Reichspogromnacht
Nov 132003
 

Eine ungehaltene Rede

(iz) Das diesjährige Gedenken an die Reichspogromnacht auf dem Synagogenplatz dauerte gerade 10 Minuten, die der OB für seine Rede und der Pastor für das jüdische Gebet brauchte. Als einige BürgerInnen pünktlich um 19 Uhr eintrafen, war schon alles vorbei. Sozusagen abgehakt. Einer autonomen Gruppe junger Menschen hatte Menzel vor Beginn untersagt, ihren vorbereiteten Beitrag zu verlesen. Nun hätten sie ja trotzdem sprechen können, aber weil Menzel in der Vergangenheit mehr als einmal durch lautstarke Zornesausbrüche die Gedenkveranstaltung entwürdigt hat, wenn ihm kritische Beiträge aus der linken Szene nicht passten, verzichteten die jungen Leute auf ihre Rede.

Dass ausgerechnet auf einer Veranstaltung für Opfer des Faschismus die Rede- und damit Meinungsfreiheit unterdrückt und das auch noch formal damit begründet wird, der Redebeitrag sei „vorher nicht angemeldet“ worden (Menzel), ist erschreckend und zeugt von mangelndem politischen Bewusstsein des Oberbürgermeisters. Im Übrigen sollte er jungen Menschen, die sich mit Politik beschäftigen, keine Knüppel zwischen die Beine werfen, sondern sie ermutigen und fördern. Das Schweigen der jungen Antifaschisten zu Gunsten der Andacht bewies ihre Überlegenheit gegenüber dem viel älteren Stadtoberhaupt. Sie legten übrigens, nach jüdischem Glauben, Steine für die Ermordeten nieder statt Kränze.
Besagte Rede ist zu wichtig, um sie der Allgemeinheit vorzuenthalten. In der Printausgabe steht aus Platzgründen eine gekürzte, hier die vollständige Fassung. Die Rede ist sachlich, an Fakten orientiert, nichts Wesentliches fehlt, nichts ist überflüssig. Und sie enthält nichts, dem Menzel als Antifaschist nicht zustimmen könnte.

