Besser geworden?
Eine aufschlussreiche ver.di-Veranstaltung zu Hartz IV
(noa) „Begünstigen ARGE-Job-Center prekäre Beschäftigung?“, lautete der Titel einer Veranstaltung der Gewerkschaft ver.di am 16. März in Schortens. Um diese Frage zu beantworten, hätte man die zwei Stunden nicht benötigt. Doch was die Referentin Carmen Giss sonst noch vortrug, war uns zum großen Teil neu.
Frau Giss ist die Geschäftsführerin des Job-Centers Friesland und sagte gleich zu Beginn, dass sie die Frage provozierend finde und sie so nicht beantworten könne. „Inwieweit sind wir verpflichtet, prekäre Beschäftigung zu vermitteln?“, das sei zutreffender.
6 Millionen Menschen bezogen Anfang 2005, mit dem Inkrafttreten des Gesetzes, Leistungen nach dem SGB II, das nach seinem Namensgeber Peter „Hartz IV“ genannt wird. Obwohl sie den Namen „unglücklich“ findet, benutzte auch Carmen Giss ihn, als sie berichtete, dass bis Ende 2007 von diesen 6 Millionen drei immer noch im Bezug standen. Man bekommt die Zahlen immer erst mit großer zeitlicher Verzögerung, so dass die Entwicklung in den letzten 15 Monaten nicht erfasst ist, doch die Tatsache, dass 3 Millionen Menschen drei Jahre lang überhaupt nichts von den „modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Titel der Hartz-Gesetze) hatten, ist schon interessant. Und natürlich kann man aus der Angabe „drei von sechs Millionen“ keineswegs schließen, dass es „nur noch“ drei Millionen gäbe – es kommen ja laufend welche dazu. 12 Millionen Personen, das sind 18 % der Erwerbsfähigen, waren seit Beginn der Gültigkeit des Gesetzes mindestens einen Monat lang im Bezug von Arbeitslosengeld II. Angesichts dieser Zahl findet Giss die Stigmatisierung dieser Menschen „überheblich“.
Wer aus dem Bezug von Alg II relativ schnell wieder rauskommt, das sind kinderlose Paare und Alleinstehende. Die sind am besten zu integrieren, sofern sie eine berufliche Qualifikation besitzen. Weit schwerer zu vermitteln sind Alleinerziehende; von ihnen sind nach drei Jahren 50 % immer noch arbeitslos.
Die Besserung der Arbeitsergebnisse der Job-Center in den Jahren 2006/07 erklärt Frau Giss selbstbewusst so: „Wir sind besser geworden.“ Die Beschäftigten der ARGEn würden umfassend qualifiziert, und zusätzliches Personal werde eingestellt. Allerdings weiß auch Giss von großer Fluktuation des Personals in den Job-Centern zu berichten. Es gibt dort viele befristet Beschäftigte, und die Belastung des Personals ist hoch.
Von den 6,7 Millionen SGB II-„Fällen“ sind 2 Millionen erwerbsfähig, also im Sinne des Gesetzes hilfebedürftig. Die übrigen sind Kinder, Aufstocker (also Menschen, die trotz Arbeit nicht genug zum Leben verdienen) und Alleinerziehende mit Kindern unter drei Jahren (denen es nicht zugemutet wird, arbeiten zu gehen).
Bezüglich der Aufstocker betonte Giss, dass wir hier noch keine amerikanischen Verhältnisse haben: 5 % der Vollzeiterwerbstätigen in Deutschland sind „working poor“ – in den USA sind es schon 10 %.
Als „prekäre Beschäftigung“ bezeichnet man Arbeit, mit der weniger als 60 % des Durchschnittslohnes erzielt wird. Das sind 1758 Euro für ein Paar mit zwei Kindern. Seit Mitte der 90er Jahre ist der Niedriglohnsektor gewachsen, und im wesentlichen ist das drei Ursachen geschuldet: dem Sinken der Tarifbindung (nur noch die Hälfte aller Arbeitnehmer ist von Tarifverträgen erfasst), der Globalisierung, durch die die Situation der Geringverdiener sich verschärft, und einem Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft, denn im Handel und im Hotel- und Gaststättengewerbe wird wenig verdient. Und die Folgen: 1,35 Millionen Beschäftigte in Deutschland sind Aufstocker; 5 % von ihnen arbeiten volle Stunden; mehr als die Hälfte der Aufstocker jedoch arbeiten weniger als 15 Stunden pro Woche.
