Durchblicker und Verwirrte
Jan 312008
 

Menzel, Kohle, Emotionen

von Imke Zwoch

Es herrscht Krieg in Wilhelmshaven. Auf einer Seite stehen die Durchblicker, auf der anderen die Verwirrten. Hier die Vernunft, da der Bauch. Zur jeweils ersten Kategorie zählen sich selbst der Oberbürgermeister und diverse andere Vertreter der städtischen Politik und Wirtschaft, die gleichzeitig Tausende Wilhelmshavener BürgerInnen, darunter mindestens 118 Ärztinnen und Ärzte, der anderen Schublade zuordnen.


Es geht dabei um viel Kohle, um faktisch zwei, optional insgesamt vier Kohlekraftwerke im Rüstersieler Groden. Es geht um 110 oder auch 300 Arbeitsplätze und möglicherweise auch Gewerbesteuer. Es geht aber auch um CO2 und um Feinstaub, Cadmium, Blei, Arsen, Nickel und Quecksilber, die über angrenzenden Wohngebieten herniedergehen, oder auch über dem Jadebusen, der mit seiner Tier- und Pflanzenwelt als Teil des Nationalparks Wattenmeer und durch europäisches Naturschutzrecht geschützt ist. Der zudem durch die Kühlwassereinleitung stellenweise um bis zu 10 Grad, dauerhaft großflächig um bis zu 1 Grad erwärmt wird. Und der nicht zuletzt Lebensgrundlage der Tourismuswirtschaft ist, mit über 3.000 Arbeitsplätzen allein im Wangerland, und für einige Fischereibetriebe.
Vorab: Thema der nachfolgenden Betrachtung ist nicht Herr Menzel; er ist nur Stichwortgeber für eine grundlegende Debatte um Freiheit, Demokratie und Bürgerrechte, die wir hier anstoßen wollen. Seine MitstreiterInnen aus dem Pro-Kohlekraft-Block können sich dabei auch angesprochen fühlen – nicht nur jene, die sich, wenn auch mehr im Hintergrund, ähnlich despektierlich gegen die Bürgerbewegung geäußert haben. Sondern auch jene, die nicht laut dagegen aufbegehren oder ihre Parteigenossen mal zurückpfeifen.
Jenen, die gesundheitliche und ökologische Bedenken gegen die geplanten Industrieansiedlungen äußern, wirft Menzel vor, emotional zu argumentieren. Womit er natürlich Recht hat. Denn, mal scharf nachgedacht: Gibt es irgendeine menschliche Handlung oder Äußerung, die nicht emotionsgesteuert ist? Wenn wir beurteilen, ob etwas richtig oder falsch ist, nutzen wir zwar externe Informationen, setzen diese aber in Beziehung zu unseren individuellen Erfahrungen, die von bestimmten Gefühlen begleitet sind.
Suchen Sie mal irgendeine wertende (politische) Äußerung, die nicht emotional geprägt ist und an die Gefühle Dritter appelliert, egal ob es um Arbeitsplätze, Benzinpreise, Klimawandel, Kampfhunde oder Kopftücher geht. Selbst wenn zwei Menschen dieselbe Statistik lesen, ziehen sie daraus unterschiedliche Schlussfolgerungen, weil sie an gleiche Werte unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Für den Kraftwerksingenieur ist die Menge X an Feinstaub ein Grund zur Freude, weil er stolz darauf ist, Grenzwerte einzuhalten. Weil es sein Lebenswerk ist, die Technik so hinzukriegen. Für den Lungenfacharzt ist die gleiche Menge X eine Katastrophe, weil er schon so viel Leid erlebt hat, weil er vielen Patienten nicht mehr helfen konnte und es doch sein Lebenswerk ist, dies zu tun.
Beide sind im Recht, und beide sind nette Menschen. Wenn zwei Menschen unterschiedlicher Ansicht sind, müssen sie sich zwar nicht lieb haben, aber deswegen auch nicht hassen.
Im Duden steht unter „Emotion“ zu lesen: „Gemütsbewegung, seelische Erregung, Gefühlszustand; vgl. Affekt“. Machen wir: „Affekt: heftige Erregung, Zustand einer außergewöhnlichen seelischen Angespanntheit. (nur Plural): Leidenschaften.“ Gleich nach „Emotion“ findet sich der Begriff „Empathie: Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellung anderer Menschen einzufühlen.“
Emotional geprägtes Denken, Sprechen und Handeln kann man niemandem vorwerfen, denn unser Unterbewusstsein können wir nicht steuern. Wohl aber darf man es jemandem zum Vorwurf machen, sich in einer Art zu äußern, die andere in ihrer Freiheit und Integrität verletzt, deren Status nicht respektiert, sie diskriminiert. [„diskriminieren: durch (unzutreffende) Äußerungen in der Öffentlichkeit jmds. Ansehen, Ruf schaden, ihn herabsetzen“].
Empathie für den OB sagt uns: Es ist sein Lebenswerk, diese Stadt aus dem Sumpf der Verschuldung und Arbeitslosigkeit herauszuholen und jeden Strohhalm dafür zu ergreifen. Dafür kämpft er mit Leidenschaft, und deshalb fühlt er sich vermutlich persönlich angegriffen, wenn irgendjemand seine Überzeugungen in Zweifel zieht. Anders lässt sich kaum erklären, weshalb er so außergewöhnlich emotional reagiert. Erklären, aber nicht entschuldigen, dass er in der Auseinandersetzung mit Kritikern in Form und Inhalt immer wieder unter die Gürtellinie rutscht. Dabei ist es doch nichts weiter als sein Job, OB zu sein; könnte er das besser von seiner Person trennen, würde er wohl entspannter auftreten.
Freilich gibt es auch einzelne frustrierte BürgerInnen, auf beiden Seiten der Kohlekraftwerksfront, die sich in Polemik verirren, oft erkennbar gepaart mit mangelndem Hintergrundwissen. Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass die Bürgerinitiative „Zeche Rüstersieler Groden“ weiter ihren Kurs des sachlichen und höflichen Umgangs hält. Wenn schon der erste Mann der Stadt nicht mit gutem Beispiel vorangeht, dann eben umgekehrt.

