Schulreform
Apr 012004
 

Alles im Griff?

In Wilhelmshaven soll die Umsetzung der Schulreform ohne Probleme über die Bühne gehen

(noa) „An den Schulen beginnt die Radikalkur“, so titelte die „WZ“ am 20. März auf der Niedersachsen-Seite. Zum Beginn des Schuljahres 2004/2005 wird die Orientierungsstufe abgeschafft. Nicht nur die Kinder der 6. Klasse, sondern auch die der 5. und der 4. stehen, sofern sie zum Halbjahreszeugnis nicht die Schullaufbahnempfehlung bekommen haben, die sie sich wünschten, jetzt unter dem Druck, ordentlich ranzuklotzen.

Ordentlich ranklotzen müssen in diesem Schuljahr neben den SchülerInnen aber auch alle anderen, die mit Schule zu tun haben. Der oben genannte Artikel nennt es „ein gigantisches Raum- und Personalkarussell“, das in Gang komme. Tatsächlich läuft es in Wilhelmshaven schon seit einiger Zeit. Die Leiter und Leiterinnen der Wilhelmshavener Haupt- und Realschulen und der Gymnasien saßen gleich nach Schuljahresmitte mit den zuständigen Dezernenten zusammen. Ihnen lagen Trendmeldungen als Ergebnisse der Befragung aller Eltern von Viert-, Fünft- und SechstklässlerInnen vor. Es handelte sich dabei noch nicht um endgültige Anmeldungen (die sind wie immer erst im Juni/Juli fällig), doch man rechnet damit, dass die Zahlen in etwa stimmen werden. Auf dieser Grundlage können die einzelnen Schulen errechnen, wie viele zusätzliche Lehrkräfte und wie viele zusätzliche Räume sie benötigen werden.

Räume- nur ein kleines Problem

So wie es aussieht, wird es in Wilhelmshavens Schulen keine allzu großen Raumprobleme geben: Die beiden Gymnasien haben Räume genug für sechs bzw. acht zusätzliche Klassen. Als Wilhelmshaven noch mehr Einwohner hatte, hatten die Gymnasien mehr Klassen als derzeit, und diese Räume reichen für die 5. und 6. Klassen, die jetzt zusätzlich aufgenommen werden müssen, aus.
Anders stellt es sich an den beiden Realschulen dar: Die Agnes-Miegel-Schule hat jetzt schon nicht genügend Platz für ihre SchülerInnen und ist schon seit 2 Jahren zu Gast im Gebäude der Orientierungsstufe Salzastraße. Das ganze OS-Gebäude wird der Realschule zugeschlagen werden, und die Entfernung vom einen zum anderen Schulhaus ist auch so gering, dass die Lehrkräfte gut hin- und herwandern können. Die Freiherr-vom-Stein-Schule wird ihre ausgelagerten Klassen jedoch etwas weiter weg, in der jetzigen OS Bremer Straße nämlich, unterbringen müssen; eine Entfernung, die gerade noch erlaubt ist.
Die drei Wilhelmshavener Hauptschulen sind Teile von Schulzentren; sowohl die HS Heppens als auch die HS Bremer Straße wie auch die HS Nogatstraße haben (jetzt noch) Orientierungsstufen im gleichen Haus, deren Räume sie nach Auflösung der Orientierungsstufen werden nutzen können. Die Räume der OS Altengroden werden zunächst ungenutzt sein.
Laut Dr. Jens Graul (Schuldezernent) werden die Hauptschulen je drei, die Realschulen drei bzw. vier 5. , 6. und 7. Klassen aufnehmen. Die Punkte, an denen es zunächst quietschen wird (z.B. die Lehrkräftewanderung der Freiherr-vom-Stein-Schule) werden ihm zufolge nur noch bis Ende des Jahrzehnts schwierig sein, da die Schülerzahlen, die seit 1996 schon um 20 % zurückgegangen sind, auch noch weiter sinken werden.

