Wilhelmshaven
Jun 101991
 

Kommentar:

Fünf nach zwölf?

Seit Jahrzehnten immer das gleiche Lied: Wilhelmshaven am Rande des Abgrundes. Die Politiker aller Couleur beschwören die Einheit über alle Partei- und gesellschaftlichen Grenzen hinweg: Die „Wilhelmshaven- Fraktion“ schlägt zu. Mit dem Bettelstab zieht man von Behörde zu Behörde, klopft ans Vorzimmer der Vorzimmerdame der großen Wirtschaftsbosse – am Ende: ein paar Almosen werden als große Erfolge gefeiert. Die Arbeitslosigkeit wächst, das Loch im Stadtsäckl wird größer. Auf zur nächsten Bettelaktion!Dabei wurde Wilhelmshaven schon mehrmals mit Milliarden „beschenkt“. Erinnert sei an die Steuermilliarden, die für die Ansiedlung der Großindustrie auf den Grodenflächen nach Wilhelmshaven gepumpt wurden. Die sich dort niedergelassenen Industriebetriebe investierten selbst nochmals mehrere Milliarden. Ergebnis all dieser Zuwendungen: Wie in einem großen schwarzen Loch verschwanden die Unsummen, ohne daß eine Verbesserung der Situation Wilhelmshavens eintrat. Die dort geschaffenen Arbeitsplätze stehen in keinem Verhältnis zu den eingesetzten Milliarden. Trotzdem wird immer noch daran festgehalten, auf dem Groden Großindustrie anzusiedeln. Doch einen Fortschritt für unsere Stadt wird es nicht geben, solange man nicht bereit ist, von diesem Konzept abzugehen. Bis zum letzten Schräubchen durchrationalisierte Großbetriebe können die Situation eben nicht verbessern.

Soll Mercedes an anderen Standorten Tausende entlassen?

Wie sich diese Abhängigkeit von den Steuern einiger weniger großer Steuerzahler auswirkt, davon kann der Stadtkämmerer in Punkto ICI, die sich steuerlich immer mehr aus der vielbeschworenen Verantwortung für Wilhelmshaven herausstiehlt, ein Lied singen.
Und AEG – Olympia? Steuerlich zur Gemeinde Schortens orientiert, dort seit Jahrzehnten ein vehementer Arbeitsplatzabbau betrieben. Jetzt, nachdem der Mercedes-Konzern die Erkenntnis verbreiten ließ, daß der Standort Roffhausen aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht mehr haltbar ist – und das bedeutet nach den Gesetzen unseres Wirtschaftssystems das „Aus“ für die Produktionsstätte – klopfen unsere Politiker usw. wieder an die Konzerntüren in Frankfurt und Stuttgart und appellieren an das soziale Gewissen der Konzernherren (die von ihren Aktionären zum Teufel gejagt werden, wenn die Dividende im nächsten Jahr nicht stimmt). Soll Mercedes denn an anderen Standorten einige tausend Leute entlassen, damit Olympia hier in Zukunft Teile für Panzer, Raketen oder Kaffeemaschinen bauen kann? Wie blauäugig und leichtfertig wird hier mit den Hoffnungen und Ängsten der Beschäftigten in Roffhausen gespielt?!
Es mag ja eine Lösung geben, wenn jetzt die niedersächsische Landesregierung „unkonventionelle“ Modelle finanziert. Doch wie lange wird das gehen? Kann und darf der Staat über Jahre oder Jahrzehnte hinweg Steuermillionen zur Gewinnmaximierung eines Konzerns ausgeben?

