Klartext
Eine tolle Veranstaltung der Arbeitsloseninitiative
(noa) Renate Bieritz-Harder ist Juristin und lehrt Sozialrecht an der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven. Ihr Thema in der Juli-Versammlung der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland waren laut Ankündigung die „1 Euro-Jobs“, doch sie nennt sie nicht so, sondern „Arbeitsgelegenheiten“, wie es auch im Gesetz (Hartz IV) steht.
Wortklauberei? Frühere Referenten haben diese Wortwahl damit begründet, dass man bei einer solchen Tätigkeit nicht etwa für einen Euro pro Stunde arbeite, sondern, das Alg II und die Kosten der Unterkunft einschließlich Heizkosten anteilig eingerechnet, auf einen stattlichen Stundenlohn komme. Wirtschaftsminister Clement hat sich gar einmal dahin verstiegen zu behaupten, dass ein Mensch mit einer solchen Arbeitsgelegenheit einen höheren Stundensatz als er selber bekäme.
Frau Bieritz-Harder hat einen ganz anderen Grund, den Begriff „1 Euro-Job“ zu vermeiden. Er suggeriert nämlich, dass es sich um einen Job handle, und genau das ist es eben nicht.
„Wir können uns auf eine tolle Veranstaltung freuen, denn die Emder Professorin redet Klartext und niemandem nach dem Mund“, so wurde ALI-Vorsitzender Günther Kraemmer in der Veranstaltungsankündigung zitiert. Das stimmt! Nicht einmal ihren Gastgebern redete sie am 12. Juli im Gewerkschaftshaus nach dem Mund. Günther Kraemmer bezeichnet die Arbeitsgelegenheiten oder 1 Euro-Jobs gerne immer mal wieder als Zwangsarbeit, und da sagt Bieritz-Harder klar: Das trifft nicht zu. Zwangsarbeit gab es in der deutschen Geschichte, und sie fand in Arbeitshäusern statt. Und Arbeitshäuser haben wir noch nicht wieder. (Die gesetzliche Möglichkeit dafür bestand übrigens bis in die 70-er Jahre hinein!)
Sie stellte in ihrem Vortrag die „Arbeitsgelegenheiten“ in ihren historischen Kontext.
Früher mal (und so lange ist das noch gar nicht her) bedeutete die Förderung von Arbeitlosen „Anknüpfung an die Eignung und die Fähigkeiten der zu fördernden Person und die Ausschöpfung ihres Potenzials.“ Heute endet die Förderung, wenn die betreffende Person nicht mehr bedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuches II ist; auf die persönliche Entwicklung wird kein Wert mehr gelegt. Vorgesehen ist, dass jemand in Arbeit kommt, wobei es egal ist, welche Arbeit; ist absehbar, dass jemand innerhalb von 6 Monaten keine Arbeit auf dem 1. Arbeitsmarkt bekommen wird, kann es Fördermaßnahmen geben. Ein Anspruch darauf besteht nicht; die Gewährung von Fördermaßnahmen liegt im Ermessen des Fallmanagers.
In den letzten Jahren hat sich vieles geändert. Z.B. die Definition dessen, was „zumutbare Arbeit“ ist. Gab es bis 1997 fünf Qualifikationsstufen und konnte eine arbeitslose Person nach je 4 bis 6 Monaten um eine Stufe absinken, so stellte das noch einen gewissen Berufsschutz dar. Auch einen Entgeltschutz gab es: Nach 4 bis 6 Monaten Arbeitslosigkeit konnte man auf ein Entgelt in Höhe von 80 % des vorigen absinken, bestimmt aber nicht tiefer fallen.
1997 wurde der Berufsschutz abgeschafft, und der Entgeltschutz wurde schlechter: Nach ein bis zwei Monaten Arbeitslosigkeit musste man nun schon eine Minderung des vorigen Einkommens um bis zu 20 %, nach 4 bis 6 Monaten um bis zu 30 % gegenüber dem vorigen Einkommen hinnehmen.
