Von wegen Provinz
Das “Plattform Festival” schrieb Wilhelmshavener Kulturgeschichte
(iz) Für einen Tag und eine Nacht verwandelten zwei Wilhelmshavener Studenten den trostlosen Leerstand im ehemaligen C&A-Gebäude in einen Freiraum zur Entfaltung unkonventioneller Ideen. Hinter dem hohen Unterhaltungswert stecken klare Botschaften einer ganzen Generation.
Blockbuster im Kino, Eventgastronomie und demnächst ein Eigenheim am Stadtrand und ein Job in der JadeWeserPort Logistik Zone: Ist es das, was junge Leute unter Lebensqualität verstehen? Manche Lokalpolitiker scheinen das zu glauben – gemessen daran, was sie so über (vermeintliche) Wünsche von BürgerInnen äußern, die höchstens halb oder ein Drittel so alt sind wie sie selbst. Vielleicht ist auch der Wunsch, anspruchslose und leicht handelbare WählerInnen zu haben, der Vater solcher Gedanken.
Wie auch immer, es wurde Zeit, mit derartigen Missverständnissen aufzuräumen, indem junge Leute mal zeigen, wo es lang geht: selbst was auf die Beine stellen, was ihnen (und anderen) Spaß macht und das auf einem Niveau, das überregional Aufmerksamkeit erregt. Was nicht heißen soll, dass wir hier nur passive Jugendliche haben oder kulturell nur Schrott. Aber echte Knaller, bei denen man auch in Metropolen Augen und Ohren aufmacht?
Ausgezeichnet und außergewöhnlich
„Das hat es in Wilhelmshaven in dieser Form noch nicht gegeben“ war das Credo von Tammo Kaspar und Henning Mues, die das Plattform-Festival initiiert und organisiert haben. Bereits im letzten Herbst wurde ihr Projekt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beim Förderwettbewerb „PlusPunkt Kultur 2010″ als eines von 30 Projekten bundesweit ausgezeichnet.
Das Plattform Festival am 9. April 2011 war in vielerlei Hinsicht unkonventionell und außergewöhnlich. Zunächst die Auswahl der Location. Leerstände gibt es in unserer Stadt mehr als genug. Hübsch wäre zum Beispiel das Hertie Gebäude gewesen, aber gerade das trashige Ambiente der früheren Billigklamotte (später Sonderpostenmarkt) hatte was.
Auffallend unaufdringlich das Marketing. Statt Plakatorgien im Stadtbild oder großformatigen Anzeigen gab es Guerilla Marketing, z. B. in Form von “Streetbranding“: Mit Schriftschablonen und Hochdruckreiniger wurden Hinweise auf die “Plattform” in angegraute Betonoberflächen gewaschen (“reverse Graffiti“), ansonsten verließ man sich auf Mundpropaganda, social networks wie facebook und andere Internetplattformen. Die eigene Internetseite www.plattform-festival ist etwas sperrig in der Handhabung, aber ein Hingucker.
Ein wichtiges Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen und gleichzeitig Botschaften zu vermitteln, war die Teilhabe an der Entstehung des Festivals. Die Schaufenster wurden mit Hilfe ehrenamtlicher UnterstützerInnen von alten Folien befreit und dann so transparent neu beschriftet, dass man mitverfolgen konnte, was nach und nach drinnen entstand.
Inhaltlich war das Besondere der Mix aus verschiedensten Kunstformen (“bringing arts together”): Musik, Performance, Poetry Slam, Bilder, Objekte, Videos … von KünstlerInnen aus der Stadt und Region, aus Hamburg oder Berlin oder London. Ständig spielte sich auf den 3000 qm etwas anderes ab, ob nun die künstlerischen Angebote als solche oder die Interaktion der gut 800 BesucherInnen mit der Kunst oder untereinander. Man konnte herumschlendern oder sich auch mal in eine Couch fallen lassen, Musik hören oder Kuchen essen.. Man durfte und musste sich auch trauen, auf Entdeckungstour zu gehen, in die Nebenräume und ins Obergeschoss – die Location für sich erobern, ohne dass überall “hier-geht’s-lang” Schilder den Weg wiesen. Der Weg zur Inszenierung “In der Strafkolonie” nach Franz Kafka (mit einer grandiosen Ana Berkenhoff!) führte durchs Treppenhaus oder (versehentlich) über den alten Fahrstuhl, seit Jahren TÜV-abgelaufen und doch noch mobil. Wenn man früher mit den Eltern bei C&A Klamotten gekauft hat, so war dieses Eindringen in einstmals verbotene Zonen so, als wenn man heute in der alten Grundschule das Lehrerzimmer besichtigt.