Wer zahlt die Zeche?

Schenkt man Äußerungen gewisser Kraftwerksbefürworter Glauben, dann ist die Bürgerinitiative „Zeche Rüstersieler Groden“ vom grünen Ratsherrn und Landtagskandidaten Werner Biehl gesteuert, der seinen Schwiegersohn dafür als Handlanger eingesetzt hat.
Dies bedarf einer Richtigstellung: Keine Partei oder sonstige Organisation beherrscht diese Bürgerinitiative. Der Widerstand gegen die Kraftwerksansiedlung regte sich bereits Mitte vergangenen Jahres. Mehrere (bis dahin völlig unpolitische bzw. nicht aktive) BürgerInnen aus Rüstersiel traten über Leserbriefe an die Öffentlichkeit und wandten sich zuerst an die BUND-Kreisgruppe Wilhelmshaven, um sich Informationen und Unterstützung zu holen. Zunächst waren sie entmutigt, als sie gewahr wurden, welche rechtlichen und formalen Hürden sich vor ihnen auftaten. Je näher die konkrete Planung rückte, umso größer wurden Ängste und Bedenken, die sich dann in Mut und Aktivitäten verwandelten. Erst anlässlich des Ratsbeschlusses über den Entwurf des Bebauungsplanes wurden die kritischen BürgerInnen auch von jenen Parteien unterstützt, die im Rat dagegen gestimmt hatten. (Grüne, LAW und BASU)