Mit Hartz I wurde die Einschränkung der Freizügigkeit gesetzlich verankert. Wenn ein Arbeitsloser nach einem bis drei Monaten keine Arbeit im Pendelbereich fand, wurde ein Umzug ab dem 4. Monat der Arbeitslosigkeit zumutbar.
Und Hartz IV schließlich nahm den Betroffenen die letzten Rechte. Jetzt gibt es keinen Entgeltschutz mehr, und auch Höchstpendelzeiten (bis 1997 noch 2 bis 21/2 Stunden täglich) wurden gestrichen.
Die Verschlechterung der Rechte Erwerbsloser, so stellt Frau Bieritz-Harder fest, stellt eine kontinuierliche Entwicklung dar und ist unabhängig von der jeweiligen Regierung. Es macht keinen Unterschied, welche Parteien regieren, die Entrechtung schreitet voran. Heutzutage ist fast nichts mehr unzumutbar.
Arbeitsgelegenheiten, das ist juristisch ganz eindeutig definiert, sind keine Arbeitsverhältnisse und keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Tätigkeiten, die hier verrichtet werden, müssen im „öffentlichen Interesse“ liegen, und sie müssen zusätzlich sein. Seit 1928 gibt es im deutschen Sozialrecht den Begriff der „Arbeitsgelegenheiten“, und sie haben einen pädagogischen Zweck: Der betreffende Mensch soll an das Arbeiten gewöhnt werden bzw. die Entwöhnung von der Arbeit soll vermieden werden. Hieran gemessen ist es ganz deutlich, dass derzeit sehr oft den falschen Adressaten eine solche Tätigkeit gegeben wird. Wer bis vor kurzer Zeit regelmäßig gearbeitet hat, muss bestimmt nicht erst ans Arbeiten gewöhnt werden. Und: Eine notwendige Arbeit kann nicht zusätzlich sein. Man denke etwa daran, dass ein Pflegedienst eine Arbeitsgelegenheit schafft, bei der Verbandmaterial ausgepackt und verstaut werden soll, oder dass ein Wohnheim jemanden beschäftigt, der die Tische zu den Mahlzeiten deckt – diesen Arbeiten müssen auf jeden Fall verrichtet werden und können nicht als „1 Euro-Jobs“ laufen. Ebenso fallen laut Frau Bieritz-Harder Arbeiten in Grünanlagen aus der Definition der Arbeitsgelegenheiten.
„Es passiert sehr viel Missbrauch“, sagt Frau Bieritz-Harder, und Rechtsanwalt Alfred Kroll, der gekommen war, um nebenbei kurz zu berichten, wie das Sozialgericht Oldenburg über die Praxis der Wilhelmshavener ARGE urteilt, konnte ein besonders eklatantes Beispiel von Missbrauch aus der näheren Umgebung beisteuern: Die Gemeinde Wiesmoor ließ einen Alg II-Empfänger für einen Euro pro Stunde Rohre verlegen, Plätze pflastern, eine Drainage legen – und das 38,5 Stunden in der Woche!
„Mehr als 20 Stunden pro Woche ist bei einer Arbeitsgelegenheit juristisch bedenklich“, findet Frau Bieritz-Harder und kommt noch einmal auf den pädagogischen Zweck zurück. Angesichts vieler Menschen, die freiwillig ihre Arbeitszeit reduzieren und nur 20 Stunden in der Woche arbeiten, kann niemand behaupten, mehr als 20 Stunden seien nötig, um die Gewöhnung an das Arbeiten zu gewährleisten. Man müsste ja sonst alle Teilzeitbeschäftigten zusätzlich in Arbeitsgelegenheiten an die Arbeit heranführen. Eine vollschichtige Arbeit als Arbeitsgelegenheit ist (schon seit 1928!) unzumutbar, einmal, weil der pädagogische Zweck diese nicht rechtfertigt, dann aber auch, weil der betreffende Mensch ja gleichzeitig Arbeit suchen soll.
