Theater*Kultur
Feb 102010
 

Viel Theater – viel Kultur

Schnee, Trashkantine, bittere Tränen und Hikikomori mit den Augen des Gegenwind betrachtet

(iz) Die Landesbühne trotzt der Eiszeit im Landes-Kulturetat mit einem heißen Start in die zweite Hälfte der Spielzeit. Passend zur Großwetterlage ziehen sich Schnee und Eis als weißer Faden durch die Aufführungen.

Die Angst vor dem Fremden
Wie bringt man den über 500 Seiten starken Roman eines Nobelpreisträgers in 2 Stunden auf die Bühne? Regisseur Christian Hockenbrinck hat zuerst stark gefremdelt, als die Landesbühne ihm antrug, Orhan Pamuks „Schnee“ als Theaterstück umzusetzen. Dem Ergebnis war das nicht abträglich, widmet sich der Stoff doch dem Thema „Fremdheit“. Den türkischen Dichter Ka (Ähnlichkeiten mit Bert Brechts „Herr K(euner)“ sind kaum zufällig) verschlägt es nach 12jährigem Exil in Frankfurt nach Kars, im äußersten Nordosten der Türkei. Dem westlich geprägten Istanbuler sind seine dortigen Landsleute kaum weniger fremd als die Deutschen. Die skurrilen Figuren, denen Ka im vom Schnee abgeschnittenen Kars begegnet, spiegeln die Vielfalt und Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft. Zwischen Wärme und Brutalität, zwischen den Extremen des strengen Glaubens und des vom Militär überwachten Kemalismus existiert eine Bandbreite von Orientierungen, die Pamuk dem Leser vor die Füße wirft, ohne plakativ eine Richtung vorzugeben. „Mein Buch ist ein vielstimmiger Roman, in dem ich die einzelnen Stimmen nicht kommentiere.“ Gleichwohl bekennt sich der Autor offen zur säkularen Demokratie, weshalb er im eigenen Land höchst umstritten ist. Kritische Äußerungen zu dem bis heute offiziell totgeschwiegenem Genozid an den Armeniern und Morden an der kurdischen Bevölkerung brachten ihm ein Verfahren wegen „Beleidigung des Türkentums“ ein.

Es ist keine leichte Kost, die Pamuk und auch die Landesbühne da servieren. Eigentlich muss man mindestens zweimal lesen und schauen, um das dichte inhaltliche Geflecht und dessen künstlerische Aufbereitung zu erfassen. Grundkenntnisse der türkischen Geschichte, Politik und Kultur sind durchaus von Vorteil. Ein kompakter Abriss im Programmheft leistet allen Hilfe, die außer Döner und Badeurlaub bisher wenig von der Türkei kennen.

Mit Folklore hat die Inszenierung nichts am Hut. Das karge Bühnenbild (Julia Plickat) ist nicht der Sparpolitik des Kultusministers geschuldet. Der Boden ist mit Zeitungen ausgelegt, die in erster Linie die Rolle der Medien im gesellschaftlichen Diskurs der Türkei repräsentieren, aber darüber hinaus im Laufe der Handlung unterschiedlichste Funktionen erfüllen. Blitzschnell entstehen aus den Blättern Teetassen, Zigaretten, Bärte oder Kopfbedeckungen. Ansonsten wenige Requisiten, darunter nur der Schleier als zentrales Symbol, und eine sparsam eingesetzte Schneemaschine; den Rest muss die winterliche Kulisse vor der Tür leisten, um sich emotional in die isolierte Situation des Geschehens zu versetzen.

