Leise Töne – starke Wirkung
Landesbühne wagt und gewinnt mit dem Musical „Blutsbrüder“
(iz) Heutzutage braucht es großes Tamtam, exorbitante Technik und sogar eigens errichtete Spielstätten, um ein breites Publikum dauerhaft in den Musical-Hype von „Cats“ & Co zu versetzen. Umso mutiger zeigt sich die Landesbühne, wenn sie einen hierzulande eher unbekannten Stoff des Genres mit zwangsläufig bescheidenen Mitteln auf die Bretter bringt – mit eindrucksvollem Ergebnis.
„Blutsbrüder“ ist die Geschichte der Zwillinge Mickey und Edward, die gleich nach der Geburt durch die Umstände getrennt und vom Leben immer wieder zusammengeführt werden. Ein ungeplantes soziales Experiment, das Raum für verschiedenste Betrachtungen und Erkenntnisse bietet. Bestimmt das Sein das Bewusstsein oder umgekehrt? Sind dem Menschen seine Chancen in die Wiege gelegt oder kann er selbst sein Schicksal herumreißen?
Autor Willy Russell entstammt einer Arbeiterfamilie. „Blutsbrüder“ schrieb er auf dem Höhepunkt des „Thatcherismus“, der Arbeitslosigkeit nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles Schicksal definierte. Russels Geburtsstadt Liverpool verzeichnete damals bis zu 25% Arbeitslose.
Die Geschichte: Als Mrs. Johnstone, alleinerziehende Mutter von fünf Kindern, auch noch Zwillinge erwartet, fürchtet sie, dass die Fürsorge ihr alle Kinder entzieht. Die wohlhabende, unfreiwillig kinderlose Mrs. Lyons, bei der sie sich als Putzfrau verdingt, überredet sie, ihr einen Zwilling – Edward – abzutreten. Dabei soll niemand erfahren, dass Mrs. Lyons’ eigene Schwangerschaft nur vorgetäuscht war. So setzt sie die schlichte wie abergläubische Mrs. Johnstone unter Druck mit der Behauptung: Wenn die Jungen je erfahren, dass sie Brüder sind, müssen sie beide sterben. Doch zufällig laufen die Heranwachsenden sich immer wieder über den Weg und freunden sich an, trotz elterlicher Interventionen … Dass das Schicksal der Brüder sich letztlich erfüllt, ist keine Frage des Aberglaubens, sondern der Klassenunterschiede, des Neides, der Eifersucht und der Verzweiflung am eigenen Dasein.
Das Stück beginnt und endet mit je zwei lauten Knallgeräuschen. Dazwischen setzt die Dramaturgie jedoch auf leise Töne. Das Orchester wird durch Playback plus zwei Lifemusiker ersetzt, umso akzentuierter kommen die ansprechenden Gesangsleistungen der Darsteller zur Geltung. So entstehen zwar keine Ohrwürmer, die man auf dem Nachhauseweg vor sich hinsummt, vielleicht „Schuhe auf dem Tisch …“, der Aberglaube, der sich als roter Faden durchzieht und Mrs. Johnstone an ihr Versprechen gemahnt. Doch, anders gesagt: Die Handlung wird so nicht von der Musik erschlagen.
Ebenso effektiv auf das Wesentliche reduziert das Bühnenbild: drei Wände mit je drei Türen, die sich in wechselnder Kombination synchron öffnen und schließen. Das Labyrinth des Lebens: Welche Tür ist die richtige? Welche schließt sich, wenn jene sich öffnet? Genutzte Chancen, vertane Chancen. Die Ausstattung: so zurückgenommen, dass sich der Wechsel zwischen arm und reich, Unter- und Oberstadt, Arbeitersiedlung und Luxusvilla problemlos nur im Kopf des Zuschauers vollzieht. Unendlicher Raum für eigene Bilder, als ob man ein Buch liest. Grandios. Rauchende Fabrikschlote, triste Vorortsiedlungen, graue Fassaden, feine Häuser, gepflegte Vorgärten: Das braucht kaum Requisiten und keinen eifrigen Malersaal. Eine Leiter, ein Tisch, zwei Stühle. Die Bilder entstehen im Spiel, umso deutlicher ihre Konturen. Feiner englischer Humor: Mrs. Johnstones Kinder, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, doch jedes ein Individuum.
Wenngleich bei der Premiere der Eindruck entstand: Da geht noch was, das wird bei der zweiten, dritten Aufführung noch geschliffener – die Leistung aller Darsteller wurde zu Recht mit lang anhaltendem Applaus gewürdigt. So überzeugend bescheiden, so selbstverständlich präsent gab Susanne Menner die Mrs. Johnstone, dass ihr schauspielerischer wie gesanglicher Marathon beinahe nicht angemessen wahrgenommen wurde. Vor diesem ruhenden Pol verstanden es Oliver Schönfeld (Mickey) und Fabian Monasterios (Edward), die Zwillingspersönlichkeiten überzeugend zu entwickeln, von zwei unverdorbenen Jungs zu zwei liebenswerten Kotzbrocken.
Übrigens gibt es am Rande einen direkten Bezug zu Wilhelmshaven: In der Urbesetzung wurde die Mrs. Johnstone verkörpert durch die bekannte Folksängerin Barbara Dickson, die aus Wilhelmshavens Partnerstadt Dunfermline stammt. Doch auch ohne diese Verbindung ist „Blutsbrüder“ an einer Bühne im Umfeld von Arbeitslosigkeit und sozialen Differenzen passend angesiedelt.
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