Sitzung am 24. März 2004
(iz) Im frühlingsbesonnten Ratssaal knisterte erotische Spannung. Bernhard Rech kassierte einen Ordnungsruf, weil er allzu öffentlich mit Ursula Aljets flirtete. Doch das war noch jugendfrei im Vergleich zu der Leidenschaft, mit der fast alle Ratsmitglieder vom Hotelneubau am Südstrand schwärmten.
Für Klaus Friedrich, der in den letzten Wochen durch eine anonyme Anzeige gegen den früheren Freizeit-WTFPG-Geschäftsführer von sich reden machte, zieht jetzt sein CDU-Parteifreund Hermann Hülzer in den Verwaltungsrat der Sparkasse ein. Sein Vertreter wird Hans-Jürgen Uphoff. Beide sind Steuerberater.
Bis zum Jahre 2010 können in Wilhelmshaven 93 ha Flächen für die weitere Siedlungsentwicklung bereitgestellt werden. In der reinen Baufläche von etwa 55 ha sind etwa 850 Wohneinheiten mit einer durchschnittlichen Grundstücksgröße von 650 m² veranschlagt. „Bei dem erheblichen Wohnungsleerstand fragt man sich, wozu wir neues Wohnbauland brauchen”, räumte Norbert Schmidt als Vorsitzender des Bauausschusses ein, nannte aber gleich die Gründe: Sowohl bauwillige Mieter als auch Neubürger sollen damit angesprochen werden, zudem wird eine innerstädtische Verdichtung angestrebt. „Auch der Infrastruktur würde es gut tun”, hofft Schmidt. Das Baugebiet Schaar West (Bebauungsplan Nr. 179) soll vorrangig umgesetzt werden, weitere Gebiete sind Heiligengroden, Nördlich Friedhof Aldenburg, Zwischen Maade und Altengroden, Fedderwardergroden Nord und Ost und Rüstersiel SVW-Gelände. Der Rat nahm die zeichnerische Darstellung des Konzeptes einstimmig zur Kenntnis.
In Altengroden soll ein neuer Lebensmittelmarkt gebaut werden. Besteht Bedarf und ist der Standort geeignet? Anwohner Michael von Teichman (FDP) hält das vorhandene Angebot (Wochenmarkt, Fleischer, Bäcker, Drogerie etc.) für ausreichend. Die CDU möchte das Ergebnis der geplanten Bürgerversammlung abwarten und würde einen Standort am Dodoweg bevorzugen. Die von der SPD favorisierte Fläche an der Werdumer Straße gehört zu einem Grüngürtel (südlich des Altengrodener Weges), der so „neu beordnet” werden soll. Derzeit befinden sich dort ein Bolzplatz und ein Kindergarten. Der soll nicht „im Hinterhof eines Supermarktes” liegen, da sind sich CDU und Jugendhilfeausschuss einig. Auch die FDP hält motorisierten Kundenverkehr in der Grünzone mit Wohnbebauung und Kindergarten für unzumutbar. Stadtbaurat Kottek sieht die Anwohner eher durch den Kinderlärm belastet. Er gab zu bedenken, dass sich am Dodoweg der Wochenmarkt und der Parkplatz für den Supermarkt ausschließen würden. Mit der Aufstellung des Bebauungsplanes für den Standort Werdumer Straße sei noch nichts entschieden, versuchte SPD-Sprecher Neumann zu beruhigen: Nichts sei demokratischer als eine Bürgerbefragung, die sollten letztlich die Entscheidung treffen. Er suchte sogar den Konsens mit seinem Lieblingsfeind: „Radfahrer von Teichman und der (faule) Autofahrer Neumann sollten sich mal vor Ort treffen.” Wie die Frühlingssonne Menschen verzaubern kann – da kriegt Neumann doch mal ein . Trotzdem konnte die Opposition nicht für den Standort Werdumer Straße gewonnen werden.
„Ein städtebauliches Highlight!”, schwärmt Dr. von Teichman vom geplanten Hotelturm am Südstrand. „Wilhelmshaven lebt – ist das eine Feststellung, eine Forderung, ein Wunsch?” Die FDP begrüßt „alle unternehmerischen Aktivitäten”, damit daraus Wirklichkeit wird. Gegenüber anderen, bis zu 270 m hohen Türmen der Stadt, z. B. dem Kraftwerksschornstein, werde das Hotel „vermutlich ein Schmuckstück werden” und „die Leute werden mehr in Wilhelmshaven investieren”. Bernhard Rech, Bauunternehmer und CDU-Ratsherrn, fasziniert die „Außergewöhnlichkeit” des geplanten Bauwerks mit 20 Vollgeschossen auf 90 m Höhe. „Wir müssen nach oben, wenn wir was sehen wollen.” Der Tiefsinn dieser schlichten Metapher scheint nobelpreisverdächtig, wird von Rech aber noch erläutert: „Wilhelmshaven schrumpft außergewöhnlich”, deswegen müssen wir ‚Wilhelmshaven nach oben‘ ganz deutlich zeigen.” Wohl erkennt Rech mögliche Auswirkungen auf das Landschaftsbild, aber „die Höhe ist gewollt”, denn „wir brauchen Highlights”. Er versucht auch Kritiker ins Boot zu kriegen: „Wir müssen sensibel mit Menschen umgehen, die so etwas noch nie gesehen haben”, und dann „können wir die Saison auf 12 Monate im Jahr ausdehnen.”
