Herzlich Willkommen in Wilhelmshaven
(iz) Seit Wochen formiert sich der zunehmende Fremdenhass auf Deutschlands Straßen. Die Politik beteuert, die „Ängste“ der Anhänger von Pegida, AfD & Co. ernstzunehmen. Wirklich ernstzunehmende, weil existenzielle Ängste der Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz und Asyl suchen, verdeutlichte ein Gesprächsabend im Gemeindehaus der Christus- und Garnisonkirche. Zwölf in Wilhelmshaven und Varel lebende Flüchtlinge aus fünf Ländern schilderten die Situation in ihren Heimatländern, die Umstände ihrer Flucht und ihre persönliche Zukunftsperspektive.
Eingeladen hatte die hiesige Ortsgruppe von amnesty international gemeinsam mit der Kirchengemeinde. Der Gemeindesaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. In diesem „achtsamen und geschützten Raum“ – ein deutlicher Hinweis von Pastor Bernd Busemann – konnten die Flüchtlinge offen sprechen. Teilweise wurden die Berichte in der Heimatsprache bzw. auf englisch / französisch vorgetragen und übersetzt, einige Flüchtlinge sprechen bereits gut Deutsch. Mitglieder von amnesty stellten jedem Bericht eine kurze Schilderung der politischen und gesellschaftlichen Lage in den Herkunftsländern voran. Johann Janssen, der das Gespräch moderierte, verwies in diesem Zusammenhang auch auf den Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte.1 Im Text verlinken wir jeweils auf die Länderberichte auf der amnesty international-Webseite.
Die Familie2, Vater, Mutter und drei Kinder, ist seit August 2014 hier. Nachdem bei kriegerischen Handlungen ihr Haus zerstört wurde, flüchteten sie zunächst an einen anderen Ort in Syrien. Doch ein sicheres, normales Leben, die Erfüllung der Grundbedürfnisse bis hin zum Schulbesuch der Kinder, war nicht mehr möglich. Einen Monat waren sie unterwegs, bis sie in Deutschland ankamen. Hier können die Kinder in Sicherheit, Freiheit und Frieden aufwachsen, zur Schule gehen und später einen Beruf ausüben. Der Familie ist es sehr wichtig, die deutsche Sprache zu lernen.
Madame M. hat bei Angriffen von Rebellengruppen ihren Mann und ihren ältesten Sohn verloren. Wie viele andere, flüchtete sie zu Verwandten. Doch viele hatten kein Geld, um alle geflohenen Familienmitglieder zu ernähren. Über Paris kam M. 2008 in ein Sammellager in Dortmund, dann nach Oldenburg. Eines Nachts wurde sie, trotz einer chronischen, ärztlich attestierten Erkrankung, von zwei Polizisten abgeholt, die sie zur geplanten Abschiebung nach Berlin brachten. Dort erlitt sie einen akuten Krankheitsschub und kam ins Hospital, die Abschiebung wurde nicht vollzogen. Seit 2009 ist sie in Wilhelmshaven. 2013 erhielt sie eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie möchte gern hier bleiben. Hier herrscht kein Krieg und nur hier kann ihre Krankheit richtig behandelt werden. Sie besucht hier eine Schule, um Deutsch zu lernen und sich zu integrieren.
Herr B. ist Mitte 30 und „gesegnet mit einer guten Ehefrau und zwei Kindern“, von denen eines in Deutschland geboren wurde. 2003 kam ihm der Krieg in Liberia sehr nah. Er suchte Schutz auf der Farm seines Vaters, die jedoch genau zu diesem Zeitpunkt von Rebellen überfallen wurde. Dabei wurden zwei seiner Brüder getötet. Seine Schwester wurde von sechs Rebellen vergewaltigt. Sein Vater kam aus dem Haus, um einzugreifen, und wurde selbst von den Rebellen gepackt und bei lebendigem Leibe verbrannt. B. konnte fliehen, eine Kugel der Verfolger traf ihn jedoch in den Fuß. Nachbarn retteten ihn und brachten ihn nach Guinea. Von dort schaffte er es über Niger nach Libyen. Erst dort wurde ihm die Kugel heraus operiert.
Unter dem Schutz der UNHCR konnte er mit seiner Frau in Libyen Fuß fassen, beide fanden einen Job, sie erwarteten das erste Kind. Doch nach dem Sturz von Gaddafi brach im ganzen Land das Chaos aus und sie wurden nach Tunesien gebracht. Die geplante Ausreise nach Norwegen klappte nicht. Der Eigentümer des Hauses, in dem sie untergebracht waren, schnappte sich ihr gesamtes Erspartes, 16.900 libysche Dinar (entspricht heute über 12.000 Euro – red) und brachte sie – ans Meer. Auf ein Boot. So landeten sie schließlich in Lampedusa.
Über ein weiteres Lager am italienischen Festland schafften sie es nach Dortmund. Dort stießen sie – seine Frau war zum zweiten Mal schwanger – auf große Hilfsbereitschaft, auch unter den Polizisten, mit denen sie zu tun hatten. In Braunschweig kam der zweite Sohn zur Welt. In Wilhelmshaven schließlich gelang es einer Ärztin im St. Willehad-Hospital, die abgestorbenen Blutgefäße in B.s durchschossenem Fuß wieder zum Leben zu erwecken. Noch immer erfüllt ihn das mit Freude und großer Dankbarkeit.
