AOK
Aug 101992
 

Auf Omis Kosten

Die AOK spart an den Schwächsten

(noa) Die gesetzlichen Krankenkassen in den alten Bundesländern haben im Jahr 1991 150,9 Mrd. DM ausgegeben, während ihre Beitragseinnahmen nur 1,47 Mrd. DM betrugen. Sparen ist angesagt. Die AOK Wilhelmshaven spart an ihren schwächsten Mitgliedern.

Eine „exorbitante“ Steigerung der Ausgaben für die häusliche Krankenpflege, so AOK-Geschäftsführer Ingo Schneider, habe die AOK veranlaßt, im Mai/Juni eine „Aktion“ zu starten. Der Medizinische Dienst wurde beauftragt, bei den alten Leuten, die auffällig viele Pflegeleistungen zu Hause bekommen, Hausbesuche zu machen.
Wie diese Hausbesuche abliefen, schilderte exemplarisch Helmut Heiken in einem Leserbrief an die „Wilhelmshavener Zeitung“: Seiner schwerkranken Frau wurden einige Fragen gestellt, sie sollte einen Gehversuch machen, ihm selbst wurde gesagt, er solle sich raushalten, als er den Gutachter darauf hinwies, daß seine Frau sehr vergeßlich ist und ihre Angaben unzuverlässig sind. Ergebnis dieser kurzen Beschauung war die Streichung eines Teils der Pflegeleistungen.
Nach Erscheinen seines Leserbriefes erhielt Herr Heiken viele Anrufe von SeniorInnen, denen es genauso ergangen ist, und die Recherchen des GEGENWIND förderten haarsträubende Dinge zutage: Einer Dame von Mitte 80, die aufgrund mehrerer Erkrankungen verschiedene Medikamente nehmen muß, ist die Verabreichung dieser Mittel durch die Pflegekraft gestrichen worden – ohne diese Hilfe kommt sie mit den Arzneien aber durcheinander. Die falsche Einnahme von Medikamenten kann lebensgefährliche Folgen haben. Eine 94Jährige, die den größten Teil ihrer Zeit im Sessel sitzt und die Beine hochlegt, hatte sich an beiden Beinen die Hacken wundgelegen. Neben der Behandlung der offenen Stellen hatte diese Frau Geh- und Bewegungsübungen verordnet bekommen. Nachdem der Dekubitus nun verheilt ist, strich der Medizinische Dienst die Gehübungen, die erforderlich sind, um einem erneuten Wundliegen vorzubeugen. Einer 94Jährigen mit offenen Beinen stellte der MDK-Gutachter die Frage, ob sie ihre Verbände nicht selber wechseln könne – diese Patientin wußte sich zum Glück zu wehren: Sie sagte, daß sie bei Streichung dieser Pflegeleistung ins Krankenhaus müsse. Das würde für die AOK dann allerdings deutlich teurer!

Häusliche Krankenpflege ist seit 1983 eine Kassenleistung. Sie wird gewährt, „wenn Krankenhausbehandlung angezeigt, aber nicht ausführbar ist, oder wenn sie durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird. “ (Sozialgesetzbuch V, Par. 37, Abs. 1) In diesem Fall muß die Krankenkasse die Grund- und Behandlungspflege und die hauswirtschaftliche Versorgung bis zu vier Wochen, in begründeten Einzelfällen auch länger, bezahlen. Außerdem wird häusliche Krankenpflege als Behandlungspflege nach Absatz 2 desselben Paragrafen gewährt, „wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist“. Bei der Behandlungspflege handelt es sich um Dienstleistungen wie Injektionen, das Anlegen oder Wechseln von Verbänden, Versorgung eines künstlichen Darmausganges usw., nicht aber um Grundpflege wie Waschen o.ä. „Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann“, sieht Absatz 3 vor.