Schaut man einmal genau ins Gesetz, so wird klar, dass eine Arbeitsgelegenheit auf keinen Fall ein 1 Euro-Job ist: Was einE Alg II-EmpfängerIn da bekommt, ist eine Mehraufwandsentschädigung. Wer arbeitet, hat höhere Lebenshaltungskosten: Da gibt es Fahrtkosten, evtl. Essen außer Haus, bei körperlich schwerer, Schweiß treibender Arbeit muss man häufiger als sonst duschen, bei schmutziger Arbeit muss man die Kleidung häufiger waschen usw. usf. Diesen Mehraufwand soll die arbeitslose Person nicht selber tragen – kann sie auch nicht, denn das Alg II deckt ja nur das Existenzminimum. Wer von der Mehraufwandsentschädigung etwas übrig behält, sein Alg II damit also tatsächlich aufbessert, hat Zuverdienst, von dem er nur 15 % behalten darf. Die ARGE, die einem arbeitslosen Menschen eine Arbeitsgelegenheit vermittelt, bei der er ein Plus macht, handelt rechtswidrig. Der betreffende Arbeitslose auch.
Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II dürfen (sollen? müssen? können?) jedes halbe Jahr mit dem Job-Center eine Eingliederungsvereinbarung schließen. Darin stehen Art und Umfang der Förderleistungen des Job-Centers, Art und Umfang der Bemühungen der/des Arbeitslosen, Angaben über die Nachweispflichten für diese Bemühungen und etwas zur Schadenersatzpflicht bei Abbruch einer Bildungsmaßnahme. Die Pflicht zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung besteht für Arbeitslose nicht. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Nur: Wenn jemand es nicht tut, wird das Alg II für 3 Monate um 30 % gekürzt. Und: Wenn man die Eingliederungsvereinbarung nicht freiwillig unterschreibt, erfolgt ein Verwaltungsakt desselben Inhalts. Die Sonderregelung für junge Alg II-EmpfängerInnen von 15 bis 25 Jahren sieht als Sanktion für mangelnde Kooperation den völligen Wegfall der Regelleistung vor. Wie leicht sagt ein junger Mensch spontan erst mal „Mach ich nicht“, wenn er statt der begehrten Ausbildungsstelle das Angebot auf Papier-Aufsammeln in der Marktstraße bekommt? Wenn er dann neben der Miete, die das Job-Center direkt dem Vermieter überweist, kein Geld, sondern bestenfalls Warengutscheine für Lebensmittel bekommt, lernt er fürs Leben!
Was ist mit den Leuten, die unbedingt arbeiten wollen und deshalb dringend eine Arbeitsgelegenheit wünschen? Eigentlich, so Frau Bieritz-Harder, dürften solche Leute gar keine zugewiesen bekommen, denn sie sind nicht die Adressaten, für die sie gedacht sind. (Diejenigen, die sie brauchten, werden sie eher nicht wollen.) Doch solange die Tageszeitungen jede dieser Maßnahmen begeistert feiern und als „Job“, „Stelle“, „Arbeit“ o.ä. bezeichnen, die den Arbeitslosen eine Chance auf Rückkehr auf den 1. Arbeitsmarkt eröffnet, muss man davon ausgehen, dass der Missbrauch weitergeht. Besser wäre es, alle würden diese Arbeitsgelegenheiten ablehnen. Ansonsten findet eine Spaltung statt.
„Betriebs- und Personalräte – sagt nein!“, forderte ein Teilnehmer. Doch dass Betriebs- und Personalräte sich gegen die Einrichtung von „1 Euro-Jobs“ in ihrem Betrieb/ihrer Behörde wehren, setzt voraus, dass sie überhaupt etwas davon mitkriegen. Das ist nicht immer der Fall. Erfreulich ist, was die „WZ“ am 18.07.05 auf der Niedersachsenseite meldet: Bei der Diakonie in Oldenburg wird es „Billigjobs nur mit Genehmigung“ der Mitarbeitervertretung geben, aber bestimmt hat der Personalrat der Gemeinde Wiesmoor in dem von Alfred Kroll geschilderten Fall der Beschäftigung eines Billigarbeiters nicht zugestimmt.
Ein Gast aus Norden berichtete von einer Initiative mit Folgen: Die Einrichtung einer Arbeitsgelegenheit im Bereich Kinderbetreuung hat dazu geführt, dass mittlerweile Mütter per Zeitungsanzeige Betreuung für ihre Kleinen suchen und einen Euro pro Stunde dafür bieten!