Lehrkräfte – gar kein Problem?

Rein rechnerisch kostet die Schulreform keine einzige Lehrerstelle zusätzlich. Die Klassenstärken an den Hauptschulen sollen geringfügig gesenkt, dafür aber die an den anderen weiterführenden Schulen leicht erhöht werden. In Wilhelmshaven gibt es genügend Lehrkräfte für die allgemein bildenden Schulen, glaubt man den in den letzten Jahren immer wieder veröffentlichten Beteuerungen, die Unterrichtsversorgung liege bei 100 % und darüber. Das Problem mit den Lehrkräften wird kein zahlenmäßiges sein, sondern darin bestehen, dass die Kollegien von 5 Orientierungsstufen (Nogat-, Salza- und Bremer Straße, Heppens und Altengroden) auseinandergerissen werden. Diese Lehrkräfte sind entweder seit Jahren abgeordnet von anderen Schulen und gehen dorthin zurück, oder sie sind Lehrkräfte dieser eigenständigen Schulen und werden zum nächsten Schuljahr versetzt. Auf jeden Fall werden Kollegien, die seit Jahren zusammengearbeitet haben, nicht bestehen bleiben, und manchen wird die Veränderung nicht gefallen.
„Wir werden ja abgewickelt“, sagte uns Harald Bouillon, Leiter der OS Nogatstraße. Die Bitternis, die in seiner Wortwahl zum Ausdruck kommt, bezieht sich auch auf die Abwertung, die die Schulform Orientierungsstufe durch ihre ersatzlose Abschaffung erfährt. „Wir haben doch gemeinsam daran gearbeitet, das Beste für unsere Schüler zu tun.“ Nun wäre bei einem anderen Ausgang der Landtagswahl 2003 die Orientierungsstufe ja auch abgeschafft worden zugunsten der Förderstufe, und es ist schwer auszumachen, worin der Unterschied zwischen der von der SPD-Regierung geplanten Reform und der von der CDU-Regierung durchgeführten Reform genau bestanden hätte. Jedenfalls werden ab diesem Sommer die Kinder schon im zarten Alter von 10 Jahren sortiert nach „schwach“, „mittel“ und „stark“, und das widerspricht dem Gedanken der möglichst langen gemeinsamen Beschulung aller Kinder, von dem sich viele erhoffen, dass verborgene Begabungen sich zeigen, Spätzünder sich noch einkriegen oder dass leistungsstärkere die leistungsschwächeren SchülerInnen mitziehen.

Hauptschule doch Restschule?

Diese Erfahrung hat man an der katholischen Franziskusschule, die die Schulreform schon vollzogen hat (dort gibt es schon im laufenden Schuljahr je zwei 5. Haupt- und Realschulklassen) auch machen müssen. Herbert Walter, Leiter der Hauptschule Franziskusschule, berichtet von einem großen Unterschied, den seine Kolleginnen und Kollegen gegenüber den OS-Zeiten erleben. Früher haben in den 5. und 6. Klassen nicht nur die stärkeren Schüler ihre schwächeren Mitschüler getragen und mitgezogen, sondern die disziplinierteren haben die weniger disziplinierten beruhigt. Herr Walter hat das böse Wort nicht benutzt, aber es klingt schon ein bisschen so, als erlebten seine Lehrkräfte, die jetzt nicht mehr in der OS, sondern in der HS unterrichten, die Hauptschule als „Restschule“.