Bei vielen alten Leuten gibt es eine solche im Haushalt lebende Person, die die Pflege und Versorgung leisten könnte, nicht. In Wilhelmshaven leben 2.319 Männer und 5.709 Frauen über 75 (leider schlüsselt unser Amt für Statistik die Altersgruppen nicht genauer auf, so daß wir nicht feststellen können, wie viele dieser Menschen schon über 85 oder 90 Jahre alt sind). Aus den Zahlen ergibt sich, daß vor allem viele betagte Frauen allein leben. Wenn hier häusliche Krankenpflege aus einem der bei den im oben zitierten Gesetz genannten Gründe erforderlich wird, kann die betreffende Person sich an eine von zahlreichen Institutionen wenden. Das Diakonische Werk, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, Apo-Care, Freie Soziale Dienste e.V. und einige Stellen mehr schicken PflegerInnen ins Haus, die die vom Arzt verordneten Dienstleistungen ausführen, und rechnen sie mit den Krankenkassen ab.
Nachdem die Ausgaben der AOK Wilhelmshaven für die häusliche Krankenpflege von 540.000 DM (1983) auf 2,3 Mio. DM (1991) angestiegen sind, sah die AOK Veranlassung, zu überprüfen, ob da vielleicht ungerechtfertigte Leistungen erbracht werden. Die Frage, ob dieser tatsächlich auffällige Anstieg vielleicht auf eine Zunahme an PatientInnen, die zu Hause gepflegt werden, zurückzuführen ist, verneint die Geschäftsführung der AOK, ohne allerdings entsprechende Zahlen für die einzelnen Jahre nennen zu können – es werden für die Bilanzen und Geschäftsberichte keine einzelnen Fälle oder Einzelleistungen, sondern nur Geldsummen erfaßt. Es war nicht einmal möglich, der AOK die Zahl der SeniorInnen zu entlocken, die seit Beginn der „Aktion“ vom MDK begutachtet worden sind.
Diese „Aktion“ brachte dann nach Auskunft von Herrn Schneider bisher ca. 80 Fälle zutage, die „nicht so ganz koscher“ seien; so z.B. einen Fall, in dem neben anderen Leistungen auch tägliche Einreibungen verordnet waren, obwohl die Patientin außer Diabetes, Grünem Star und Bluthochdruck keine Leiden hat.
Leider konnte die AOK uns keine Auskunft darüber geben, wieviel Geld sie denn nun durch die Streichung von Leistungen eingespart hat oder einzusparen erhofft. Auch den Anteil unserer hiesigen AOK an dem 3,9 Milliarden-Defizit konnten wir nicht erfahren.

Werden nach dem Hausbesuch Leistungen gestrichen, kann der Patient, ein Angehöriger oder der Arzt Einspruch einlegen. Daraufhin muß eine Zweitbegutachtung erfolgen. Bestätigt der zweite Gutachter die Streichungen des ersten, kann der Betroffene sich an den Widerspruchsausschuß der Krankenkasse wenden. Wenn der Widerspruch auch hier abgelehnt wird, kann Klage beim Sozialgericht erhoben werden. Ein Urteil des Sozialgerichtes kann beim Landessozialgericht angefochten werden, und die nächste und gleichzeitig höchste Instanz ist das Bundessozialgericht.

Allzu viel wird die Kasse an den alten Leuten jedenfalls nicht einsparen können: Die 2,3 Mio. DM stellen mal gerade knappe 2 % der Gesamtausgaben der AOK Wilhelmshaven dar. Wenn aber auch nur eine Million jährlich dabei rauskommt, so konnte man darauf vertrauen, daß diese Summe ein sicherer Posten wäre. Daß die alten Leute sich gegen diese Sparaktion wehren, damit war kaum zu rechnen. Viele SeniorInnen, die Hauspflege erhalten, sind nach dem Besuch des MDK nun völlig verängstigt. Eine Pflegerin berichtete uns: „Wir haben sehr viel Mühe, die alten Leute nach den Hausbesuchen des Gutachters zu beruhigen. Einige von meinen Patienten lehnen jetzt sogar Leistungen, die die Kasse noch bezahlt, ab, weil sie Angst haben, daß sie ins Pflegeheim müssen.“
Der Hinweis von Dr. Schmidt vom MDK gegenüber dem GEGENWIND, dies sei nicht nur ein Rechtsstaat, sondern auch ein Rechtsmittelstaat, und man könne gegen eine Entscheidung der Kasse bis hin zum Bundessozialgericht klagen, ist angesichts des Alters und des Gesundheitszustandes vieler Pflegebedürftiger blanker Zynismus. Herr Heiken z.B. ist bestimmt ein sehr streitbarer alter Herr und selber nicht pflegebedürftig, aber auf diese Möglichkeit und den Instanzenweg (siehe Kasten) aufmerksam gemacht, sagte er: „Das würde ich nicht schaffen, dabei würde ich kaputtgehen!“

Die Ausgaben der AOK Wilhelmshaven für die Krankenhausbehandlung schlagen mit 41 % überdurchschnittlich hoch zu Buche: Bundesweit (alte Länder) beträgt der Ausgabenanteil der gesetzlichen Kassen für stationäre Behandlung nur 33,3 %.

