Metallindustrie
Apr 191993
 

Gegenwehr in Wilhelmshaven

Zur Krise kommen noch die strukturellen Probleme

(hk) Arbeitsplatzabbau, Entlassungen, Kurzarbeit – die Krise trifft Wilhelmshavens Metallindustrie besonders hart. Die Gewerkschaften sehen schlimme Zeiten für den Norden kommen. Und dann auch noch die Kündigung von Tarifverträgen durch die Arbeitgeber. Der GEGENWIND sprach darüber mit dem IG Metall-Bevollmächtigten Hartmut Tammen-Henke.

Gegenwind: Die IG Metall hat den Arbeitgebern und der Bundesregierung die „Rote Karte“ gezeigt – es geht um die Kündigung der Tarifverträge in den Ost-Bundesländern. Wie stellt sich das in Wilhelmshaven dar?
Tammen-Henke: Wir haben es in unserer Region ja noch nicht damit zu tun, daß die Arbeitgeber Tarifverträge kündigen. Wir haben aber damit zu tun, daß Tarifverträge benutzt werden, um eine bestimmte Politik gegen die Arbeitnehmer durchzusetzen. Bei Konkursen, Kurzarbeit, Entlassungen, drohenden Betriebsschließungen heißt es immer wieder, daß der Betrieb nur gerettet werden kann, wenn Teile der Tarifverträge nicht eingehalten werden: Verzicht auf Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen, Anrechnung von übertariflichen Leistungen auf Lohnabschlüsse usw. Damit setzen die Unternehmer die Beschäftigten unter Druck.

Arbeitsplatzabbau

Gegenwind: Wie ist denn die Situation der Metallbetriebe in unserer Region?
Tammen-Henke: Wir haben es hier mit dramatischen Arbeitsplatzverlusten zu tun. Mitte der 80er Jahre waren in der Metallindustrie noch gut 14.000 Arbeitsplätze vorhanden, 1990 waren es noch 9.000 und heute zwischen 6.000 und 6.500. Wenn wir Betrieb für Betrieb durchgehen, dann gibt es hier keinen einzigen mehr, wo man sagen könnte, daß er stabil ist. Selbst renommierte Betriebe, wie z.B. die Deutsche Airbus in Varel, geraten ins Trudeln. Hier wurde jetzt die Kurzarbeit von 30 auf 45 Tage erhöht.

Gegenwind: Wie steuert die IG Metall dagegen?
Tammen-Henke: Wir müssen es heute ja schon, so makaber das auch klingt, als Erfolg werten, wenn der Arbeitsplatzabbau in der Region nicht über Massenentlassungen oder überhaupt durch betriebsbedingte Kündigungen durchgezogen wird, sondern es uns gelingt, das alles auf möglichst sozialverträgliche Weise, also durch Aufhebungsverträge, Vorruhestandsregelungen usw. hinzubekommen.

Strukturprobleme

Gegenwind: Dieser massive Arbeitsplatzabbau, ist das eine Wilhelmshavener Besonderheit oder ist das ein bundesweiter Trend?
Tammen-Henke: Wir haben in unserer Region große strukturelle Defizite, was zum Beispiel die Zusammensetzung der Branchen angeht. Da muß über die Strukturpolitik eine Menge verändert werden. Zusätzlich zu den strukturellen Problemen kommt dann noch die Rezession. Das trifft uns doppelt.

Gegenwind: Du hast eben von strukturellen Problemen gesprochen. Wie sehen die aus?
Tammen-Henke: Wir haben hier zum einen eine große Konzernabhängigkeit (z.B. Krupp, Airbus), Schwierigkeiten der Konzerne haben immer direkte Auswirkungen gerade auf die Betriebe an der Peripherie. Zum anderen fehlt hier eine gesunde Mischung der Branchen und es fehlt die Zukunftsorientierung. Wir haben hier viele mittlere und kleine Betriebe hauptsächlich im Zulieferbereich. Hier werden keine neuen Techniken entwickelt, hier passiert nichts innovatives. Wenn der Wettbewerb in diesem Bereich noch härter wird, werden hier weitere Betriebe auf der‘ Strecke bleiben. Wir haben gerade ein Institut beauftragt, die Entwicklungsperspektiven für die Metallindustrie in der Region Wilhelmshaven/Friesland wissenschaftlich zu untersuchen: Welche Richtung muß die regionale Metallindustrie einschlagen, welche Entwicklungen zeichnen sich ab, welche neuen Produkte werden benötigt. ..

