Unglaubwürdig
SPD-Austritte
Anfang März traten rund dreißig linke Sozialdemokraten aus der SPD aus. Der größte Teil von ihnen hatte jahrelang für die Partei als Vorstandsmitglieder, Parteitagsdelegierte oder Ratsherren gearbeitet. Nahezu alle sind Gewerkschaftsmitglieder, etliche Personalratsmitglieder bzw. sogar Vorsitzende. Hier die Austrittserklärung, die 32 Unterschriften trägt. Weitere Austritte sind gefolgt. Seit September 1981 dürften damit rund 100 Genossen ihrer Partei den Rücken gekehrt haben.
Hier die Erklärung der 32, auf die von der Partei bisher noch nicht inhaltlich eingegangen wurde:
Die Unterzeichner beenden hiermit ihre Mitarbeit in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und erklären ihren sofortigen Austritt aus der Partei.
Viele von uns sind vor Jahren mit der Hoffnung auf mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit in die SPD eingetreten, die sich die Partei des demokratischen Sozialismus nennt. Wir sahen in ihr den Anwalt einer menschenwürdigeren Gesellschaft, einen Garanten für soziale Sicherung, Frieden, Abrüstung und Umweltschutz.
Doch in der Macht erstarrt, trieb die Partei Schindluder mit den eigenen Zielen. Die Parteipolitik verkam zur Rechtfertigung der Regierungspolitik. Die Hoffnungen vieler, die der Partei Gustav Heinemanns und Willy Brandts, der Partei der äußeren und inneren Reformen nach 1966 ihr Vertrauen geschenkt hatten, wurden enttäuscht. Schon lange besitzt die SPD kein schlüssiges Gesamtkonzept mehr, seit langem lebt sie von der Hand in den Mund. Man geht nicht mehr voran, man läuft hinterher.
Ohne eine klare Perspektive für die Zukunft ist ihr Weg in die Opposition vorgezeichnet. Doch selbst dort wird sie sich nicht erneuern. Zu sehr sind ihr die derzeitigen Strukturen eingebrannt: Machterhaltungspolitik um jeden Preis. „Sachzwänge“ werden vorgeschoben um Phantasielosigkeit zu verdecken. Gleichzeitig klaffen Anspruch und Wirklichkeit immer stärker auseinander.
Dabei wollen und können wir nicht weiter mitmachen, denn: SPD-Politik unglaubwürdig.
- Wer soziale Gerechtigkeit fordert, aber Rentnern das Taschengeld kürzt, ist unglaubwürdig .
- Wer in einem „Beschäftigungsprogramm“ (das den Namen nicht verdient) Investitionen fordert, die Arbeitsplätze vernichten, ist unglaubwürdig.
- Wer der Großindustrie Geschenke macht, aber Kindergeld, Arbeitsförderungsprogramme und Sozialhilfeleistungen kürzt, ist unglaubwürdig. Er nimmt den Schwächsten und gibt den Starken.
- Wer über Steuererhöhungen dem Bürger das Geld aus der Tasche zieht, aber dem Flick-Konzern und anderen Großkonzernen Hunderte Millionen Mark Steuern erläßt, ist unglaubwürdig.
- Wer Meinungsfreiheit für ein hohes Gut hält, aber mit Berufsverboten regiert, ist unglaubwürdig.
- Wer Wirtschaftskriminalität anprangert, aber auf kriminelle Weise Parteispenden von der Wirtschaft bezieht, ist unglaubwürdig.
- Wer sich Bildung für alle auf die Fahnen schreibt, aber Bafög für Arbeiterkinder kürzt, ist unglaubwürdig.
- Wer vorgibt, den Dialog mit der Jugend zu suchen, aber sich der Auseinandersetzung mit der eigenen Parteijugend verweigert, ist unglaubwürdig.
- Wer Hunger in der Welt stillen will, aber es im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zuläßt, daß Agrarüberschüsse ins Meer gekippt werden, ist unglaubwürdig .
- Wer Abrüstung fordert, aber den Wehretat kräftig erhöht, ist unglaubwürdig.
- Wer ständig von den dringenden Problemen unserer Zeit spricht, aber beharrlich Jahrhundertentscheidungen wie die über den Bau von Atomkraftwerken bzw. die Abrüstung hinausschiebt, der ist unglaubwürdig.
In der SPD sind die meisten Beschlüsse das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.
Wir können und wollen diese Unaufrichtigkeit nicht mehr mittragen.
Wir wollen nicht mehr mitverantwortlich sein für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Wenigerverdienenden härter trifft als die Reichen.
Wir wollen vor den kommenden Generationen nicht länger mitschuldig werden an Rüstungswahnsinn und Umweltzerstörung.
Wir wollen es nicht länger mittragen, daß Etikettenschwindel mit dem Ehrentitel „Sozialdemokrat“ getrieben wird.