Alfred Kroll, Fachanwalt für Sozialrecht und Referent auf der April-Versammlung der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland, lieferte in der ALI-Versammlung am 12. Juli einen kurzen Nachtrag zu seinem damaligen Vortrag (vgl. „Rechtsbruch, Missbrauch, Willkür“ in GW 207). Er hatte im April über das Thema „Kosten der Unterkunft“ und den – wie er es nennt – „besonderen“ Umgang des Job-Centers Wilhelmshaven mit denselben gesprochen. In einigen Fällen hat das Sozialgericht Oldenburg mittlerweile entschieden. Gegen diese Oldenburger Gerichtsurteile hat die ARGE Wilhelmshaven Beschwerde eingelegt.
Die Praxis, Alg II-EmpfängerInnen mit Hinweis auf die hier festgelegte Höchstgrenze von 258 Euro für einen einzelnen Menschen (345 Euro für einen Zwei- und 410 Euro für einen Dreipersonen-Haushalt) nach drei Monaten nicht mehr die tatsächlichen, sondern nur noch die von ihm als „angemessen“ definierten Mietkosten zuzubilligen, ist rechtlich falsch; die ARGE muss die volle Miete mindestens für sechs Monate tragen.
Laut Kroll sind die hier als „angemessen“ bezeichneten 258 Euro rechtlich nicht haltbar. Aus den bisher erstrittenen Gerichtsentscheidungen kann man ableiten, dass die Summen, die in der Wohngeldtabelle (rechte Spalte) vermerkten Beträge angemessen sind (für eine Einzelperson 280 Euro).
Auch die Heizkosten sind in Wilhelmshaven pauschaliert worden. Das Amt trägt 51 Euro (66 Euro bei mehr als einer Person) – sie müssen aber in angemessener Höhe getragen werden, und das kann in einem Altbau mit hohen Räumen deutlich mehr sein. 0,90 Euro pro Quadratmeter zahlt Wilhelmshaven, während andere ARGEn einen vollen Euro bewilligen. Das Job-Center ignoriert die Rechte der Betroffenen „in drastischer Weise“, die Pauschalen, die es festgelegt hat, sind aus Krolls Sicht „rechtswidrig, chaotisch, undurchsichtig“. (noa)
… auch bei der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland. Aber nur, was die Monatsversammlung angeht – eine solche wird es im August nicht geben. Die nächste Monatsversammlung der ALI wird am 13. September wie immer von 10 bis 12 Uhr im Gewerkschaftshaus stattfinden.
Was weiter läuft, ist die Beratung. Hier noch einmal die Termine:
Für Wilhelmshaven jeden Montag und Donnerstag von 9.00 bis 12.00 Uhr und jeden 1. und 3. Donnerstag im Monat von 16.00 bis 18.00 Uhr im Gewerkschaftshaus in der Weserstraße 51; für Sande jeden 2. und 4. Donnerstag im Monat von 14.30 bis 16.30 Uhr im Jugendzentrum an der Hauptstraße; für Varel jeden 1. und 3. Dienstag im Monat von 9.00 bis 12.00 Uhr im DGB-Büro in der Hansastraße 9a. Die Beratung für Jever kann momentan nur telefonisch stattfinden. Das Jugendhaus in Jever ist wegen Umzuges derzeit geschlossen. Ratsuchende aus Jever können an „ihren“ Tagen – jeden 2. und 4. Mittwoch im Monat – unter der Wilhelmshavener Rufnummer 180130 ihre Anliegen vortragen. Voraussichtlich ab September wird die ALI wieder in Jever präsent sein, dann im neu errichteten Jugendhaus.
Durchgehend fleißig wollen auch die Leute vom FA-Team sein. Als ein zusätzliches Forum der ALI hat sich das „Fördern und Aktivieren“-Team letzten Sommer gegründet und seither jeden zweiten Donnerstag getagt. Die weiteren Termine für den Rest des Jahres sind:18.08., 01.09., 15.09., 29.09, 13.10., 27.10., 10.11., 24.11., 08.12., 22.12. (noa)
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