Defensive – Offensive

Gegenwind: Ist das denn noch Gewerkschaftsarbeit? Zerbrecht ihr euch da nicht den Kopf des Arbeitgeberverbandes?
Tammen-Henke: Vom Grundsatz her hast du sicherlich recht, aber es geht heute nicht mehr, nur zu sagen „Das ist alles Mist, was hier passiert“ -als Gewerkschaft ist man auch in der Verantwortung, eigene Ideen zu entwickeln, den Kollegen Perspektiven aufzuzeigen, den Unternehmern zu zeigen, daß es auch anders geht. So kommen wir aus der Defensive in die Offensive.

Gegenwind: Die Arbeitgeber haben in den Ost-Bundesländern Tarifverträge gekündigt. Was bedeutet das für uns?
Tammen-Henke: Das, was in Ostdeutschland jetzt „modellhaft“ versucht wird, zeigt auch hier im Westen schon Wirkung. So was hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. 1928, da gab es zum letzten Mal solche Versuche seitens der Unternehmer. Die Unternehmer behaupten zwar, daß das ein einmaliger Vorgang sei, daß solche Aktionen für den Westen nicht geplant seien. Es gibt aber schon deutliche Hinweise, daß diese Politik hierher überschwappt, daß z.B. der Tarifvertrag zur Arbeitszeitverkürzung gekündigt werden soll. Die Strategie der Unternehmer im Osten hat Modellcharakter für den Westen! Darum auch dieser vehemente Widerstand von uns. Wir müssen die Kollegen im Osten unterstützen, nicht nur durch Solidaritätskundgebungen, wir müssen hier auch über Solidaritätsstreiks u.ä. nachdenken. Wenn sich diese Unternehmerpolitik durchsetzt, dann kommen Bedingungen auf uns zu, die wir nur noch aus dem letzten Jahrhundert kennen.

Gegenwind: Wer ist die treibende Kraft bei dieser Aktion?
Tammen-Henke: Gesamtmetall spielt hier den Vorreiter, um eine tarifpolitische Wende durchzusetzen. Unterstützt wird diese Politik von der Bundesregierung, von der FDP und der CDU/CSU. Das geht ja schon seit Mitte der 70er Jahre: Albrecht-Thesen, Tabu-Kataloge, Lambsdorff-Papier – das ist der Entwicklungsweg zu dem, was heute ist und was noch auf uns zukommen wird.

Gegenwind: Es geht ja wohl darum, die Gewerkschaften aus den Betrieben zu drängen, keine Flächentarifverträge mehr abzuschließen. Jeder Arbeitnehmer, jeder Betrieb handelt seine Bedingungen selbst aus.gw114_lotze
Tammen-Henke: So ist es. Jeder handelt seine Arbeitsbedingungen selbst aus – das klingt nach Freiheit. Es wird aber vergessen, wer die Macht hat, diese Bedingungen zu diktieren. Die Menschen im normalen Beschäftigungsverhältnis, die sind der Willkür völlig ausgeliefert.

Lotze bleibt besetzt

Gegenwind: Wie paßt das, was momentan bei Lotze los ist, in dieses Schema von Rezession und Strukturproblemen?
Tammen-Henke: Lotze ist sicherlich ein Bereich, der nicht in diesen Rahmen paßt. Bei Lotze spielen Management-Fehler eine große Rolle. Im Hintergrund hat es Dinge gegeben, die unter den Begriff Wirtschaftskriminalität zu fassen sind. Der Gesellschafter Hartmann hat durch seine Machenschaften Lotze in den Sumpf gezogen. Noch nicht eindeutig klar ist, inwieweit die Geschäftsführung durch Manipulationen dazu beigetragen hat, daß die Banken keine Kredite mehr gaben und das Land Niedersachsen keine Bürgschaft mehr gewährte. Langsam wird die Lage bedrohlich. Wenn nicht bis zum 30. April ein konkretes Angebot eines Investors auf dem Tisch liegt, dann wird der Zwangsverwalter wohl die Schließung des Betriebes veranlassen. Das ist völlig daneben: ein gesunder Betrieb mit modernen Maschinen und guten Fachkräften wird geschlossen, weil kein Geld da ist. Aber die Belegschaft hat für diesen Fall bereits angekündigt, daß die Betriebsbesetzung dann eine andere Qualität bekommen wird. Die gehen da nicht raus!

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