Eine leicht verdauliche Aufbereitung des Buches dürfen die Zuschauer nicht erwarten. Andersherum: Durch die weitere Verfremdung im Stil des epischen Theaters haben Hockenbrinck, Dramaturg Marc-Oliver Krampe und das Ensemble den Kern der anspruchsvoll-sperrigen Literaturvorlage getroffen. Das dekorative Drumherum wie Kleidung, Essen, Landschaft bietet zwar meist den ersten Zugang zu anderen Kulturen, aber auch die Gefahr, in folkloristischen Klischees hängen zu bleiben, und spielt wohl deshalb auch bei Pamuk nur eine nachgeordnete Rolle. Buch und Stück fordern dem Publikum eine tiefere, echte Auseinandersetzung ab.

In diesem Sinne suchte und fand die Landesbühne auch die konkrete Verortung in Wilhelmshaven. Schon während der Arbeit am Stück gab es enge Kontakte zum türkisch-islamischen Kulturverein, zur Migrationsberatung, zum christlich-muslimischen Arbeitskreis und zur Christus- und Garnisonkirche. Bei der Premiere boten Informationsstände Gelegenheit, mit den Institutionen in Kontakt zu treten. Im Anschluss an eine weitere Vorstellung lud Krampe deren Vertreter und das Publikum zum Gespräch ein. Dabei wurde deutlich, dass es noch viele Brücken zu bauen gilt. Kultur und Religion, Islam und Islamismus wurden in den Beiträgen bunt durcheinandergeworfen. Und während Frau Kaya vom Kulturverein herzlich zum Besuch der Moschee in der Admiral-Klatt-Straße einlädt, hat Pastor Frank Morgenstern Probleme, muslimische Kinder des Christuskindergartens zum gemeinsamen Kirchenbesuch zu bewegen. Wohlgemerkt, nicht alle: Frau Kaya bestätigte, dass es innerhalb der Elternschaft ihrer Glaubensrichtung sehr unterschiedliche Auffassungen dazu gibt. Interessant die Frage, ob Buch und Stück sich konkret einem (deutsch-)türkischen bzw. europäischen Thema widmen oder auch global übertragbar sind. Isolation oder „Diaspora“ (Morgenstern) führen auch andernorts zu extremen Erscheinungsformen kultureller Abgrenzung. Doch zweifellos nimmt die Türkei unter den vom Islam geprägten Staaten durch den (eigentlich) verfassungsmäßig verordneten Laizismus (Trennung von Staat und Religion) eine Sonderrolle ein. Und Kars ist nicht beliebig austauschbar gegen andere Orte: “Ich wollte einen politischen Roman schreiben, und alle Hauptkräfte der Türkei fand ich in Kars: Islamisten, türkische Nationalisten, kurdische Nationalisten, Kirche, Armee, verschiedene ethnische Gruppen und auch islamistische Fundamentalisten. Deshalb habe ich meine Geschichte in genau dieser Stadt angesiedelt“, so Pamuk. Doch sieht er grundsätzlich Romane als Annäherung an das „Andere“, sie „befreien uns von unserer Angst vor dem Fremden“. Mit „Schnee“ hat die Landesbühne einen Teil dazu beigetragen.