Die interessantesten Zahlen kamen zum Schluss: Im Jahre 2006 waren 43 % aller Arbeitsverhältnisse befristet; im öffentlichen Dienst hatten sogar zwei Drittel aller Beschäftigten nur einen Zeitvertrag. Und die Übernahmequote? Lediglich ein Viertel der befristet Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden nach Ablauf des Vertrages übernommen – in der gewerblichen Wirtschaft immerhin zwei Drittel.
Wehmütig erinnern sich Ältere an das „Normalarbeitsverhältnis“. Früher war es einmal üblich, einen unbefristeten Anstellungsvertrag mit Tariflohn, Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung und Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu haben.
Die Zahlen aus Wilhelmshaven, die der DGB-Kreisverband Oldenburg-Wilhelmshaven erhoben hat, erscheinen nach dem Abend in Schortens gar nicht mehr so erstaunlich: In Wilhelmshaven haben mittlerweile weniger als die Hälfte der Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten, einen Normalarbeitsvertrag, 50,2 % sind Mini- oder Midi-Jobber, Ein-Euro-Jobber, Leiharbeiter, Solo- oder Scheinselbständige, verdienen also weniger, als man zu Leben braucht, sind mangelhaft sozialversichert, dürfen nie krank werden oder Urlaub machen oder sitzen auf einem Arbeitsplatz, der jederzeit wegfallen kann. Teilzeitarbeit, so berichtete Carmen Giss, wird heutzutage nicht mehr als prekär angesehen, außer wenn sie unfreiwillig ist.
Alles in allem: Nur noch gut qualifizierte jüngere Arbeitssuchende haben heutzutage Chancen auf ein Normalarbeitsverhältnis.
Was ist denn nun mit der Ausgangsfrage des Abends? Begünstigen Job-Center prekäre Beschäftigung? Ganz am Ende ihres Vortrags kam die Antwort: Ja, sie tun es. Sie müssen es nämlich tun. In § 10 SGB II ist festgelegt, dass jede Arbeit zumutbar ist. Laut Gesetz ist also auch Arbeit zu Löhnen unter dem Niveau der sozialen Transferleistungen zumutbar.
Zum Glück schieben die Sozialgerichte dem einen Riegel vor: „Weigert sich ein Langzeitarbeitsloser, einen Job zum Dumpinglohn anzutreten, darf das Arbeitslosengeld II nicht gekürzt werden. Das hat das Sozialgericht Dortmund jetzt im Fall einer Bochumer Hartz IV-Empfängerin entschieden, die bei einem Textildiscounter für einen Stundenlohn von 4,50 Euro beschäftigt werden sollte. Die arbeitslose Frau hatte das Jobangebot abgelehnt. Daraufhin senkte die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Bochum die Bezüge nach dem Sozialgesetzbuch II für drei Monate um 30 Prozent. Die Betroffene klagte und bekam Recht. Das Sozialgericht Dortmund hob die Leistungskürzung von monatlich 104 Euro auf und entschied, dass ein Stundenlohn von 4,50 Euro bei einem untersten Tariflohn von 9,82 Euro unzumutbar sei. Solche Stundenlöhne seien sittenwidriger Lohnwucher. Als sittenwidrig gilt, wenn der Lohn mindestens 30 Prozent unter Tarif oder der ortsüblichen Entlohnung liegt. Arbeitslosen derartige Tätigkeiten unter Androhung von Sanktionen aufzuzwingen, hieße, Lohndumping behördlicherseits zu unterstützen und das Lohngefüge weiter nach unten zu schrauben, so das Gericht in seinem Urteil.“ (Quelle: www.mindestlohn.de)
Sorry, the comment form is closed at this time.