Wagnis Demokratie

Das Leitmotiv „Mehr Demokratie wagen“ wurde bereits 1969 von der sozial-liberalen Koalition im Bundestag geprägt und seitdem immer mal wieder im Wahl- und Parteienkampf bemüht. Eigentlich ist es ein doppelter Widerspruch in sich: „Mehr Demokratie“ ist ähnlich unsinnig wie „mehr Wetter“ oder „ein bisschen schwanger“. Entweder gibt es ein allgemeines Recht auf freie Meinungsäußerung (Dieses Recht endet freilich dort, wo die persönliche und / oder körperliche Freiheit und Integrität Dritter verletzt wird – verbale Hetze bis hin zu körperlicher Gewalt gegen Menschen anderer Herkunft, Sexualität, Religion, Bildung, wegen ihres Geschlechts oder ihres sozialen Status ist nicht tolerabel) und Mitbestimmung, oder es gibt dieses nicht, dann ist es keine Demokratie, und man sollte weiter daran arbeiten, dass es eine wird, und dafür ist es vor allem wichtig, die bereits hart erkämpften demokratischen Bausteine, also Rechte zu nutzen, zu leben und nie wieder preiszugeben.
Und wenn es denn ein Wagnis ist, wenn es persönliche Nachteile und Risiken mit sich bringt, Demokratie zu leben, dann kann es kein demokratischer Raum sein, in dem dieses stattfindet.
De facto ist es hierzulande immer noch, immer wieder und immer mehr ein Wagnis, von Bürgerrechten Gebrauch zu machen, wenn deren Wahrnehmung den Zielen politischer und wirtschaftlicher Macht entgegensteht. Man läuft Gefahr, öffentlich ausgegrenzt und als unbelehrbare Randperson oder –gruppe abgestempelt zu werden.
Die Bürgerinitiative hat von einem Recht Gebrauch gemacht, das ihr nach der Niedersächsischen Gemeindeordnung (NGO) zusteht: ein Bürgerbegehren mit dem Ziel, dass die Stadt die BürgerInnen nach ihrer Meinung zur Ansiedlung weiterer Kohlekraftwerke befragt. Für dieses Begehren sind 6.000 Unterschriften erforderlich. (Der Rat der Stadt kann auch von sich aus, ohne dass die erforderlichen Unterschriften gesammelt werden, eine Bürgerbefragung einleiten. Dies wird die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen auf der Ratssitzung am 30.1.2008 beantragen.) In Wind und Kälte standen die BI-Mitglieder auf Wochenmärkten und an anderen Anlaufpunkten und hatten schon nach drei Wochen ein Drittel der Unterschriften zusammen. Wegen angeblicher formaler Mängel wurde die Initiative dann von der Stadt ausgebremst. Erst wenn hierüber ein schriftlicher Bescheid vorliegt, kann die BI das rechtlich überprüfen lassen. Unabhängig davon wird erst einmal weiter gesammelt. ( Im saarländischen Ensdorf hat eine Bürgerbefragung, unterstützt durch den saarländischen Ärzteverband, die Ansiedlung eines Kohlekraftwerks verhindert – vielleicht auch ein Grund für den Widerstand aus dem hiesigen Rathaus.) Die Aktion lohnt sich schon allein wegen der Erfahrungen, Rückmeldungen und Gespräche, die sich daraus ergeben. Vor allem ältere Menschen, die oft noch selbst die Diktatur des Dritten Reiches miterlebt haben, leisten ganz selbstverständlich ihre Unterschrift – sie wissen den Wert demokratischer Rechte zu schätzen. Jüngere nehmen diese als selbstverständlich hin, nutzen sie aber oft nicht, zumal wenn sie Mitbestimmung als Farce betrachten: „Die da oben machen sowieso, was sie wollen“ – womit sie, wie die Erfahrung lehrt, leider nicht unrecht haben – es fehlt allein die Erkenntnis, dass man dann erst recht dafür kämpfen sollte. Es unterschreiben auch ausdrückliche Befürworter der Kohlekraftwerke – völlig richtig, denn es geht dabei um ein Meinungsbild, nicht um Meinungsmache.
Erschreckend: Viele – ob Befürworter oder Gegner der Kraftwerke – signalisieren großes Interesse, unterschreiben aber nicht aus Angst vor ihrem Arbeitgeber, weil sie im Rathaus oder in einem Industriebetrieb beschäftigt sind. Wohlgemerkt: Diese Unterschrift ist allein eine Zustimmung, dass eine Bürgerbefragung durchgeführt werden soll, aber noch kein Votum für oder gegen Kohlekraftwerke. Das erfolgt erst, und zwar in geheimer Abstimmung, wenn die Befragung stattfindet. So weit sind wir also schon wieder: Dass BürgerInnen Angst haben, Repressalien erwarten, weil sie von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen. Gruselig, oder? ((Warum wir an dieser Stelle nicht leichtfertig Rosa Luxemburgs berühmte Freiheitsdefinition zitieren, ist nachzulesen unter http://www.freitag.de/2000/39/00392101.htm. Die Lektüre ist höchst empfehlenswert und erübrigt weitere Erläuterungen.)
Die Botschaft, die da vermittelt wird, lautet: Wer keinen Ärger will (bzw. erträgt), sollte besser die Klappe halten. Keine Leserbriefe schreiben und keinen BIs beitreten, die der herrschenden Auffassung Paroli bieten. Die Rüstersieler „Zechenkumpel“ ertragen so einige Repressalien, die darin bestehen, öffentlich diffamiert zu werden.

