei“ von 2004 wenig gemein. Tatsächlich widmen sich beide Stücke den gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen ihrer Zeit. Beide haben mit deutscher Befindlichkeit und das eine aktuell ziemlich viel mit Wilhelmshaven zu tun.
Derzeit feiern wir 90 Jahre Novemberrevolution und Matrosenaufstand in Wilhelmshaven, was gleichzeitig heißt: 90 Jahre Ende der Kaiserzeit und Beginn eines demokratischen Deutschland. Als Gerhard Hauptmann seinen „Biberpelz“ schrieb, lag vor ihm und seinem Publikum noch ein Vierteljahrhundert kaiserliche Diktatur. Schon mit „Die Weber“ hatte sich Hauptmann unter den Kaisertreuen keine Freunde gemacht. Die preußische Zensur witterte darin einen Aufruf zum Klassenkampf und verbot die öffentliche Aufführung – bis der Autor erklärte, das Drama sei nicht als sozialdemokratische Parteischrift, sondern als dichterischer Aufruf an das Mitleid der Besitzenden zu verstehen. Sozialdemokratische Kreise zeigten sich bei der Aufführung im Oktober 1893 begeistert, Kaiser Wilhelm II. jedoch kündigte erbost seine Loge im Deutschen Theater.
Vorsorglich verpackte Hauptmann den nächsten Zündstoff formal in eine „Diebeskömodie“. Die Zensur fiel darauf herein und urteilte im März 1893: „Kleinmalerei ohne alle Handlung von Belang, welche in solcher Ausdehnung nur langweilt. […] Daß das öde Machwerk mehrere Aufführungen erleben dürfte, steht kaum zu erwarten.“ Tatsächlich fand das Stück beim Publikum zunächst keine Gnade. Erst die Inszenierung in Wien 1897 brachte den Durchbruch.
Worum geht’s? Mutter Wolffen hat alle Hände voll zu tun, sich, ihre zwei pubertierenden Töchter und den meist antriebs- und arbeitslosen Gatten durchzubringen. Weil mehrere kleine Familienjobs nicht reichen, nutzt sie jeden Zuverdienst – nicht immer ganz legal, seien es kleine Diebstähle oder Wilderei. Für sie ist es nur ein etwas krummer Weg zu ihrem erklärten Ziel: dem sozialen Aufstieg. Ihren Charme und ihre vielfältigen Kontakte weiß sie dabei klug zu nutzen. Vor dem Amtsvorsteher muss sie sich kaum fürchten: Der ist so beseelt von der Hatz auf Sozialdemokraten, dass er für Kleinkriminelle bzw. durch sie Geschädigte weder Zeit noch Auge hat …
Einigen Zuschauern und Kritikern war die Inszenierung der Landesbühne zu klamottig, die Protagonisten zu stark karikiert. Doch ist es genau diese harmlose Fassade, hinter der Hauptmann die autobiografischen Züge von Handlung und Figuren verstecken wollte. Für Mutter Wolffen stand Hauptmanns damalige Aufwartefrau Modell. In dem Literaten Dr. Fleischer stellt Hauptmann, der während seines Aufenthaltes im Berliner Vorort Erkner wegen sozialdemokratischer Neigungen bespitzelt wurde, sich selbst dar. Der aufgeblasene Amtsvorsteher von Wehrhahn fand sein konkretes Vorbild im Erkner Amtsvorsteher Oscar von Busse, mit dem Hauptmann einige unangenehme Begegnungen hatte. Die öffentliche Ablehnung der „Weber“ durch die Repräsentanten des Kaiserreiches reizte ihn, einen typischen Vertreter dieses Regimes mit dem aufgeblasenen Amtsvorsteher bloßzustellen. In Ihm spiegelt sich die Mentalität der Beamtenschaft: beschränkte Verwaltungswillkür, lächerlicher Gehorsam und starre Obrigkeitsgläubigkeit. Auf der einen Seite steht der Wunsch nach Aufstieg und sozialer Verbesserung des Kleinbürgertums, auf der anderen Untertanenmentalität der Polizeibeamten und das System, in dem man ungeliebte Freidenker verfolgt, die gegen die staatlichen Institutionen ihre Meinung äußern. Dies System verlangt von den Beamten, mehr auf politisch unliebsame Meinungen und Verhaltensweisen zu achten als auf Kriminalität und des Strafrecht.
Kaiser Wilhelm II. schätzte den „sozialdemokratischen“ Dichter nicht und warf ihm viele Steine in den Weg. Dabei war Hauptmann kein echter Revolutionär, sondern erwies sich im Laufe seines Künstlerlebens als ausgesprochener Opportunist, womit er gleichzeitig das Verhältnis der Kunst zu Politik und Gesellschaft über mehrere Epochen bewegter deutscher Geschichte widerspiegelt.
Auch die Nazis verachteten Hauptmanns Werke, wollten jedoch dessen Ansehen in der Bevölkerung für ihre Zwecke nutzen. Wie schon 40 Jahre zuvor, musste sich Hauptmann mit staatlicher Zensur auseinandersetzen (u. a. wurde die Verfilmung des Biberpelz zensiert). Und wie schon zur Kaiserzeit machte es Hauptmann nichts aus, mit Vertretern erzkonservativer Kreise zu verkehren, obwohl er deren politische Gesinnung in seinen Dramen bloßstellte. Er ließ sich von den Nazis feiern, obwohl er von den Verbrechen im Dritten Reich wusste. Der ungarische Literaturkritiker Georg Lukács nannte Hauptmann später den „repräsentativen Dichter des bürgerlichen Deutschlands“, womit er jedoch nicht Hauptmanns hervorgehobene Stellung unterstrich. Vielmehr drückte er damit seinen Unmut gegenüber Hauptmanns Wankelmütigkeit und geringer Verwurzelung an seine „revolutionären Anfänge“ aus.
