Ersatzdroge Codein
Feb 051997
 

So oder So??

Die Uni Oldenburg legt Befragungsbericht zur Situation Codeinsubtituierter vor – Rohypnol gefährdet die Erfolge dieser Behandlung

(noa) Etwa fünf Jahre ist es her, daß der GEGENWIND in mehreren Ausgaben über das Thema Drogen schrieb. Damals gab es einen Arzt in Wilhelmshaven, der Heroinsüchtigen Codeinsaft als Ersatzdroge verschrieb und sowohl von Kollegen als auch von den Kassen viel Schelte einstecken mußte. Das hat sich in der Zwischenzeit gründlich geändert.

Noch ist die Substitution von Junkies mittels Codein offiziell kein “Programm” (wie das “Methadon-Programm”), faktisch ist es längst eines. Die Deutsche Gesellschaft für Drogen- und Suchtmedizin hat Leitlinien zur Substitution von Hartdrogenabhängigen außer mit Methadon u.a. mit Dihydrocodein herausgegeben. Ziel ist es, “diese wichtige Behandlungsmethode möglichst vielen Heroinabhängigen möglichst schnell zugänglich” zu machen.
tagesablaufAuch innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigung Wilhelmshaven-Friesland gibt es inzwischen einen Qualitätszirkel “Substitution”, und die Erfolge von dessen “Codein- Programms” sind neuerdings sogar wissenschaftlich erwiesen. Im vergangenen Jahr wurden die Ergebnisse einer Befragung von 56 PatientInnen aus fünf Wilhelmshavener Arztpraxen, durchgeführt von einer Arbeitseinheit Psychologie im Gesundheitswesen des Fachbereichs 5 der Universität Oldenburg, ausgewertet.
Es hat sich dabei herausgestellt, daß der Gesundheitszustand, der berufliche Status und die Wohnsituation der Betroffenen sich seit der Substitutionstherapie deutlich verbessert haben und daß die Behandlung zu einer Stabilisierung des sozialen Umfeldes (Freundschaften, Partnerschaften, Freizeitverhalten, soziale Eingebundenheit) beigetragen hat.
Nach einigen Jahren, in denen Wilhelmshaven je keine oder nur einen Drogentoten zu beklagen hatte, starben nun im Jahr 1996 sechs Personen hier durch ihren Drogenkonsum. Gegner der Substitutionsbehandlung, die es immer noch gibt, führen das auf die Verschreibung von Ersatzdrogen durch Ärzte zurück. “Die Junkies gehen Freitagnachmit- tag nacheinander zu mehreren Ärzten und lassen sich Codein und Rohypnol verschreiben, und dann verticken sie das Zeug und besorgen sich vom Erlös Heroin”, erfuhren wir von einem, der die Drogenszene gut kennt.
Codein und Rohypnol sind nun zwei Medikamente, die sehr unterschiedlich wirken.
Dihydrocodein beseitigt völlig die Entzugssymptome, die auftreten, wenn der Junkie sein Heroin nicht mehr bekommt. Es produziert jedoch keinen “Kick”. Die Illusion von Stärke, Sicherheit und Geborgenheit, die das Heroin dem Süchtigen beschert hat, kann er mit DHC nicht erleben. Im Unterschied zum Heroin beseitigt DHC nicht die Unlust, die Angst, die Anspannung. Da es aber von den Entzugssymptomen befreit, macht es den Menschen frei für ein normales Leben.tagesablauf 2
Über die Wirkung von Rohypnol (Flunitrazepam) berichtet ein ehemaliger User: Der Wirkstoff Flunitrazepam verstärkt die Wirkung von Heroin, Codein und Methadon. Bei hohen Dosen können lebensgefährliche Vergiftungen mit Atemdepression auftreten. Rohypnol bewirkt einen euphorischen Dämmerzustand, wobei die Konsumenten jedoch glauben, wach und bei vollem Bewußtsein zu sein – eine gefährliche Fehleinschätzung. Undeutliche Artikulation, Sprachstörungen, Koordinationsstörungen, Gedächtnislücken, übertriebener Rede- und Handlungsdrang, Enthemmtheit, Apathie sind die unmittelbaren Wirkungen der Rohypnol-Einnahme.
Viele Konsumenten kombinieren Rohypnol mit Alkohol. Dies ist eine gefährliche Mischung, da sich die Wirkungen beider Drogen gegenseitig verstärken. Der Konsument hat dann kaum noch Kontrolle über sich selbst; Unfälle und schwere Verletzungen z.B. durch Stürze sind oft die Folge – dies erklärt, warum in der “Szene” so viele Leute mit Platz- und Schürfwunden rumlaufen.