Am Einlass keine schwarzen Sheriffs, die einen abtasten und die Handtasche durchwühlen. Man ging einfach rein für den (dank erfolgreichen Fundraisings) sensationell günstigen Eintritt von 8-11 Euro und mit Bändchen am Arm jederzeit ebenso entspannt wieder raus und rein.
Und es gab, zum Glück, auch keine offizielle Eröffnungsrede vom Bürgermeister oder so. Der war morgens noch im “Sonnenhof” bei einer Veranstaltung “Yoga für Senioren”. Eine Teilnehmerin, knackige 88 jung, stand kurz nach 14 Uhr am “Plattform”-Einlass. “Das ist aber moderne Kunst” warnte die Kassenfee vorsichtshalber. “Dann ist das ja genau das Richtige für mich”, strahlte die Dame im besten Alter, sprach`s, ging rein und amüsierte sich königlich. Soll heißen: was die jungen Leute da inszeniert haben, war nicht nur für Gleichaltrige spannend, sondern für WilhelmshavenerInnen jeden Alters, die Angebote abseits vom Mainstream suchen.
Das Ganze war, mit einem beachtlichen Aufwand an Planung und Logistik, auf einen Tag und eine Nacht angelegt – von 14 Uhr bis Mitternacht und danach noch Disco im Obergeschoss bis zum Morgengrauen. Das ist aus Marketing-Sicht genial: Wenn man nicht hingeht, verpasst man garantiert was, weil es ja nicht beliebig reproduziert wird. Das ist was anderes als das Wochenende an der Jade. Doch bei Gefallen entsteht der Wunsch nach Wiederholung. Da haben Henning und Tammo auch schon drüber nachgedacht. Nächstes Mal vielleicht bei “Hertie”? (Obwohl es wünschenswert wäre, dass dieser Leerstand schon vorher wieder dauerhaft mit Leben erfüllt wird). Aber wenn, werden sie das Rezept nicht dumpf kopieren, sondern neue Überraschungen bereithalten.
Wege aus dem Pessimismus
Nicht allen hat’s gefallen. Musik und Kunst allgemein ist immer Geschmacksache, die Besucher verloren sich auf der riesigen Fläche, es gab kein streng fixiertes Programm …doch es war ja auch nicht das Ziel, Oscar-, Grammy- oder sonst wie Preisverdächtiges zu präsentieren. Sondern, so die Veranstalter, “der Versuch, einen Neuanfang zu schaffen … einen Raum dieser Dimension zu füllen …. Werke … die nach den Grenzen des Raumes und deren Überschreitung fragen, die sich dem Verfall und dem Aufbau widmen und dabei das widersprüchliche Abbild eines kleinstädtischen Kosmos einfangen, es beleuchten, es hinterfragen.”. Und: “Das Festival thematisiert Pessimismus und hofft gleichzeitig den Ausweg anbieten zu können.” Noch Fragen? Merke: Freiräume bieten Platz für Innovationen. Wenn man sie immerzu beseitigt, zustellt mit etwas, das kaum einer braucht oder will, bleibt kein Platz für neue Ideen.
Das Plattform Festival hat jedenfalls Wellen geschlagen. So manche/r zeigte sich erstaunt, dass sowas nicht in Hamburg, nicht in Berlin, sondern in Wilhelmshaven stattfindet. Die Zielgruppe, die hier vor Ort Mangelware ist (unter 30) hat das vermutlich mehr beeindruckt als Verlautbarungen zum lokalen Wirtschaftsaufschwung. Ob es nun eine Neuauflage gibt oder nicht – das Plattform Festival wird in die kulturellen Annalen der Stadt eingehen und hat für ihr Image mehr erreicht als so manches, von dem die Ratsvertreter glauben, das sei jetzt der Hit.
Schade nur, dass sich so wenige politische Entscheidungsträger drauf eingelassen haben und selbst vor Ort waren. Aber vermutlich haben sie zumindest die Berichte in den regionalen Medien verfolgt und vielleicht ein bisschen von der Botschaft verstanden, was junge Menschen brauchen, damit eine Stadt zu ihrem Biotop wird.
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