Wir wollen nicht, wie in der SPD üblich, alle politischen Fragen x-mal unter taktischen Gesichtspunkten hin- und herwenden und Sachaussagen aus Opportunitätserwägungen bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln.
Eine Zeitlang glaubten wir, in Wilhelmshaven eine „andere“ SPD vorzufinden als anderswo. Wir sahen Chancen, durch Überzeugungsarbeit und demokratische Mehrheitsfindung sozialdemokratische Politik betreiben zu können. Doch nach den verlorenen Kommunalwahlen zeigte sich endgültig, daß den Wilhelmshavener SPD-Gewaltigen Machterhaltung und persönlicher Vorteil wichtiger sind als klare auf die Wahlquittung der Bürger.
Die Ereignisse vor und nach der Kommunalwahl haben gezeigt, daß die Unglaubwürdigkeit der SPD auf Bundes- und Landesebene ihre Parallele findet, ja noch übertroffen wird von der Unglaubwürdigkeit der Partei vor Ort, denn:
- Wer behauptet, Politik im Interesse der Arbeitnehmer zu betreiben, aber zur Vernichtung tausender heimischer Arbeitsplätze bei Olympia, Schlafhorst und anderswo kaum mehr als belanglose Floskeln hervorbringt, ist unglaubwürdig. Wer stattdessen mit Millionenbeträgen die Großindustrie mit lächerlich wenigen Arbeitsplätzen subventioniert, verkehrt sozialdemokratische Politik in ihr Gegenteil.
- Wer von Umweltschutz redet, aber unsere Heimat durch die fortgesetzte Ansiedlung von Chemie-Industriegiganten zerstört, ist unglaubwürdig. Er vernichtet die Umwelt unserer Kinder und vergeht sich an den Rechten künftiger Generationen.
- Wer von „Bürgerbeteiligung“ redet, selbst aber – statt die Meinung der Bürger in die Verwaltung hinein zutragen – das Gegenteil tut, ist unglaubwürdig. Die maßgeblichen Mitglieder der SPD-Fraktion vor Ort begnügen sich bewußt damit, als Sprachrohr der SPD-Macher in der Verwaltung zu fungieren.
- Wer Bürgerinitiativen „als wichtiges Element der Demokratie preist, aber Initiativen wie dem „Verein Frauen helfen Frauen“ oder dem „Verein der Türken“ aus parteiegoistischen Interessen das Wasser abgräbt, ist unglaubwürdig.
- Wer sich für die Integration der Ausländer ausspricht, aber nicht den Mut findet, für die Einrichtung eines Kommunikationszentrums für die Wilhelmshavener Türken in Bant bei den Anliegern um Vertrauen zu werben, ist unglaubwürdig. Wer die Einrichtung eines solchen Hauses als „nicht demokratiefähig“ bezeichnet, ist selbst nicht „demokratiefähig“.
- Wer von den eigenen Mitgliedern charakterlich einwandfreies Verhalten fordert, aber in der Öffentlichkeit durch persönlichen Lebenswandel und arrogantes Verhalten die Partei fortgesetzt in Mißkredit bringt, bzw. dieses duldet, ist unglaubwürdig.
- Wer von Solidarität redet, aber um der eigenen Machterhaltung willen die eigenen Genoss(inn)en übers Ohr haut, ist unglaubwürdig. Die Koalition mit der „Bürgerschaft“ scheiterte in letzter Minute, weil sich einige Ratsherren rücksichtslos über alle vorliegenden Beschlüsse von Fraktion und Partei hinwegsetzten.
- Wer die offene Diskussion als Element der Demokratie bezeichnet, sich aber der Auseinandersetzung mit der eigenen Partei entzieht, ist unglaubwürdig. Auf einem Sonderparteitag der SPD am 20.12.1981 weigerte sich die Fraktionsspitze vier Stunden lang, auf Fragen zu ihrem Verhalten im Zusammenhang mit der Koalitionsbildung zu antworten.
- Wer die „gewerkschaftliche Mitbestimmung im wirtschaftlichen und sozialen Leben“ fordert, aber wie die SPD-Fraktion in Wilhelmshaven nahezu alle Gewerkschafter aus den Aufsichtsräten mit städtischer Beteiligung herausdrängt, ist unglaubwürdig.
- Wer in seinem Programm das Interesse der Gesamtheit über das Einzelinteresse stellt, aber den Verdacht nicht widerlegen kann, bei der Vergabe bzw. Annahme politischer Ämter an den persönlichen Vorteil zu denken, ist unglaubwürdig.
- Wer den Bürgern im Kommunalwahlkampf ein fortschrittliches Programm andient und dies hinterher zu einem Fetzen Papier macht , ist unglaubwürdig.
- Wer von innerparteilicher Demokratie spricht, aber bei der Nominierung des SPD-Kandidaten Ulrich Iserlohe zu Pression und Manipulation der Delegiertenzahlen greift, ist unglaubwürdig.