Herrn B. ist viel an der Glaubwürdigkeit seiner Erzählung gelegen. Er zeigt die Narbe an seinem Fuß und reicht die UNHCR-Zertifikate herum, die ihn und seine Frau als Flüchtlinge unter Schutz stellen. Und es gibt ein Video auf Youtube, in dem beide mit dem ersten Sohn nach der Flucht über das Mittelmeer zu sehen sind.
Herr S. ist seit 20 Monaten in Wilhelmshaven und spricht sehr gut Deutsch. Er beschreibt das Kernproblem in seiner Heimat: Die Verquickung von Politik und Religion. „Die Religion ist das Gesetz. Das bedeutet, es gibt keine Freiheit. Es gibt zum Beispiel extra eine Polizei, die nur darauf achtet, welche Kleidung die Frauen tragen“. Er ist Ingenieur, hat, wie auch seine Frau, einen Magistertitel, der Sohn ist hochintelligent.
Er bringt den Zuschauern nahe, was Heimweh bedeutet – fern sein von dem Ort, wo man aufgewachsen ist, wo Freunde und Familie leben. Über Schlepper ist er mit Frau und Sohn zuerst nach Braunschweig gekommen. Wilhelmshaven gefällt ihm besser, hier ist es übersichtlicher, man findet sich leichter zurecht. Sein Zukunftswunsch ist, Theologie zu studieren. Auch deshalb ist es ihm so wichtig, die deutsche Sprache zu lernen. Ehrenamtlich engagiert er sich für die „Tafel“ und als Integrationshelfer für andere Flüchtlinge.
Herr S. übersetzt den Bericht seines Landsmannes M.: Dieser ist Bauingenieur und hat schon einige Erfindungen gemacht. Im Iran hatte er Familie, Arbeit, ein Haus, ein Auto. Und große Probleme: „Im Iran wirst Du als Moslem geboren und bleibst es Dein Leben lang“. Herr M. ist aber Atheist. Und sollte für das iranische Atomprogramm arbeiten. Er ist geflohen und möchte hier bleiben und „nützlich sein für Deutschland“, sagt er.
Frau L. ist seit zwei Jahren hier und spricht ebenfalls gut Deutsch. Sie hat 25 Jahre Berufserfahrung in der Medizintechnik. Über ein Praktikum im Bereich Mikrobiologie hofft sie, in diesem Beruf arbeiten zu können.
Frau P. hat durch den Krieg ihren Ehemann verloren. Ihr kleiner Sohn war ein Jahr lang vermisst, mit Hilfe der UN wurde er wiedergefunden. Seit acht Jahren ist die gelernte Friseurin in Deutschland, jetzt hat sie endlich den ersehnten Platz in einem Deutsch-Sprachkurs bekommen. Ihr Sohn ist in der 4. Klasse und bringt gute Noten nach Hause, erzählt sie stolz. Noch haben die beiden nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis.
Herr K. berichtet auf Deutsch: Während der langen Diktatur Saddam Husseins gehörte er zur Opposition. „Es war immer Krieg, Partei gegen Partei, Religion gegen Religion“. Herr K. hat dem Militär den Rücken gekehrt. „Seit 1968 gab es sechs Millionen Tote“, darunter auch Mitglieder seiner Familie. Über die Türkei kam Herr K. nach Deutschland.
Herr A. und sein Sohn, der für ihn dolmetscht, sind seit vier Jahren hier. Mutter und Geschwister kamen ein Jahr später. Die Kinder gehen aufs Gymnasium oder sind in der Ausbildung. Die Familie gehört zur Minderheit der Jesiden. Seit Jahrtausenden leben die verschiedenen Religionsgruppen zusammen. „Am 3.8.2014 wurde unsere Heimatstadt von der ISIS angegriffen. Mehr als 5000 Frauen und Mädchen wurden entführt, über 7000 Männer und Alte abgeschlachtet. 50.000 sind ins Gebirge geflüchtet und leben im Camp. Dort schneit es jetzt.“ In Deutschland fühlt er sich sicher, aber er hat Angst um die Verwandten, die in Kurdistan geblieben sind.
Zehn Geschichten, Schicksale, zehn Menschen und ihre Familien, die etwas gemeinsam haben: Sie fühlen sich in Wilhelmshaven sehr freundlich aufgenommen und empfinden große Dankbarkeit. Zehn Familien, die hier bleiben und sich integrieren möchten. Die, wenn sich ihr Traum erfüllt, unsere Stadt bereichern werden: menschlich, kulturell, sozial.
Als Symbol für den interkulturellen Austausch reichte Johann Janssen zum Abschluss einen kugeligen Gegenstand herum, dessen Zweck die Flüchtlinge erraten durften. Des Rätsels Lösung: Eine Einladung zur gemeinsamen Boßeltour. Das adäquate Gegenstück zum „Besenwerfen zur Rettung des Abendlandes“, zu dem ein Ratsmitglied der CDU unlängst eingeladen hatte.
AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2013 ZUR WELTWEITEN LAGE DER MENSCHENRECHTE
Der Amnesty Report 2013 gibt Auskunft über die Lage der Menschenrechte im Jahr 2012. Ein analytisches Vorwort, kurze Regionalkapitel und detaillierte Berichte über 159 Länder und Territorien bieten einen Überblick über die Menschenrechtsverletzungen der Machthabenden und die Aktionen derjenigen, die gegen Unrecht und Unterdrückung eintreten.
Broschur mit Länderkarten, ca. 480 Seiten, deutsche Ausgabe, S. Fischer Verlag und Amnesty International Deutschland, ISBN-Nr.: 978-3-10-000837-4
Art.Nr.: 03013 14,99 €
2 Zum Schutz der Flüchtlingsfamilien werden hier keine Namen genannt.
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