Danach schweift Rech leider etwas ab, möchte mit Ursula Aljets im neuen Hotelkomplex tanzen und Purzelbäume schlagen. Die ist geschmeichelt, muss aber das Ansinnen aus gesundheitlichen Gründen ausschlagen. Der stellvertretende Ratsvorsitzende Ehnste Lauts beendet das Techtelmechtel: „Herr Rech, zukünftig im öffentlichen Teil keine Liebeserklärungen!” Was sich auf Frau Aljets, nicht aber den Wolkenkratzer bezieht. Alle stimmen in das Hohelied des Hotelismus ein, selten genug herrscht im Rat solch eine Stimmung, wie bei der Love Parade. Alle? Fast alle. Roland Rath muss seinen Gastronomiebetrieb für den Hotelgiganten räumen. Joachim Tjaden (Walli) befürchtet Konflikte mit der Hafenwirtschaft – denn ab der 12. Etage soll das Hotel in Eigentumswohnungen übergehen. Eine neue Entwicklung, mit der auch der Bauausschuss unlängst überrascht wurde. Vermutlich soll der Verkauf der Wohnungen die Finanzierung des Objektes sichern – angesichts einer Auslastung der eingesessenen Wilhelmshavener Hotels von 43%, sinkenden Gästezahlen und einem weiteren Hotel-/Wohnungsneubau an der Wiesbadenbrücke nahe liegend.
Trotzdem freut sich SPD-Sprecher Neumann über die breite begeisterte Zustimmung: „Die Wilhelmshaven-Fraktion funktioniert!”, und fasst zusammen: „Investoren investieren nicht dort, wo wir es wollen, sondern wo sie Geschäfte erwarten. Das Hotel wird Arbeitsplätze schaffen und die Stadt insgesamt beleben.” Last not least meldete sich der Oberbürgermeister zu Wort: Neue Bauten und der JadeWeserPort würden neue Menschen in die Stadt bringen. Deshalb sollten Kritiker „neue Dinge nicht gleich mit negativer Kritik und Leserbriefen überziehen.” Die erforderliche Änderung des Flächennutzungsplans wurde mit einer Enthaltung (Tjaden) und einem Stimmverzicht (Rath) verabschiedet. Der Entwurfsbeschluss zum Bebauungsplan wurde wegen der neu hinzugekommenen Wohnraumnutzung vertagt.
Bernhard Rech zum geplanten Hotelturm am Südstrand
Nun wurde es aber Zeit, damit die Fördermittel nicht gestrichen werden: Die Satzung zum Bebauungsplan 214 „Technologiepark (ehemalige Marineanlage Bant)” wurde beschlossen.
Wo früher die Grundschule Coldewei war, gibt’s jetzt Wohnungen, die von der Größe her auf Singles oder ältere Menschen zugeschnitten sind. Die Planstraße im Bebauungsplan sollte erst „Usedomer Straße” heißen, was sich „geografisch-thematisch in das System der Straßennamen Himmelreich-Coldewei” einfügt. Jetzt entschied sich der Rat aber doch für den „Coldeweier Schulweg”.
Kaum einer außer dem Holding-Manager Wolfgang Frank blickt noch durch das von ihm geschaffene Geflecht städtischer Tochtergesellschaften, mit denen er laufend neue Ableger zeugt. Jetzt beschloss der Rat einstimmig die Gründung der „Wilhelmshavener Entsorgungszentrum und Logistik GmbH” (WEL). Die soll das neue Entsorgungszentrum im Heppenser Groden bauen und betreiben. Die FDP im Rat, stets misstrauisch gegenüber der Privatisierung städtischer Aufgaben, ließ sich überzeugen, dass bei den erforderlichen Bauaufträgen die öffentlichen Vergaberichtlinien eingehalten werden. „Schön, dass die FDP zustimmt”, zeigte sich Ratsvorsitzender Norbert Schmidt abermals begeistert über die ungewohnte Einigkeit der politischen Gruppen in dieser denkwürdig friedlichen und deshalb kurzen Ratssitzung.
Eine Umstrukturierung wurde bezüglich der Hafenbetriebsgesellschaft Verwaltungs-GmbH beschlossen. Die Stadtwerke-Verkehrsgesellschaft Wilhelmshaven GmbH, bisher deren alleinige Gesellschafterin, reduziert ihren Anteil auf 30%, behält dabei die strategische Führung, der Rest wird durch neue Gesellschafter übernommen. Die HBG Verwaltungsdingsbums wird dann noch mit der HBGmbH&Co.KG auf eine Gesellschaft geschrumpft. Und stellen Sie mir jetzt bitte keine unangenehmen Fragen.