Heute müssen kritische Autoren in Deutschland keine totalitäre Zensur mehr fürchten. Befremdlich ist, dass sie sich mit vergleichbaren Themen beschäftigen: Immer noch und wieder versteht es die herrschende Kaste, ihren Status mit Hilfe staatlicher Instrumente zu sichern. Mit der Inszenierung von „Die fetten Jahre sind vorbei“ legt die Landesbühne den Finger in eine klaffende Wunde. Der gleichnamige erfolgreiche und preisgekrönte Film (uraufgeführt in Cannes 2004) wurde 2005 von Gunnar Dreßler für die Bühne adaptiert. Filmregisseur Hans Weingartner stellte die konkrete Frage: „Wie kann ich als junger Mensch, hier und jetzt, am Zustand der Welt etwas ändern?“ Diese Frage stellte die Landesbühne im Vorfeld der Umsetzung am Theater auch jungen Menschen in Wilhelmshaven. Die Antworten sind auszugsweise an einer Pinnwand im Foyer des jungen Theaters ausgestellt. Falls sie repräsentativ sind, sind sie erschütternd: Derzeit ist mit der jungen Generation keine Revolution, ob im Kleinen oder Großen, zu machen. Die Befragten haben entweder keinen Mut, etwas zu ändern, oder keine Zeit, weil sie durch Schule, Karriere oder anderes ausgebucht sind …
Feine Details zeichnen die Inszenierung der „Fetten Jahre“ aus: „Wir sind die Guten“ steht auf Hardenbergs Shirt – wer? Die jungen Anarchisten – die 68er – oder seine heutige Kaste des Kapitals? (Foto Landesbühne)
Worum geht’s im Stück? Jan und Peter wollen Zeichen setzen gegen Kapitalismus und Konsumwahn. Sie brechen in herrschaftliche Villen ein, ohne etwas zu stehlen – sie wollen nicht ZERstören, sondern VERstören, häufen die Besitztümer symbolisch auf und hinterlassen Nachrichten wie „Die fetten Jahre sind vorbei – die Erziehungsberechtigten“. Peters Freundin Jule muss unentwegt jobben, weil sie fast 100.000 Euro an den reichen Julius Hardenberg abstottern muss, dessen Mercedes sie bei einem Unfall geschrottet hat. Als sich die Gelegenheit ergibt, Hardenbergs Villa zu stürmen, ist Jule mit im Spiel. Als der Eigentümer unerwartet auftaucht, bleibt nur, ihn zu kidnappen. In einer abgelegenen Berghütte entspinnen sich aufschlussreiche Dialoge zwischen Entführern und Entführtem, der sich als Ex-68er outet …
Zur Inszenierung der Landesbühne ist wenig zu sagen, nämlich: Brillant umgesetzt, überzeugend gespielt. Absolut sehenswert! Schon in der Vorbesprechung mit der Presse zeigte sich: Hier bietet sich Diskussionsstoff über die deutsche Geschichte der letzten 40 Jahre. So wurde z. B. deutlich, dass von den freiheitlichen Vordenkern der 1960er Jahre kaum etwas haften geblieben ist – dank Politik und Medien, die bis heute bemüht sind, im kollektiven Gedächtnis nur die Zeit der RAF zu bewahren, Widerstand mit Terror und Kriminalität gleichzusetzen. Das Stück zeigt, was heute geblieben ist: eine Jugend, die sich nicht mehr zu helfen weiß, die zwar ihren Protest zum Ausdruck bringt, aber eine Änderung des Systems nicht ernsthaft in Betracht zieht.
Das Stück bietet eine großartige Chance, die jüngste deutsche Geschichte umfassend aufzurollen und vor allem junge Zuschauer zu ermutigen: im wirklichen Leben nicht nur Zuschauer zu bleiben, sondern an die Aufbruchstimmung der 68er anzuknüpfen und sich aktiv und konstruktiv in die Entwicklung einer besseren Gesellschaft einzubringen..
„Der Biberpelz“ im Stadttheater: Mi., 26.11.2008, / 20 Uhr, Fr., 19.12.2008 / 20 Uhr / Mi., 31.12.2008, 19 Uhr (Silvestervorstellung)
„Die fetten Jahre sind vorbei“ im Jungen Theater, Rheinstr. 91, jeweils 20 Uhr: Sa., 22.11.2008 / Mi., 10.12.2008 / Sa., 13.12.2008 / Fr., 19.12.2008, / Sa., 20.12.2008
50% Ermäßigung gegenüber dem regulären Preis erhalten Inhaber eines Arbeitslosenausweises an allen Vorverkaufstellen auf die Eintrittskarten der Vorstellungen der Landesbühne in Wilhelmshaven.
Weitere Informationen bekommen Sie im Service-Center (Virchowstr. 44, Tel. 04421 / 9401-15) im Stadttheater. ALGII-Empfänger bekommen zudem im Job-Center (Herderstr. 10, Büro der Geschäftsleitung, Zimmer 262), Eintrittskarten zum Preis von je 2 Euro für folgende Vorstellungstermine: DER BIBERPELZ von Gerhart Hauptmann Mittwoch, 16.11.2008 / 20.00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven / DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI Montag, 10.12.2008 / 20.00 Uhr / Studio, Rheinstr. 91 Wilhelmshaven
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