Plausible Erklärungen für eine unplausible Sache
(noa) Die Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland wollte es endlich wissen: Sollte es tatsächlich legal möglich sein, Kindern Wohngeld zu gewähren, wenn deren Eltern nicht wohngeldberechtigt sind? Am 13. November war der Leiter der Wohngeldstelle, Herr Hein, bei der ALI-Monatsversammlung, um zu erläutern, wie er das Wohngeldgesetz versteht.
Der GEGENWIND hat sich in drei Ausgaben mit diesem Thema beschäftigt. In Ausgabe 228 berichteten wir unter der Überschrift „Amtsmissbrauch“ über einen Besuch des Oldenburger Fachanwalts für Sozialrecht Alfred Kroll, der über eine neue Praxis beim Job-Center Wilhelmshaven berichtet hatte: Alleinerziehende Hartz IV-EmpfängerInnen waren aufgefordert worden, für ihre Kinder Wohngeld zu beantragen, die dann zusammen mit ihrem Unterhalt(svorschuss) und Kindergeld so viel Einkommen hatten, dass sie nicht mehr bedürftig und damit nicht mehr Mitglied der Bedarfsgemeinschaft waren.
In Ausgabe 229 mussten wir über 872 aus der Statistik verschwundene bedürftige Kinder berichten – ganz offensichtlich Ergebnis der Zahlung von Wohngeld an Kinder von Alg II-EmpfängerInnen. In Ausgabe 230 schließlich stand die Frage „Kinderwohngeld?“ über einem Artikel über eine neue Sozialleistung „made in Wilhelmshaven“, die inzwischen auch im Kreis Friesland und in Leer gewährt wird.
Wohngeld, so erklärte Herr Hein nun den TeilnehmerInnen an der ALI-Versammlung, war üblicherweise eine Sozialleistung, die einem Haushalt (nicht einer Einzelperson in einem Haushalt) zustand. Ausgeschlossen vom Wohngeldbezug sind EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II und von Sozialgeld, die die Kosten der Unterkunft vom Job-Center erstattet bekommen. (Sie sind übrigens auch dann vom Wohngeldbezug ausgeschlossen, wenn das, was ihnen das Job-Center für die Unterkunft gewährt, ihre tatsächlichen Wohnkosten nicht deckt – aber das ist ein anderes Thema!) Als Empfänger von Hartz IV-Leistungen gelten auch „die in § 7 Abs. 3 SGB II genannten Personen, die bei der gemeinsamen Ermittlung ihres Bedarfs berücksichtigt worden sind“. Und das sind z.B. „unverheiratete Kinder, soweit sie die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen können“. (Hervorhebung von –noa-) Daraus folgt, dass „unverheiratete Kinder, die ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen und Vermögen bestreiten können“, nicht als Empfänger von Alg II oder Sozialgeld gelten. Und damit können sie Wohngeld beziehen.
Vor dem Inkrafttreten von Hartz IV gab es schon einmal eine ALI-Versammlung, die sich mit dem Wohngeldgesetz befasste. Da wurde u.a. herausgearbeitet, dass eine Rentnerin, die im Haushalt von Tochter, Schwiegersohn und Enkeln wohnt, nicht zur Bedarfsgemeinschaft zählt und also evtl. wohngeldberechtigt ist. Logisch, dass auch junge Erwachsene, die noch bei den Eltern wohnen und eigenes Einkommen haben, nicht zur Bedarfsgemeinschaft im Sinne von Hartz IV zählen.
Und da liegt der Hase im Pfeffer: Bei der Wendung „unverheiratete Kinder“ denkt man ja zunächst mal an junge Menschen, die verheiratet sein könnten, also an erwachsene Kinder der erwerbslosen Eltern. Wenn z. B. ein 21-Jähriger noch bei den Eltern wohnt und genügend Lohn bekommt, um seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, dann fällt er aus dem beschriebenen Personenkreis heraus, zählt nicht zur Bedarfsgemeinschaft und ist wohngeldberechtigt. Sollte aber auch ein Säugling oder ein Kindergarten- oder Schulkind damit gemeint sein können?
Das konnte sich bei der ALI niemand so richtig vorstellen. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, anzunehmen, dass ein Kind nicht zur Familie gehört, und sei es auch nur rechnerisch. Der Gesetzestext gibt aber genau das her.
Ein 4-Jähriges ist nicht verheiratet, und wenn es Unterhalt und Kindergeld bekommt, dann überschreitet dieses „Einkommen“ u.U. schon den Hartz IV-Regelsatz für 4-Jährige, ergo ist es nicht bedürftig, ergo gehört es nicht zur Bedarfsgemeinschaft, ergo hat es Anspruch auf Wohngeld.
Soweit okay, das kann man vielleicht noch nachvollziehen. Doch die Kinder der Hartz IV-berechtigten alleinerziehenden Mütter oder Väter, die in den letzten Monaten zur Beantragung von Wohngeld für ihre Kinder aufgefordert worden waren, waren nicht alle so „wohlhabend“, dass sie ihren Lebensunterhalt alleine bestreiten konnten. Da war es in vielen Fällen so, dass erst der Bezug von Wohngeld sie finanziell unabhängig machte. Ohne das Wohngeld gehörten sie also – wie die Kinder in „vollständigen“ Familien auch – zur Familie. Wie können sie wohngeldberechtigt sein?
Herr Hein hat die Gesetze gründlich studiert und herausgefunden: Laut § 3 Abs. 3 SGB II ist der Bezug von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld nachrangig: Erst wenn alle anderen Sozialleistungen in Anspruch genommen worden sind und man dann immer noch bedürftig ist, hat man ein Recht auf Leistungen nach dem SGB II. Wohngeld geht also vor Sozialgeld. Und so kann es sein, dass ein Familienoberhaupt gezwungen werden kann, im Namen seines/ihres minderjährigen Kindes Wohngeld zu beantragen und dieses damit aus der Bedarfsgemeinschaft herauszurechnen. „Kinderwohngeld muss beantragt werden, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen“, erklärte Herr Hein.
„Es ist also ein Zwangswohngeld“, schloss Günther Kraemmer von der ALI daraus, wovon sich Herr Hein umgehend distanzierte. Während seiner ganzen Ausführungen hatte er sich immer wieder zwischendurch vergewissert, dass seine ZuhörerInnen ihm folgen konnten und sein Verständnis der Gesetze nachvollziehen konnten. Und da es alles sehr plausibel war – Gesetzestext ist nun man Gesetzestext – nickten und murmelten sie jeweils zustimmend. Unklar blieb, warum in ganz Deutschland außer Herrn Hein niemand sonst diese Worte in den Gesetzen so verstanden hat. Er war der erste Wohngeldstellenleiter, der das Kinderwohngeld gewährte; seine Kollegen in Friesland und Leer haben es ihm nachgemacht . Wenn das so klar im Gesetz steht – warum war es dann nicht von Anfang an für die Wohngeldstellen in allen Städten klar? Diese Frage konnte Herr Hein natürlich nicht beantworten.
Dass durch die neue Praxis („Veränderungen im operativen Geschäft“ – vgl. GW 230) Kinder statistisch zum Verschwinden gebracht wurden und damit das tatsächliche Ausmaß der Kinderarmut in Wilhelmshaven verschleiert wurde, sei nicht seine Absicht gewesen, versicherte Herr Hein, und wie er kündigten auch die anderen Referenten, die allerdings mit ihren Themen wegen der unerwartet gründlichen Diskussion über das Kinderwohngeld nicht mehr so richtig zum Zuge kamen, an, dass diese Kinder aus dem statistischen Abseits zurückkehren werden.
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