Ein unbestätigtes Gerücht ist, dass in Kürze ein Gesellschaftsabkürzungswegweiser Wilhelmshaven (GAWWW) erscheint.
Der Rat beschloss einstimmig, an der Hauptschule Nogatstraße ab dem Schuljahr 2005/05 eine Klasse für körperbehinderte SchülerInnen einzurichten und ebenda wie auch an der GS Hafenschule weitere Integrationsklassen. Das finden wir Klasse.
Die WALLI wollte in einer Kleinen Anfrage wissen, auf welche Schulen und Maßnahmen die 3 Mio. Euro für Schulsanierungen verteilt werden. Dies sind laut Stadtrat Graul die Grundschule Finkenburgschule / katholische GS Elisabethschule (Abschluss der Fenstererneuerung), die Berufsbildenden Schulen (Abschluss der Flachdachsanierung ehemalige BBS II) und die Sporthalle Heppens (Austausch des Hallenbodens).
Fehlt Ihnen was? Richtig: Die Grundschule Neuende. Im letzten Jahr konnte die drohende Schließung noch durch öffentliche Proteste abgewehrt werden, doch aktuell bestehen wieder Zweifel daran, dass die Stadt ihre älteste Schule und damit auch ein wunderschönes Baudenkmal langfristig erhalten will.
Eine andere WALLI-Anfrage galt der Veröffentlichung der unlängst zwischen Stadt und Land abgeschlossenen Verträgen zum JadeWeserPort. Laut OB Menzel werden diese nicht veröffentlicht. Er verwies auf zusammenfassende Ratsunterlagen, eine stattgefundene Informationsveranstaltung, die die Grundzüge der Verträge zum Inhalt hatte, so wie die Möglichkeit der Akteneinsicht durch Ratsmitglieder.
Verschiedene Beratungspunkte haben wieder mal verdeutlicht, dass ein städtebauliches Gesamtkonzept fehlt. Innerstädtische Verdichtung? Ja, aber nicht, wenn damit auch die letzte Freifläche im Wohnumfeld „beordnet” wird. Nicht, wenn die Bebauung sich gleichzeitig wie ein Krake in den grünen Stadtrand frisst. Ein neuer Flächennutzungsplan – vor geraumer Zeit beschlossen, doch immer noch graue Theorie – wäre ein guter Anfang.
Neue Bauten sollen neue Bürger anziehen. Obwohl das Programm „Stadtumbau West” Wilhelmshaven eine überdurchschnittliche Schrumpfungsrate bescheinigt, wird weiter geplant und gebaut, als rechne man in naher Zukunft mit Tausenden von Neubürgern und Kindern. Die brauchen Schulen in kinderfreundlicher Entfernung vom Elternhaus, keine Schulschließungen. Die brauchen „unbeordnete” Freiräume, um ihren Erlebnisdurst zu stillen und sich gesund entwickeln zu können. Spielplätze nach DIN sind keine Alternative. Wer Autolärm fröhlichem Kinderkreischen vorzieht, sollte die Stadt besser als flächiges Altenheim planen.
Attraktive öffentliche Grünflächen im Umfeld von Miet- oder Eigentumswohnungen senken den Bedarf am Eigenheim mit Garten. Die Nutzung Tausender derzeit leer stehender Wohnungen würde eine innerstädtische Verdichtung ohne Flächenverbrauch ermöglichen. Am Bontekai mussten stadtbildprägende Bäume für Luxuswohnungen sterben, die offensichtlich nicht das hiesige Klientel ansprechen: Nach einem Jahr steht immer noch mehr als die Hälfte der Wohnungen leer. Wie viele fehlgeschlagene Experimente dieser Art kann und will die Stadtplanung sich noch leisten – am Südstrand, an der Wiesbadenbrücke …?
Nahversorgung mit Artikeln des täglichen Bedarfs ist vor allem für Menschen wichtig, die aus gesundheitlichen und/oder finanziellen Gründen wenig mobil sind. Momentan ist Wilhelmshaven keine Stadt der Kinder, sondern der Alten. Das ist auch in Altengroden zu berücksichtigen. Dort gab es lange einen Supermarkt in dem Ladenlokal, wo man jetzt griechisch essen kann. Wenn sich jetzt die BürgerInnenversammlung für einen neuen Supermarkt ausspricht, wird es auch eine Entscheidung mit den Füßen. Muss der Laden mangels Umsatz wieder schließen, dann wäre die Grünfläche an der Werdumer Straße – oder alternativ der Wochenmarkt am Dodoweg – vergebens geopfert worden.
Bis nach Helgoland soll die Stadt vom neuen Hotel schauen können. Hoffentlich auch mal über den eigenen Tellerrand.
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