- Wer Tag für Tag menschlich und politisch sozialdemokratische Grundsätze mit Füßen tritt, hat das Recht verwirkt, sich Sozialdemokrat nennen zu dürfen.
Wir stehen heute vor dem Scherbenhaufen sozialdemokratischer Politik. Statt umzudenken, versuchen die alten Kräfte in der Wilhelmshavener SPD jetzt erfolgreich, durch rücksichtslos einseitige Auslegung der Parteistatuten einschlägige Parteitagsmehrheiten herbeizumanipulieren. Nicht die Erneuerung, sondern die Erhaltung verkrusteter Verhältnisse ist ihr Ziel.
Wir haben lange genug in den verschiedensten Gremien der Partei gearbeitet, um zu wissen, daß es in absehbarer Zeit keine Aussichten auf die erfolgreiche Durchsetzung einer Politik des Demokratischen Sozialismus in der SPD geben wird.
Das Godesberger Programm spielt in der praktischen Politik dieser Partei keine Rolle mehr.
Solange Leute wie Helmut Schmidt, Hans Apel, und Herbert Ehrenberg im Bund sowie Ulrich Iserlohe ,Gerhard Eickmeier und Eberhard Krell vor Ort das Gesicht der SPD bestimmen, ist es uns nicht möglich ,in dieser Partei mitzuarbeiten.
Solange diese und die sie stützenden Kräfte das Steuer in der Hand halten werden immer mehr aktive Genoss(inn)en in die Passivität oder aus der Partei herausgedrängt .
Mit dem Austritt aus der SPD, der für uns eine schwerwiegende persönliche Entscheidung darstellt, verabschieden wir uns nicht aus dem politischen Geschehen unserer Stadt. Wir vollziehen diesen erzwungenen und notwendigen Schritt vielmehr, damit weiterhin eine Politik des Demokratischen Sozialismus in Wilhelmshaven vertreten wird.
Wir werden dabei sorgfältig prüfen, ob nicht ein gemeinsamer Weg mit den Menschen um Manfred Coppik und Karl-Heinz Hansen sinnvoll ist.
Unterzeichnet haben die Erklärung:
Rainer Weber, Günther Holzmann, Rolf Biermann, Marc-Tell Madl, Wilfried Becker, Antje Jürgensen, Gaby Groß, Frank Pelzer, Peter Junklewitz, Werner Dalichow, Inse Böhlke-Itzen, Atto Ide, Wolfgang Niemann-Fuhlbohm, Christoph Seifert, Brigitte Koch, Wolfgang Kuschel, Heinz Müller, Ilona Schlensog, Reinhold Heilmann, Anne Meyer, Traugott Böhlke, Hildegard Biermann, Renate Dalichow, Uschi Frank-Kuschel, Christine Nordmann, Hajo Stolze, Raimund Kaufmann, Friedel Koch, Marion Heiser, Ursula Högel, Hartmut Steinhauer, Uwe Taubenrauch.
Zuvor waren ausgetreten: Rolf Schaper, Stefan Leimbrinck.
Danach: Manfred Tiefense, Siegfried Steiner u.a.
Verständnis
Eine Frage, die uns im Zusammenhang mit unserem Austritt aus der SPD besonders interessierte, war das Meinungsbild innerhalb der Gewerkschaften auf diesen Schritt.
Abgesehen davon, daß bei einigen Funktionären, die auch der SPD angehören, eine gewisse innere Befriedigung nicht zu übersehen bzw. zu überhören war, konnten wir vor allem bei der Gewerkschaftsjugend eine breite Solidarität feststellen. Im Großen und Ganzen fanden wir unsere Argumentation in Bezug auf den Austritt bestätigt.
Viele der Kolleginnen und Kollegen gehören selbst den Jusos an und überlegen, ob sie diesen Schritt nicht ebenfalls tun sollen. Andere haben es bereits vor einiger Zeit getan. Bei älteren Gewerkschaftern war zwar ebenfalls großes Verständnis für unseren Austritt zu erfahren,(„die verarschen uns doch in Wirklichkeit nur!“, „auch nicht besser als die CDU.“) aber hier schwang auch durchaus spürbar Bedauern darüber mit, daß die Linke innerhalb der SPD, falls sich dieser Trend auf Bundesebene fortsetzt, deutlich geschwächt und die politische Rechte gestärkt würde.
Erfreulich für uns ist die Erkenntnis, daß wir in unserer künftigen Arbeit mit erheblicher Unterstützung breiter Gewerkschaftskreise, vor allem der Gewerkschaftsjugend, rechnen können. Denn auch die Gewerkschaft hat vor allem momentan mit großen Schwierigkeiten innerhalb der eigenen Organisation zu kämpfen. Auch hier reißen Skandale um Einrichtungen und Personen (Neue Heimat, Ämterverkrustung) kaum ab. Daraus lässt sich für uns die Hoffnung ableiten, gemeinsam mit fortschrittlichen Gewerkschaftern und anderen für notwendige Veränderungen zu arbeiten.
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