Medizin
Nov 101999
 

Keine Arznei mehr?

Spätestens Ende November sind die Arzneimittelbudgets erschöpft, und niemand weiß, wie es dann weitergeht

(noa) In unserer letzten Ausgabe berichteten wir, dass die niedergelassenen ÄrztInnen Ende August über die Höhe ihrer Arznei-, Verband- und Heilmittel für das Jahr 1999 informiert wurden (vgl. GEGENWIND 154, „Juristisches und ethisches Dilemma“). Das war schon reichlich spät. Ende September (!) kam die Richtgrößen-Frühinformation (!) für das erste Quartal 1999.

Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen teilte den Ärzten und Ärztinnen darin mit, ob und wie weit sie in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres ihr Budget eingehalten, unterschritten oder überschritten haben. Damit sie diese „Früh“information richtig verstehen, gab es einen Brief dazu, in dem Regressforderungen im Fall der Budgetüberschreitung angedeutet wurden.
Ärzte, die auf diesem Weg etwa erfahren haben, dass sie von Januar bis März schon weit mehr Medikamente, Massagen oder Fangopackungen verschrieben haben als vorgesehen, müssten jetzt sofort aufhören, überhaupt noch etwas zu verordnen. Wer z.B. im ersten Quartal sein Budget um 100 % überschritten hat – was angesichts der niedrigen Richtgrößen bei einigen Ärzten der Fall sein dürfte – kann sich leicht ausrechnen, dass er bis Mitte des Jahres schon die gesamte Summe für 1999 verbraucht hat, seit Juli die Arzneimittel für seine Patientinnen und Patienten also schon aus der eigenen Tasche bezahlt. Auch wenn ein Arzt oder eine Ärztin laut Frühinformation nur um 50 % zu viel verschrieben hat, wird er/sie im Lauf des Monats September schon über dem Jahresbudget gelegen haben.
Die Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer sagte dazu in einem „Stern“-Streitgespräch: „Das mit den Budgets versteht ja fast keiner. Ärzte unterliegen einem Irrtum, wenn sie gegenüber einem Patienten behaupten: Mein Budget ist erschöpft, und deswegen kann ich dir dieses Medikament nicht mehr verordnen. Sie haben kein eigenes Budget, sondern eine Richtgröße, und sie können und müssen das verordnen, was aus medizinischer Sicht angezeigt ist.“ („Stern“ 42/99)
„Mein Budget ist erschöpft“ – genau das hörte jedoch eine Wilhelmshavener Patientin, die nach einer Operation wegen der Nachbehandlung beim Facharzt
vorsprach. Er schickte sie wegen der weiteren Therapie zum Hausarzt, der sich jedoch auch nichts mehr zu verordnen traute.
In der Radio-Jade-Sendung „Direkt extra“ am 5.10.99 sagte der Wilhelmshavener Arzt Dr. Schadewaldt, es stimme nicht, dass die Ärzte kein individuelles Budget hätten. Ob (fast) alle Ärzte das Gesetz nicht verstanden haben oder ob die Gesundheitsministerin selber ihr eigenes Gesetz nicht versteht, ob die Vereinbarungen der Kassenärztlichen Vereinbarungen mit den Krankenkassen auf einem falschen Verständnis des Solidaritätsstärkungsgesetzes fußen oder ob die Vertragspartner ihre eigenen Vereinbarungen nicht richtig verstehen, ob die Krankenkassen tatsächlich Regressforderungen stellen werden und wenn, ob dann gegenüber einzelnen Ärzten oder Arztgruppen, das scheint keiner zu wissen. Bewirkt hat das Spargesetz auf jeden Fall, dass die Ärzte verunsichert und die Patienten besorgt sind.
„Die Initiative und das Aktionsprogramm der niedersächsischen Vertragsärzte und Krankenkassen zur Arznei- und Heilmittelversorgung sei richtungsweisend“ („WZ“ v. 5.10.99), fand AOK-Regionaldirektor Jürgen Thielemann auf einer Versammlung des CDU-Ortsverbandes Altengroden/Neuengroden/Rüstersiel. Die davon Betroffenen meinen allerdings, dass da in eine falsche Richtung gewiesen wird. Die Wilhelmshavener Krankengymnastin Helgard Schodde, Vorsitzende des Landesverbandes Niedersachsen des Deutschen Verbandes der Physiotherapeuten und Krankengymnasten spricht nicht nur für ihre eigene Berufsgruppe, sondern für alle im Gesundheitswesen Tätigen, wenn sie „die Entwicklungen mit großer Besorgnis“ beobachtet und zu denken gibt, dass „die Patientenversorgung … sehr unter den Kürzungen“ leidet. („WZ“ v. 19.10.99)
Gelitten hat auch schon das Vertrauensverhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen. So jedenfalls sieht es der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Wilhelmshaven, Dr. Greth, in der erwähnten „Radio-Jade“-Sendung, und er spricht für alle seine KollegInnen, wenn er sagt: „Wir lehnen die Budgetierung ab.“ Sein Kollege Leonhard hält das Gesetz gar für verfassungswidrig.
Dr. Greth vermutet (im Unterschied zu unserer obigen Rechnung), dass die Arzneimittelbudgets für Niedersachsen etwa Ende November auslaufen werden. „Hier ist dann kein Geld mehr für die weitere Versorgung vorhanden. Kein Mensch weiß zum jetzigen Zeitpunkt, wie es weitergehen wird.“ Gegen die im Solidaritätsstärkungsgesetz angelegte Spaltung schlägt er Aktionen gemeinsam mit den Patienten vor: „Dann müssen wir im Bündnis mit unseren Patienten auf die Straße gehen und für eine Erhöhung der Arzneimittelbudgets streiken, richtiggehend streiken. Wir sollten unsere Praxen dann schließen und gemeinsam mit unseren Patienten unsere Interessen durchsetzen.“