Ein bisschen Sozialismus im Kapitalismus

Läuft so etwas nicht auf ein System hinaus, das wir aus der ehem. DDR kennen, wo die Arbeitslosigkeit dadurch vertuscht wurde, indem die Leute einfach zum Betrieb gehörten, ob sie was zu tun hatten oder nicht?
Kapitalismus ist Kapitalismus; da kann man nicht, wenn er mal so richtig wie im Lehrbuch funktioniert, plötzlich „ein bißchen Sozialismus“ fordern.
Der Standort wird gerettet werden, der Staat dem Kapital genügend Knete zur Verfügung stellt. Tut er’s nicht, wird, so bitter es für uns alle ist, nicht nur die Schreibmaschinenproduktion in Roffhausen der Vergangenheit angehören, sondern die Gemeinde Schortens bald ein zusätzliches Industrie- und Gewerbegebiet verwalten müssen.
Dann ist da ja auch noch Wilhelmshavens liebstes Kind: die Bundesmarine. Dieser steuerverschlingenden Kampfmaschinerie verdankt Wilhelmshaven seine Existenz. Und nun, wo endlich erste Bewegungen in Richtung Abrüstung zu bemerken sind, kämpft die bekannte Wilhelmshaven- Fraktion gegen die Abrüstung. Besonders in den Reden und Schriften sozialdemokratischer Funktionäre ist zu hören bzw. zu lesen, welche negativen Auswirkungen durch den Abzug von Teilen der Marine auf Wilhelmshaven zukommen; und wie eine Pflichtübung kommt stets als letzter Satz „…oder andere arbeitsplatzsichernde Maßnahmen sind zu gewährleisten“: Der SPD-Tribut an die Friedensbewegung, in der ja ein Teil der SPDler aktiv waren oder noch sind.

Die Abhängigkeit von Marine und Großindustrie begründet die Strukturschwäche

Dabei ist es gerade die immense Abhängigkeit von der Bundesmarine, die die Strukturschwäche der Stadt mitbegründet. Zwar geben die dort Beschäftigten einen Großteil ihres Geldes hier in Wilhelmshaven aus – was der Wirtschaft und damit der Stadt zugute  kommt. Der Nachteil ist nur, daß der größte Arbeitgeber der Stadt keinen Pfennig Gewerbesteuer zahlen muß, die Stadt aber für die dort arbeitenden Menschen die entsprechenden Leistungen erbringen muß.
Dabei wird die Liebe der Stadtväter zur Bundesmarine durchaus nicht unbedingt erwidert (außer in irgendwelchen Reden). War es doch z.B. das Marineamt selbst, welches den Vorschlag machte, sich aus Wilhelmshaven zurückzuziehen. Ebenso, wie die anderen Vorschläge zur Reduzierung von den in Wilhelmshaven ansässigen Dienststellen gemacht wurden. Da geht die Solidarität nicht in Richtung Wilhelmshaven.
Wäre die Bundeswehr nicht ein steuernverschlingender, nichts produzierender, Rohstoffe verbrauchender, die Umwelt schädigender (usw. usf.) Apparat, könnten man geneigt sein zu sagen: „Wenn wir so reich sind, uns so etwas zu halten, warum nicht?“ Irgendetwas zu tun, das Gefühl haben, gebraucht zu werden, das ist immer noch besser als die Arbeitslosigkeit. Wenn es aber nur darum geht, den größten Teil des gesamten Steueraufkommens zu verprassen, dann fallen mir auf’m Schlag mehr als ein Dutzend bessere Möglichkeiten ein.

Wie Potentaten einer Bananenrepublik

Daß .unsere Politiker wie Potentaten einer Bananenrepublik am Fortbestand der Bundesmarine festhalten, zeigt, wie wenig sie in der Lage sind, über das Heute hinaus zu denken, wie wenig sie bereit sind, sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft dieser Stadt, über die Zukunft dieser Region zu machen.
Symbolisch für diese Politik war die Rathausuhr am Tage der Großdemonstration für den Erhalt der OlympiaWerke: Sie zeigte genau 6 Minuten nach 12. Heißt das nicht, daß man im Rathaus eher geneigt ist, die Uhr zurückzudrehen, anstatt nach vorne zu schauen, eine korrekte Bestandsaufnahme der Situation zu machen um die wirklichen Stärken der Stadt und der Region zu fördern?

Hannes Klöpper

 

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