Eine große Belastung

Wie viel Mehrarbeit die Umsetzung der Reform während der Vorbereitungsphase gebracht hat, wollten wir von Herrn Walter wissen. Seine Schule hat die Erfahrung, die die anderen weiterführenden Schulen jetzt haben, ja schon hinter sich. Viele Konferenzen, in denen es darum ging, zu entscheiden, welcher Stoff auf welchen Niveau in welcher Schulform dargeboten wird, waren es auf jeden Fall. In den staatlichen Schulen wird es darüber hinaus Belastungen durch organisatorische Änderungen geben.
Für die GrundschullehrerInnen, die den Jahrgang 4 unterrichten, lag in diesem Schuljahr eine neue und schwierige Aufgabe an. Sie mussten ja nicht nur ihre Zeugnisnoten gut durchdenken und begründen können, sondern die Eltern ihrer SchülerInnen auch beraten. So einfach, wie das rein formal aussieht – entscheidend für die Frage, ob eine Hauptschul-, eine Realschul- oder eine Gymnasialempfehlung ausgesprochen wird, ist der Notendurchschnitt in Deutsch, Mathematik und Sachkunde -, ist das nicht: Hat man früher, um ein Kind zu größerer Anstrengung anzuspornen, eher die schlechtere Note gegeben, oder aber, um einen Fortschritt gegenüber dem Vorjahr zu belohnen und das Kind zu ermutigen, im Zweifelsfall eher die bessere, so war in diesem 4. Schuljahr die Halbjahresnote nicht nur eine pädagogische Angelegenheit, sondern hat weiter reichende Konsequenzen.
Für die Lehrkräfte der 5. Klassen war diese Entscheidung noch schwieriger zu fällen, kannten sie ihre SchülerInnen doch gerade erst 20 Wochen, als sie beurteilen sollten, für welche weiterführende Schule sie geeignet sind.

Ratlose Eltern

Dass die Wilhelmshavener Eltern ein Problem mit der Abschaffung der Orientierungsstufe haben, zeigt sich vor allen Dingen daran, dass die IGS in diesem Jahr noch mehr Aufnahmewünsche hatte als in allen vorigen Jahren. Der Besuch einer Integrierten Gesamtschule ist die einzige Chance, den 10-jährigen Kindern das Sortiertwerden zu ersparen. Doch die Kapazität der IGS reicht bei weitem nicht für alle Interessierten aus, und da sie ihre Klassen schon früher im Schuljahr zusammenstellen kann als die anderen weiterführenden Schulen, wissen jetzt auch schon alle Eltern, die ihr Kind gerne dorthin schicken wollten, ob es klappt oder nicht. Und für sie geht jetzt das Abwägen, Rumfragen, Hoffen und Resignieren los, das die, die es gar nicht erst probiert haben, schon ein paar Wochen länger haben.
Besonders schwer haben es jetzt die Grundschulkinder mit Teilleistungsstörungen. Eine Lese-Rechtschreibschwäche z.B. wird meistens erst im 3. Schuljahr diagnostiziert. Das Diagnoseverfahren und die Bewilligung einer Therapie zieht sich bis zur Mitte des 3. Schuljahrs oder sogar länger hin. Und in der Mitte des 4. Schuljahres wird dann schon die Schullaufbahnempfehlung ausgesprochen, wo das Kind doch noch einige Zeit mehr braucht, um den Rückstand aufzuholen, den es nicht etwa mangels Intelligenz, sondern nur aufgrund seiner Lernstörung hat.

Falscher Vergleich

In dem oben erwähnten WZ-Artikel heißt es: „Ziel all der Maßnahmen: Niedersachsens Schüler sollen im bundesweiten Vergleich wieder an die Spitze. Beim ‚Pisa’-Test schnitten die Nordlichter im innerdeutschen Vergleich äußerst mäßig ab. Doch während vor allem die Grünen als Konsequenz nun das Modell des europäischen ‚Pisa’-Siegerlandes Finnland favorisieren, wo alle Kinder bis zur 9. Klasse eine gemeinsame Schule besuchen, orientiert sich die CDU an Bayern und Baden-Württemberg, die auf ein streng dreigliedriges System setzen.“ Dazu sagt Herr Bouillon: „Das ist, als vergleiche sich die Kreisliga mit der Bezirksliga statt mit der Bundesliga.“

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