Eine Steilvorlage für die Vertiefung des Themas boten die Schweizer:
„Mi-na-rett-ver-bot“
schallte es Ende 2009 vom schneebedeckten Matterhorn durch die Welt. In einer Volksabstimmung war es den Schweizern gelungen, ihr Käseglocken-Paradies gegen böse Symbole fremder Einflüsse abzuschirmen. „Sind die Schweizer noch zu retten?“, fragten sich nicht nur die Schweizer Aom Flury und Peter Hilton Fliegel, die derzeit politisches Asyl bei der Landesbühne genießen. Im „Roten Salon“ (der passend in die „Trashkantine“ verlegt wurde) wagten sie eine satirische Analyse der Befindlichkeit ihrer Landsleute. Zur Einstimmung gab es eine Erzählung auf Schweizerdeutsch, die ebenso verständlich war wie der anschließend eingespielte Ruf des arabischen Muezzins. Damit waren die Fronten schon mal klar. Die nachfolgende „Schweizer Flurbereinigung“ entfernte alles nicht Heimische aus dem grünen Alpenland und hinterließ eine Wüste. Und wie steht es grundsätzlich um die Gastfreundschaft, nicht nur gegenüber Muslimen? Verzweifelt zerbricht ein deutscher Wanderer bei dem Versuch, von einem Schweizer eine Wegbeschreibung zu bekommen. (Anm. iz:  Mir hat mal ein Schweizer seine nagelneue Straßenkarte geschenkt, als ich keinen Ausweg nach Deutschland fand. Mit dem Erklären hat es eben nicht so geklappt …) Zum bunten Programm gehören auch sehr gegensätzliche Kommentare aus den Medien u. a. des Inhalts, ob „political correctness“ überhaupt noch zeitgemäß ist – schließlich dürfen Schweizer Touristinnen auch nicht im Bikini durch Teheran City spazieren! Das letzte Wort hatte Friedrich Dürrenmatt, nach dessen Theorie die Schweiz einfach ein großes Gefängnis ist und die Häftlinge gleichzeitig die eigenen Wärter sind … Fehlte nur noch Martin Suter, der seinen Eidgenossen gern boshaft auf den Zahn fühlt, aber eine Stunde ist schnell vorbei. Die nächste „Trashkantine“ gibt’s am 12.2. zum Thema „Nichts ist scheißer als Platz 2“ – ein Muss für alle Fußballfreunde.

Eiseskälte
Passen „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974 noch in unsere Zeit? Die Zweifel eines Pressekollegen kann ich nicht teilen. Erstens ist Fassbinder ein moderner Klassiker, und ein Klassiker hat immer die Aufgabe, gesellschaftliche Themen der Vergangenheit lebendig zu halten, wobei Bezüge zur heutigen Zeit nie ausgeschlossen sind. Käme ja auch keiner auf die Idee, Schiller oder Büchner ihre Existenzberechtigung auf modernen Bühnen abzusprechen. Zweitens ist Fassbinders bittersüß sezierende Analyse verkorkster Beziehungen und verlogener Lebensentwürfe (nicht nur) im Jet-Set auch heute noch zutreffend. Er war damals einfach seiner Zeit voraus. Wer hat es in dieser piefigen Zeit schon gewagt, gleichgeschlechtliche Beziehungen auf der Bühne zu thematisieren? Nicht zu vergessen: Der §175 des deutschen Strafgesetzbuches stellte noch bis 1994 (!) homosexuelle Handlungen unter Strafe. Betroffen waren zwar ausschließlich Männer – ernst zu nehmende Beziehungen zwischen Frauen entzogen sich vermutlich der Vorstellungskraft der reaktionären Gesetzgebung. In Fassbinders Werk spielen Frauen, ob hetero, homo oder bi, eine zentrale Rolle. Und auch „Schnee“ – ohne Unmengen von Kokain hätte er den Marathon von über 40 Filmen und Theaterstücken in 16 Jahren kaum geschafft; in einer tödlichen Mischung verschiedener Drogen setzte es schließlich seinem Leben und Werk ein viel zu frühes Ende.

Eiseskälte strahlen schon Bühne und Kostüme (Frank Albert) im Studio des Jungen Theaters aus. Viel zu weiß, um wirklich rein zu sein. Durchbrüche in der Wand verschaffen Einblicke von außen, ermöglichen aber keinen leichten Zugang oder Ausweg. Selbst zerknüllte weiße Entwurfsblätter am Boden gehören zur inszenierten Ordnung dieser Designerbude, in der Petra von Kant (Julia Blechinger) sich selbst gefangen hält. Innerlich muss die beruflich erfolgreiche Modedesignerin allerdings dringend aufräumen. Einmal verwitwet, einmal geschieden, umgeben von falschen Freunden und gleichzeitig Lichtjahre entfernt von ihrer eigenen Familie, Tochter wie Mutter, sucht sie das ultimative private Glück bei einem jungen Model. Das scheinbar naive Objekt ihrer Begierde versteht es jedoch schnell, die ungesunde Symbiose für sich auszunutzen … Rasant treibt Regisseurin Eva Lange ihre Darstellerinnen und das Publikum durch eine Achterbahn der Gefühle. In den Zeiten von Hartz IV und Wachstumsbeschleunigungsgesetz, wo der Mensch als Mensch zur Bedeutungslosigkeit verkommt, verdient Fassbinders Petra von Kant nicht nur als Klassiker ihren Platz auf der Bühne.