Angst vor den Unabhängigen

Nicht nur in Wilhelmshaven wird bestimmten Berufsgruppen vorgeworfen, aus ihrer sicheren Position heraus „gegen Arbeitsplätze“ zu sein (wenn sie ihre Bedenken gegen umwelt- und gesundheitsschädliche Vorhaben kundtun). Mal sind LehrerInnen betroffen, mal ÄrztInnen. Es geht um Personen, die relativ frei von materiellen Abhängigkeiten agieren können – wer weitgehend unkündbar ist oder selbständig, muss nicht vor einem Arbeitgeber oder dessen Interessensklientel duckmäusern. Die Neiddebatte, die gegen kritische Menschen aus diesen Kreisen losgetreten wird, basiert also eigentlich nicht auf dem Neid auf ihre wirtschaftliche und soziale Situation, sondern dem Neid auf deren Freiheit – bzw. die Angst der Herrschenden vor deren Unabhängigkeit – hier greifen die Repressalien nicht.
Statt Unabhängigkeit als Makel und frei denkende und handelnde Personen/-gruppen als ungeliebte Außenseiter darzustellen, sollte es doch umgekehrt ein gesellschaftliches Ziel sein, allen Menschen diese Unabhängigkeit zu ermöglichen und jede Einflussnahme durch Vorgesetzte zu unterbinden.
Somit ist es persönlich wie gesellschaftlich völlig daneben, eine Gruppe Andersdenkender als „Allianz der Unvernunft“ zu diffamieren. Es ist unterste Schuhsohle, Details aus dem Privat- und Familienleben politischer Gegner herauszuposaunen mit dem Ziel, sie lächerlich oder unglaubwürdig zu machen. (Allein Werner Biehl und sein Schwiegersohn haben zu entscheiden, wer über ihre familiäre Beziehung etwas erfahren soll.) Es ist ungezogen, wenn ein Stadtoberhaupt den Überbringer einer Petition wie Luft behandelt. In diesem Fall war es ein Arzt und damit auch Gastgeber des Neujahrsempfangs der Ärztekammer, zu dem der OB eingeladen war. Gegenüber einem Hartz-IV-Empfänger auf der Straße wäre eine solche Ignoranz aber nicht weniger schlimm.
Und es ist, mit Verlaub, totaler Quatsch, jemandem (mit Seitenhieb auf dessen gutes Einkommen) zu unterstellen, er würde anderen einen Arbeitsplatz „verwehren“. Hier kochen Emotionen hoch bis zur logischen wie geschmacklichen Entgleisung.