Die Ausgaben der AOK Wilhelmshaven für die Krankenhausbehandlung schlagen mit 41 % überdurchschnittlich hoch zu Buche: Bundesweit (alte Länder) beträgt der Ausgabenanteil der gesetzlichen Kassen für stationäre Behandlung nur 33,3 %.

Und so setzte man sich denn auch großzügig über die gesetzlich vorgeschriebenen Regeln hinweg: Uns ist kein einziger Fall bekannt, in dem nach eingelegtem Einspruch der vorgesehene zweite Hausbesuch erfolgt wäre – wohl aber liegen uns allein aus der Klientel eines einzigen Arztes vier Antworten der AOK vor, in denen der Einspruch nur aufgrund der Aktenlage – übrigens in allen vier Fällen in den wesentlichen Passagen wortwörtlich gleichlautend, überdies standardisiert und nicht auf den Einzelfall eingehend – zurückgewiesen wird.
Wenn wider Erwarten nun doch recht viele Betroffene bzw. ihre Angehörigen, Ärzte oder sonstigen Vertrauenspersonen den Rechtsweg beschreiten und Erfolg haben, dann wird es ziemlich teuer für die AOK. Am falschen Ende gespart hat sie nach Meinung vieler (nicht nur pflegebedürftiger!) Versicherter sowieso: „Statt den alten Leuten die Pflege zu streichen, sollten die lieber darauf verzichten, jedem Teilnehmer am AOK-Lauftreff ein Käppi zu schenken!“ sagte uns ein Angehöriger erbost. Das würde allerdings wenig bringen, denn die Ausgaben für die Prävention sind so verschwindend gering, daß sie nicht einmal getrennt er fassbar sind.

Angesichts der Verteilung der Ausgaben der AOK Wilhelmshaven (siehe Grafik) scheint eine Überprüfung der Ausgaben für die Krankenhausbehandlung am ehesten lohnend zu sein. Fast jede/r, der/die schon mal im Krankenhaus war, wird die Erfahrung gemacht haben, daß PatientInnen, die am Freitag gesund werden, übers Wochenende dabehalten werden, um dann am Montag nach der vormittäglichen Visite entlassen zu werden. Die Häufung von Entlassungen aus stationärer Behandlung an Montagen ist auch der AOK aufgefallen. Nach der Überprüfung sind die Krankenhäuser dann dazu übergegangen, diese Patienten erst am Dienstag oder Mittwoch zu entlassen. Solche raffinierten Möglichkeiten haben die alten Leute leider nicht!

Was ist der Medizinische Dienst?

Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) existiert seit dem 1. Oktober 1989. Er wurde aufgrund des Gesundheitsreformgesetzes vom 1. Januar 1989 als Nachfolgeinstitution des Vertrauensärztlichen Dienstes gegründet. Während der Vertrauensärztliche Dienst von den Rentenversicherungsträgern finanziert wurde, wird der MDK per Umlage von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Dem Gesetz nach ist der MDK unabhängig und nicht an Weisungen der Krankenkassen gebunden.
Die Wilhelmshavener „Filiale“ des Medizinischen Dienstes Niedersachsen beschäftigt zwei Ärzte und zwei Ärztinnen. Wenn die AOK Fälle hat, in denen ihr die Leistungen zu hoch oder die Ansprüche ungerechtfertigt erscheinen, gibt sie die entsprechenden Akten an den MDK weiter, der dann gutachterlich tätig wird – auf eigene Initiative, denn direkte Weisungen oder Aufträge durch eine Kasse sind ja nach dem Gesetz nicht möglich.
Unsere Frage, ob es angesichts der finanziellen Verbindung zwischen MDK und Kassen nicht naheliegend sei, dass die Gutachter auf jeden Fall im Sinne der Sparwünsche der Kassen urteilen, wurde sowohl von den Vertretern der AOK als auch des MDK zurückgewiesen. Da sind allerdings Zweifel angebracht, vor allem wenn man weiß, daß eine Patientin mit fortgeschrittener Multipler Sklerose, die schon im Rollstuhl sitzt, als nicht schwerpflegebedürftig bezeichnet wurde! Bei Schwerpflegebedürftigkeit müßte die Kasse ein Pflegegeld in Höhe von 750 DM monatlich zahlen.

 

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