Weitere Aufführungen: Fr. 12.02. / Sa 13.02. / Fr 26.02. / Sa 20.03. / Sa 27.03. jeweils 20 Uhr, Junges Theater, Rheinstr. 91.

Eiskalt läuft es einem auch bei Hikikomori von Holger Schober über den Rücken.

Außer Betrieb
Schon nach 5 Minuten begreift man, warum H. sich seit 8 Jahren von der Welt abschottet: Er will nicht mehr müssen, außer aufs Klo, der einzige Grund, überhaupt noch sein Zimmer zu verlassen. „Du musst Du musst Du musst“ dröhnt es in den Ohren. „Du musst ein Auto haben, du musst ein Haus haben … du musst ein Ferienhaus in der Toscana haben … du musst einen multinationalen Konzern haben, du musst zwei multinationale Konzerne haben, du musst sie zusammenlegen, du musst 40.000 Leute entlassen …“ Doch es sind nicht nur die gnadenlosen Spielregeln des Kapitalismus, die ihn verzweifeln lassen. In seinem einstündigen Fast-Monolog erfährt man, dass er schon immer der Loser war. Auf dem Fußballplatz war er nicht der Held, sondern Zuschauer. Und sein erster und einziger Kontakt zu einem Mädchen ging voll peinlich in die Hose. H. ist ein Hikikomori. So nennen die Japaner Menschen, die sich mindestens 6 Monate zu Hause einschließen. H. kommuniziert nur noch elektronisch: chatten, skypen, selbst mit seiner Mutter verkehrt er über Videobildschirm. Die gehört zu jener Sorte Mütter, die ihren Sohn am liebsten immer bei sich haben, auch wenn er schon Mitte 20 ist, weshalb sie unter der Situation leidet, aber ihn trotzdem weiter bekocht und auch sonst nichts unternimmt, um diese ungesunde Symbiose zu beenden. H. war schon immer ein Robinson, auch in der echten Welt hat ihn niemand wahrgenommen. (Bis auf drei Mitschüler, die ihn mit Steinen bewarfen. Da spürte er erstmals ein warmes Gefühl im Bauch, denn: Sie haben IHN gemeint!) Es macht keinen Unterschied, ob drin oder draußen, er fühlt sich sowieso unsichtbar. AUSSER BETRIEB steht auf einem Aufkleber an seinem Bett. Eine riesige Weltkarte an der Wand und Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ reichen ihm für die verschwommene Wahrnehmung, dass da draußen noch was existiert.

Als er im Chatroom das Mädchen Rosebud kennen lernt, scheint sich das Blatt zu wenden, die warmen Gefühle zurückzukehren. Sie will für ihn da sein. „Du musst dich nur melden … du musst dich nur melden …“ schreibt sie ihm wieder und wieder. DU MUSST DU MUSST DU MUSST …

In Hikikomori geht es um viel mehr als computersüchtige junge Leute. Es geht um Leistung und Loser, um Ansprüche und Forderungen, Versagens- und Zukunftsängste. Die Inszenierung unter Regie von Markus Steinwender ist grandios. Im stimmigen Rahmen aus Bühne und Kostümen (Elke König) , Musik und Beleuchtung spielt sich Jaques Freyber die Seele aus dem Leib und haut einem den dichten Text um die Ohren, dass es nur so kracht. Unbedingt anschauen!

Weitere Aufführungen: So 28.2. 20 Uhr, Junges Theater, Rheinstraße 91.

 

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