Emossionen, Emitionen oder was?

Zur Erinnerung: Anlässlich einer Petition zu den gesundheitlichen Risiken der geplanten Kraftwerke, die von 118 hiesigen ÄrztInnen unterzeichnet und als Zeitungsannonce veröffentlicht wurde, eskalierte die Stimmung im Rathaus. Es folgte Menzels Rede auf dem Neujahrsempfang der Ärzte: Die Anzeige bediene sich Emotionen und male ein „Horrorszenario“; die Initiatoren würden ihren Glaubwürdigkeitsbonus in der Bevölkerung „ausnutzen“ und dass „gerade Ärzte als nicht gerade die Schlechtverdienendsten in dieser Stadt“ anderen Menschen einen Arbeitsplatz „verwehren“ würden, bezeichnete er als „fraglich“. Angeblich rechneten die Ärzte mit völlig falschen Emissionswerten, bezogen auf vier Kraftwerke statt eines.
Bei der von Menzel als völlig abstrus dargestellten Rechenart handelt es sich schlicht um einen Dreisatz: Laut Bauleitplanung bestehen im Rüstersieler Groden Optionen für vier Kraftwerke mit einer Leistung von insgesamt 4.000 Megawatt (MW). Man nimmt die Emission X eines bestehenden Kraftwerks als Grundlage, teilt sie durch dessen Leistung Y (in MW) und multipliziert sie mit 4.000, um die mögliche Gesamtemission am Standort Wilhelmshaven zu ermitteln. Natürlich gibt es Abweichungen, weil die Technik des Modellkraftwerks, z. B. bestimmte Filter, oder aber auch die Herkunft der Kohle, eine andere ist als hier vorgesehen. Aber von der Größenordnung her liegt man so falsch nicht, wie Dr. Klaus Schmeding, Sprecher der Ärzteinitiative, auf der Diskussionsveranstaltung im Gorch-Fock-Haus darstellen konnte. Zum Vergleich zog er die offiziellen Angaben des Betreibers heran, die erst im Zuge des Genehmigungsverfahrens öffentlich verfügbar wurden.
Das „Horrorszenario“ sieht Menzel auch in einem Bild, das in der Anzeige und auf der Homepage der Ärzte veröffentlicht ist: Ein Blick von Süden über den großen Hafen zeigt vier Kraftwerke, deren Abgase gebündelt gen Jadebusen ziehen. Durch die Größenverhältnisse und „Geistersilhouetten“ ist auf den ersten Blick erkennbar, dass es sich um eine symbolisch gemeinte Montage handelt. Nichts anderes macht Electrabel: Vorträge, Prospekte und Internetseite arbeiten mit Luftbildprojektionen, die ein adrett aussehendes Kraftwerk neben einer ebensolchen Kohlehalde zeigt, mitten im Grünen, ohne Staubwolken, Abgas- oder Kühlwasserfahnen. Was der Kraftwerksleute Traum ist, ist der Ärzte Albtraum – und beide haben das gleiche Recht, dies zu visualisieren, in Bilder und Szenarien umzusetzen.
Apropos Szenarien: Damit arbeiten auch ganz offizielle Gutachten, ein gängiges Verfahren, um „was-wäre-wenn“ theoretisch zu ermitteln, ehe man eine Planung umsetzt. Dazu gehört in der Regel auch das „worst-case“-Szenario, also: Welche Auswirkungen könnte es im Extremfall geben? Die Gutacher, welche die Stadt beauftragt hat und demnach als seriös einstuft, arbeiten auch mit verschiedensten Szenarien, ob es nun um Lärm geht oder die Erwärmung des Jadebusens. Die dürfen das – die Ärzte und andere Kritiker nicht?