Am 09. November 1938

erging der Befehl an alle NS-Verbände, an diesem Tag antijüdische Aktionen und Demonstrationen durchzuführen. Als Zivilisten verkleidete SA-Männer überfielen jüdische Geschäfte und Wohnungen und verbrannten und sprengten Synagogen, alles unter den Augen und auch unter Beteiligung der deutschen Bevölkerung. Polizei und Feuerwehr erhielten die Anweisung, sich im Hintergrund zu halten.
So wurden an diesem Tage ca. 8.000 Geschäfte und 177 Synagogen angegriffen und zerstört. Am 9. und 10. November wurden mehr als 30.000 Jüdinnen und Juden verhaftet, Tausende wurden in Konzentrationslager abtransportiert, viele wurden gefoltert und ermordet. In einigen Städten glitt den Nazis die geplante politische Inszenierung gar aus der Hand, so dass sich die Pogrome auf zwei bis drei Tage ausdehnten, weil die Bevölkerung in ihrem Eifer nicht zu stoppen war.
Warum gerade der 9.11.? Er war der Jahrestag des „Marsches auf die Feldherrenhalle“ in München im Jahre 1923. Nach einem Putsch in München wollten die Faschisten anschließend Berlin, voll von „marxistisch-jüdischer Brut”, militärisch einnehmen, um die Macht an sich zu reißen und die faschistische Diktatur zu errichten. Es marschierten einige tausend NSDAP-Leute unter der Führung Hitlers, Ludendorffs und Görings auf, um den verbündeten Freikorps, die am Morgen das bayerische Kriegsministerium besetzt hatten, zur Hilfe zu eilen. Der Marsch endete kläglich unter den Kugeln der bayerischen Landespolizei. Diese wurde von Generälen befehligt, die eigentlich mit Hitler gemeinsame Sache machen wollten, sich aber im letzten Augenblick abwandten, weil ihnen die Aktion aussichtslos erschien oder weil sie eigene Pläne hatten.
Logo Nazi FaustDie Faschisten wollten am 9. November 1923 die „Schande“ des 9. November 1918 tilgen. An diesem Tag verzichtete der deutsche Kaiser Wilhelm II. auf den Thron. Von den Dächern fast aller Kasernen und vieler Wohnhäuser wehten rote Fahnen. Überall bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, um die Macht zu übernehmen. Die Faschisten erklärten diesen Tag zum „Schanddatum“. Denn an diesem Tag wurde Deutschlands Niederlage im I. Weltkrieg akzeptiert. Hieraus nährte sich die so genannte „Dolchstoß-Legende“.
Der 9. November wurde 1933 zum mythisch verklärten Feiertag erklärt. Jährlich wurde der „Marsch auf die Feldherrenhalle“ mit großem Pomp wiederholt. Die Reichspogromnacht war aber vor allen Dingen der Auftakt der Vernichtung der europäischen Juden, die mit dem Holocaust, der Ermordung von über 6 Millionen Juden, ihren blutigen Höhepunkt erreichte.
Wir sind heute hier aus Solidarität und Trauer für die Menschen, die unter der Herrschaft des Naziregimes starben, misshandelt und gefoltert wurden. Aber auch aus Solidarität mit den jüdischen und nichtjüdischen Menschen, die die Hölle der Konzentrationslager überlebten und heute, 58 Jahre später, ungeachtet ihrer möglichen psychisch und physisch davongetragenen Schäden, immer noch auf ihre ausstehenden Entschädigungszahlungen warten. Entschädigungszahlungen, die der kleinste „angemessene” Teil einer nicht möglichen Entschädigung sind.
Auf der Londoner Schuldenkonferenz von 1952/53 waren der Bundesrepublik Deutschland die Reparationszahlungen bzgl. Weltkriegsschäden bis zur Wiedervereinigung und einem endgültigen Friedensvertrag gestundet worden.
Unter Hinweis auf diese Konferenz wollte sich die deutsche Bundesregierung nie auf die Verhandlungen über die Höhe von Reparationszahlungen einlassen, die sich auf 1 Billion Euro hätten belaufen können. Statt dessen wurde nach der Wiedervereinigung die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ angeregt. So umging die Bundesregierung Forderungen nach Reparationszahlungen und entledigte sich mit dem Stiftungsgesetz formaljuristisch zukünftigen Forderungen nach Reparationszahlungen an die in der NS-Zeit Geschädigten. Ansprüche auf Entschädigung für Mord, Körperverletzung und Sklavenarbeit unter dem Naziregime sollten vornehmlich als Reparationszahlungen geregelt werden. Damit wären die Forderungen der NS-ZwangsarbeiterInnen gleichbedeutend mit Forderungen nach Reparationszahlungen. In den USA wurden im August 1998 mehrere Sammelklagen von Geschädigten aus der Zeit des Nationalsozialismus gegen deutsche Unternehmen angestrengt.
Mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” gelang es der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Staat, die in den USA von ehemaligen Zwangs- und SklavenarbeiterInnen angestrengten Sammelklagen abzuwenden.
Die für den Fonds der Stiftungsinitiative in Aussicht gestellten 5 Milliarden Euro sind nur ein Bruchteil der Zahlungen, die den ZwangsarbeiterInnen nach dem damals geltenden Recht zustehen. So beziffert der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczinsky in seinen Berechnungen die Entschädigungsansprüche der heute noch lebenden 2,4 Millionen NS-ZwangsarbeiterInnen auf 90 Milliarden Euro. Aber selbst von den 5 Milliarden Euro hat die deutsche Wirtschaft lediglich einen Betrag von 2,5 Milliarden Euro an den Stiftungsfonds zu entrichten, von denen wiederum etwa die Hälfte von der Steuer abgesetzt werden kann. Die Verhandlungen sind abgeschlossen, die Überlebenden mit einem Almosen abgespeist. Es scheint, die deutsche Rechnung sei aufgegangen und die deutsche Schuldabwehr geglückt. Nachdem die Schuld nun vorgeblich beglichen ist, agiert Deutschland in neuem nationalem Selbstbewusstsein und in neuer Aggressivität auch international als Hüterin über völkisch gewendete Menschenrechte und Humanität.
Nicht nur, dass die Entschädigungen von NS-ZwangsarbeiterInnen unter den Teppich gekehrt werden, nein, mittlerweile schreit Deutschland nach Entschädigungszahlungen, die Russland gegenüber deutschen Kriegsgefangenen zu zahlen hätte, „Kriegsgefangene”, die vorher die sowjetische Bevölkerung umgebracht, ihre Dörfer niedergebrannt und ihre Frauen und Kinder vergewaltigt haben.
Deutschland, ein Land, in dem die Volksgemeinschaft und das völkische Denken so weit geht, dass die Bevölkerung bei Pogromen, wie in Rostock-Lichtenhagen 1992, zu geworfenen Molotowcocktails, schreienden Menschen und einem grölendem Nazimob applaudiert. Einem Land, in dem vor allen Dingen von Entnazifizierung nichts zu spüren ist und nie zu spüren war. 12 Todesurteile, 3 mal Lebenslänglich, 4 Zeitstrafen und 3 Freisprüche waren das Ergebnis der Nürnberger Prozesse. – Von Entnazifizierung ist wohl nicht zu sprechen, wenn wichtige Stützen der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Justiz und Politik ehemalige führende Nazi-Funktionäre waren.
Noch immer werden Menschen in diesem Land auf Grund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Religion angegriffen, verfolgt und ermordet. Noch immer hat Antisemitismus, gerade in Deutschland, Konjunktur, wird immer wieder publik durch beispielsweise die Goldhagendebatte, den Walser-Bubis Streit, von der Holocaust-Mahnmal-Debatte bis zu Jürgen W. Möllemanns antisemitischem Wahlkampf, der auch auf große Zustimmung stieß. Kürzlich wieder publik geworden ist der zwar stetig präsente, aber im stillen Kämmerlein gehütete Antisemitismus durch die Rede von MdB Martin Hohmann zum 3. Oktober. Dieser behauptete dort, man könnte den Juden auf Grund von (an den Haaren herbeigezogenen) Thesen und „Beweisen” eine Täterrolle innerhalb der russischen Revolution, wie den Deutschen im 3. Reich, zusprechen. Mehr noch: Für die Deutschen streitet er die Täterrolle ab.

Wir werden das alles nicht tatenlos hinnehmen.
Wir werden nicht schweigen, wegschauen und ignorieren.
Kein Naziaufmarsch am 20.03.2004 in Wilhelmshaven oder anderswo!
Kampf dem Antisemitismus und der Deutschtümelei!
Nie wieder Faschismus!
Nie wieder Deutschland!

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