Gegenwind vor dem Aus?
Jun 011988
 

Gegenwind in Atemnot

Gegenwind vor der Existenzfrage. Wird die einzige Wilhelmshavener Alternativzeitung nach 10 Jahren eingestellt? Wie soll es weitergehen?

Am 12. April 1988 kündigte der bisherige Gegenwind-Koordinator Wolfgang Kuschel der Redaktion seinen Rückzug aus der vordersten Linie der Zeitungsmacher für die Zeit nach der Sommerpause an. Damit ist für den GEGENWIND die Existenzfrage gestellt. Eine Sitzungsserie unter Beteiligung interessierter politischer Gruppierungen ergab, daß durch einen Aufruf neue Mitarbeiter geworben werden sollen.

Ausgelöst wurde die Krise durch die privat begründete Entscheidung des Gegenwind-Koordinators Wolfgang Kuschel, nach fast zehnjähriger Tätigkeit seine Arbeit für diese Zeitung drastisch einzuschränken, verbunden mit einem Rückzug aus der zentralen Koordinationstätigkeit. Als sich daraufhin die Redaktionsmitglieder Rolf Biermann und Rolf Schaper diesem Schritt wegen arbeitsintensiver anderer Verpflichtungen anschlossen, suchte die Redaktionsgruppe nach einem Ausweg, da von den übrigen Gegenwind-Mitarbeitern niemand die Übernahme der Arbeit des GEGENWIND -„Zuchtmeisters“ übernehmen wollte bzw. konnte.
In der Überzeugung, daß eine alternative Zeitung in Wilhelmshaven notwendig ist, nahmen die Gegenwindler Kontakt zu Gruppen der Wilhelmshavener Linken auf, mit denen es in der Vergangenheit eine gute, teilweise jahrelange Zusammenarbeit gegeben hatte. In einem gemeinsamen Gespräch schälten sich drei Überlebensmodelle heraus: 1.) Es findet sich ein engagierter Koordinator, der bereit ist, den größten Teil seiner Freizeit in den GEGENWIND zu stecken. 2.) Grüne, Bürgerinitiative und (vielleicht) Frauenliste übernehmen rotierend die Herstellung der Zeitung. 3.) In einem Aufruf an alle Gegenwind-Leser werden neue, unverbrauchte Kräfte gesucht.
Am Dienstag-Abend, dem 24.5.88, fand die Jahreshauptversammlung des GEGENWIND-Verein/Förderkreis statt. Für die Anwesenden stellte sich die Situation folgendermaßen dar:
Sollte der GEGENWIND sein Erscheinen einstellen müssen, verschwindet ein wichtiger Bestandteil linker, politischer Kultur in Wilhelmshaven. Das Meinungs- und Informationsmonopol der WZ konnte angekratzt werden, den Herrschenden wurde ein wenig auf die Finger geklopft, und unabhängig von politischen Verbänden oder betriebswirtschaftlichen Zwängen konnte sich Diskussionsvielfalt, Pluralität und Wahrheitsfindung auch gegen den Strom entwickeln.
Wenn der GEGENWIND nach der Sommerpause nicht bruchlos übernommen wird. Zerfällt die über Jahre gewachsene Infrastruktur sicherlich schnell. Eine neue Zeitung ähnlicher Art, das zeigen andere Städte, kann später nur unter erschwerten Bedingungen entstehen. Den GEGENWIND rotierend durch unterschiedliche Parteien oder Verbände erstellen zu lassen, wird unter organisatorischen Gesichtspunkten als nicht durchführbar betrachtet. In dieser Konstellation besteht auch die Gefahr. daß der GEGENWIND zu einer langweiligen Partei- und Interessenszeitung oder zu einem Sammelordner für Flugblätter herunterkommt. Da nur die Hälfte der alten Redaktion weiterarbeiten will, ergeben sich zwei Möglichkeiten. Ein arbeitsteilig organisiertes Kollektiv oder eine Einzelperson übernimmt die frei gewordene Stelle des Chefredakteurs (verantwortlich i.S.d.P.) und des „großen Organisators“. Versuche kollektiver Pressearbeit bei der ‚taz‘ oder der italienischen ‚Repulica‘ zeigten, daß der erhöhte Arbeitsaufwand nicht durchzuhalten ist. Deshalb wird dieser ersten Perspektive nur eine geringe Chance eingeräumt. Eine Einzelperson, die die Position von Wolfgang Kuschel übernehmen würde. wäre einer erheblichen zeitlichen Belastung ausgesetzt. Zeitungsarbeit dieser Art ist immer nur freiwillige Feierabendsarbeit. Redaktionsmitglieder, Verteiler, das Finanz- und Anzeigenressort, Informanten und Kunden, alle müssen bei der Stange gehalten oder zur Stringenz ermahnt werden, weil nur. die unerbittliche Kontinuität aller einzelnen Arbeiten das regelmäßige Erscheinen dieser Zeitung ermöglicht. In der Vergangenheit erwies sich als unumgänglich, daß eine Person unter hohem Arbeitsaufwand den Überblick wahrt, die Fäden in der Hand hält und die Arbeitsteilung organisiert.
SOS GegenwindDie Zeitung GEGENWIND wird herausgegeben vom gemeinnützigen Gegenwind-Verein. Die Gemeinnützigkeit des Vereins schafft theoretisch die Voraussetzungen für die Einstellung einer ABM-Kraft, die die beschriebenen Arbeiten übernehmen könnte. Naheliegender ist dagegen, daß ein/e Wilhelmshavener/in aus dem links-alternativen Spektrum seine/ihre jetzige politische Arbeit aufgibt und die GEGENWIND-Leitung übernimmt. Diese Person wüsste, worauf sie sich mit umfangreicher politischer Arbeit einlässt, ist mit politischen Gegebenheiten vor Ort vertraut und könnte relativ schnell das Vertrauen der verbliebenen Gegenwind-Mitarbeiter, des Vereins und Informanten gewinnen. Um Zeit für Diskussionen und Überlegungen zu lassen, trifft sich die alte Gegenwind-Redaktion nach den Sommerferien am Dienstag, dem 9.8.88 um 20.15 Uhr in der Kneipe „Alter Käpt’n“. Dort sollen sich diejenigen treffen, die den Wunsch haben, die zurückgetretenen Redaktionsmitglieder bzw. den hauptverantwortlichen Chefredakteur und Organisator zu ersetzen.
Versammeln sich genügend neue Arbeitskräfte, wird gemeinsam ein Konzept der Übergabe und Einführung erarbeitet. Für Nachfragen zu diesem Themenkomplex steht bis dahin Wolfgang Kuschel zur Verfügung. Läßt sich bis zu dem oben genannten Datum kein neues Arbeitskonzept erstellen, wird auf der Versammlung des Gegenwind-Vereins am Dienstag, dem 23.8.88 in der Kneipe „Alter Käpt’n“ die Auflösung der Zeitung bekanntgegeben.

Ben Diettrich für die Redaktion

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