Wertesystem der Wirtschaftslobby

Die Liste – warum darf die eine Seite etwas tun, was der anderen zum Vorwurf gemacht wird – ließe sich noch fortsetzen. Wir schließen sie mit der Betrachtung, welche Gefühle wann zulässig und andererseits verwerflich sind. Seit Jahren appellieren Menzel und Co. an das Mitgefühl für jene, die durch Hafenbau und Industrieansiedlungen einen Arbeitsplatz in Aussicht haben. Keine Frage – für die Schaffung von Arbeitsplätzen gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Es gibt aber auch das Mitgefühl für Menschen, deren Wohn- und Lebensqualität durch solche Projekte deutlich geschmälert wird. Menschen, die durch schädliche Umwelteinflüsse krank werden. Menschen, deren Lebensunterhalt von einer intakten Natur abhängt (Tourismus, Fischerei) und durch solche Projekte gefährdet ist. Bis hin zu Emotionen für unsere Mitgeschöpfe, die selbst keine politische Stimme haben: Pflanzen und Tiere, die wir als Teil einer lebensbejahenden Umwelt oder auch um ihrer selbst willen erhalten wollen, aus ethischen bis hin zu religiösen Gründen. Solche Gefühle sind im Rahmen eines bestimmten politischen Kalküls plötzlich nicht mehr zulässig.
Wir päppeln verwaiste Robbenbabies auf und zerstören gleichzeitig die Lebensgrundlage Tausender Robben in freier Wildbahn, indem wir den Jadebusen in ein großes Kühlwassersystem verwandeln. Wir trinken für den Erhalt des Regenwaldes und holzen 60 Hektar Wald vor der Haustür ab. Wir gelten als weltoffen, wenn wir für Kinder in Südostasien spenden, die Opfer des Tsunami wurden. Doch als weltfremd wird verschrien, wer sich lokal engagiert, um dem globalen Klimawandel entgegenzutreten. 100 Arbeitsplätze in Wilhelmshaven, 3.000 in Deutschland in geplanten Kohlekraftwerken sind wichtiger als Hunderttausende Tote und Obdachlose in Südostasien – wer gut verdient, kann ja bei der nächsten Flutkatastrophe wieder etwas spenden. Etwa das, was wir durch billige Energie sparen, billige Kohleimporte auf Kosten der Zechenarbeiter in China oder der ehemaligen Sowjetunion. In der Volksrepublik China starben allein 2004 über 12.000 Minenarbeiter bei Grubenunglücken. Zwischen 1992 und 2002 kamen fast 60.000 Bergleute ums Leben. Schätzungsweise sind etwa 600.000 Bergarbeiter in mehreren zehntausend größtenteils illegalen Kleinst-Zechen tätig; dort gab es nach offiziellen Angaben im Jahr 2000 siebzehn Todesopfer pro Million Tonnen geförderter Kohle. China ist in der Statistik der Unglücksfälle derzeit weltweit führend; daneben zählen die Gruben der Ukraine zu den gefährlichsten der Welt. Hier forderten Grubenunglücke zwischen 1991 und 2002 mindestens 3.700 Todesopfer.
Doch im Interesse der Wirtschaftslobby sollen wir nur bis zum nächsten Kirchturm respektive Schornstein denken. Unser Wertesystem wird völlig durcheinandergeschüttelt. Es wird Zeit, es wieder zu ordnen. Kein Hauptverwaltungsbeamter und kein Energiekonzern der Welt hat dem Einzelnen vorzuschreiben, wie er oder sie zu bestimmten Themen oder Anliegen empfindet und sich entsprechend dafür engagiert. Es geht um existenzielle Fragen, die jede/r für sich definiert. Arbeit gehört dazu, doch hierfür gibt es Alternativen – für eine intakte Natur, Umwelt und Gesundheit nicht.

 

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