Bei längerem Konsum von Flunitrazepam erlischt das Interesse an der Umwelt immer mehr; die Konsumenten isolieren sich schließlich vollständig.
Die Zunahme der Drogentoten in Wilhelmshaven ist auffällig hoch. Zum Vergleich: Nach Angaben des Landeskriminalamtes starben 1994 landesweit 139 Drogenkranke, 1995 waren es 99, 1996 stieg die Zahl auf 120. Das ist nach einem deutlichen Rückgang um ca. 30% eine Zunahme um ca. 20 % in Niedersachsen. Zwar ist es immer problematisch, Statistiken zu vergleichen, wenn man eine kleine Bezugsgröße zugrundelegt, doch die Versechsfachung der Drogentoten in Wilhelmshaven ist alarmierend.
alltagEin Grund ist mit ziemlicher Sicherheit der gesunkene Preis für Heroin. Solange an die Droge einigermaßen günstig ranzukommen ist, ist es für einen Junkie bequemer, weiter zu fixen als sich substituieren zu lassen. Das Ersatzmedikament müssen die Süchtigen selber bezahlen. “Von den Substituierten dieser Stichprobe bezahlten mehr als drei Viertel ihre Behandlung selbst. (…) Nur wenige Behandlungen wurden von der Krankenkasse getragen (7,5% der Männer, 23,1% der Frauen), andere Finanzierungsquellen wurden sehr selten genannt”, stellt die Untersuchung der Uni Oldenburg fest. Sparen kann man mit einer Substitutionstherapie also, wenn man viel Codein braucht, zunächst nicht sehr viel. Und eine gewissenhaft durchgeführte Substitutionsbehandlung erlegt dem Patienten manche Unbequemlichkeit auf. Ein Wilhelmshavener Arzt schließt mit seinen drogenkranken Patienten z.B. einen Vertrag, der diese verpflichtet, einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit nachzugehen, und sie müssen sich jederzeit zu Urin-Kontrollen bereit erklären. Substitution ist mitnichten eine “Sucht auf Krankenschein”, wie die Gegner dieser Therapieform gerne behaupten.
Angesichts der Beschreibung der Wirkungen von Rohypnol ist zu vermuten, daß ein weiterer Grund für die überproportionale Zunahme der Drogentoten die Überschwemmung des Marktes mit diesem Medikament ist. Wie aus einem Rundschreiben der Kassenärztlichen Vereinigung hervorgeht, stammen diese Mengen des Mittels “größtenteils aus dem Verordnungsvolumen niedergelassener Ärzte”, und deshalb werden die Ärzte und Ärztinnen in Wilhelmshaven gebeten, bei der Verordnung dieses Medikaments darauf zu achten, daß ein Mißbrauch weitgehend ausgeschlossen wird. “Der Mißbrauch des Rohypnols macht die langwierige und schwierige Resozialisation im Rahmen einer Substitutionstherapie zunichte”, heißt es in dem Rundschreiben. Und etwas anderes als Mißbrauch kann gar nicht beabsichtigt sein, wenn jemand sich dieses Medikament regelmäßig in großen Packungen vom Allgemeinarzt verschreiben läßt, etwas anderes als Mißbrauch kann gar nicht vorliegen, wenn ein Gynäkologe das Mittel verordnet.
Unwissenheit kann bei den Ärzten nicht dahinterstecken, wenn sie Drogenabhängigen Flunitrazepam verschreiben. Schon 1992 hat die Pharma-Firma Hoffmann-La Roche auf Veranlassung des damaligen Bundesgesundheitsamtes die absolute Kontraindikation “Drogenabhängigkeit” und “Patienten mit Abängigkeitsanamnese” in die Fachinformation aufgenommen, und seit 1993 steht dies mit dem Hinweis “Es hat sich gezeigt, daß Rohypnol von Drogenabhängigen mißbraucht wird” auch bei vergleichbaren Medikamenten anderer Arzneimittelhersteller in der Fachinformation. Der Hinweis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (früher BGA), daß die “Verantwortung (…) beim jeweilig verordnenden Medi- ziner” liegt, scheint auf einige Mitglieder dieser Zunft in Wilhelmshaven wenig Eindruck zu machen.

Die Daten zu den Diagrammen auf dieser Seite entnahmen wir dem Ende 1996 veröffentlichten Bericht „Zur Situation von Codeinsubstituierten in Wilhelmshaven“; erstellt vom Fachbereich 5 der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. codein

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