Der Brief der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen im Wortlaut:
„Sehr geehrte Dame(n), sehr geehrte(r) Herr(en ),
gemäß Artikel 16 des GKV-Solidaritätsstärkungsgesetzes (GVK-SolG) wurde mit den Landesverbänden der Krankenkassen das Arznei-, Verband- und Heilmittelbudget für das Jahr 1999, welches eine feste Ausgabenobergrenze für die von den niedergelassenen Ärzten veranlassten Ausgaben für Arznei-, Verband- und Heilmittel vorsieht, vereinbart. Zur Steuerung der Ausgaben dieses Globalbudgets und als Instrument der arztindividuellen Prüfung der Wirtschaftlichkeit verordneter Leistungen war des Weiteren gemäß § 84 SGB V eine Vereinbarung über die Festsetzung von Richtgrößen und die Prüfung der Wirtschaftlichkeit bei Überschreitung der Richtgrößen zu schließen. Diese enthält landeseinheitlich arztgruppenspezifische Richtgrößen für Arznei- und Verbandmittel einerseits und Heilmittel andererseits – jeweils getrennt nach M/F und R – und findet Anwendung, sofern das Budget um mehr als 97 % ausgeschöpft wird. Ferner sieht sie für die Vertragsärzte eine Information zur Beobachtung ihrer Verordnungstätigkeit vor. Hierfür sind die Verbände verpflichtet, ihre Verordnungsdaten der KVN für Arznei- und Verbandmittel bis zur 10. Woche, für Heilmittel bis Ende des 6. Monats nach Quartalsende zu liefern. Da die Ersatzkassen nicht in der Lage waren, für das 1. Quartal 1999 vertragsgemäße Verordnungsdaten zu liefern, wurde diese Information ausschließlich auf Basis der Primärkassendaten erstellt. Die Aussendung für das 2. Quartal 1999 wird auch die Ersatzkassendaten beinhalten und Ihnen in den nächsten Tagen zugehen.
Umseitig sind die zu Ihren Lasten ermittelten Verordnungskosten, die Zuzahlungen, die zu berücksichtigenden Fälle und die Bruttokosten je Fall – in der Unterteilung nach M/F und R – ersichtlich. In Bezug auf die für den Behandlungsfall festgesetzten Richtgrößen des Budgetbereiches können Sie weiterhin die absolute und prozentuale Abweichung Ihrer Verordnungskosten von den Richtgrößen sowie einen potentiellen Regress bezogen auf das Quartal ersehen.
Dieses Schreiben dient Ihrer persönlichen Information und soll Ihnen bei drohender Richtgrößenüberschreitung Anlass zur Überprüfung Ihrer Verordnungsweise geben. Praxisbesonderheiten, die im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung geltend zu machen wären, fanden bei umseitiger Berechnung zunächst keine Berücksichtigung.
Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an Ihre KVN-Bezirksstelle.

Mit freundlichen Grüßen
Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen“

 

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