Krankenkassen
Sep 151999
 

Juristisches und ethisches Dilemma

Professor Dr. jur. Wimmer: Krankenversicherte haben einen Rechtsanspruch auf medizinische Versorgung

(noa) Mitte August ging die beruhigende Nachricht durch die Medien: Die Bundesgesundheitsministerin Fischer konnte in einem mehrstündigen Gespräch mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung deren „Notprogramm“ abwenden. Ist also alles in Ordnung jetzt? Keineswegs.

(noa) Mitte August ging die beruhigende Nachricht durch die Medien: Die Bundesgesundheitsministerin Fischer konnte in einem mehrstündigen Gespräch mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung deren „Notprogramm“ abwenden. Ist also alles in Ordnung jetzt? Keineswegs.
Die frei praktizierenden MedizinerInnen in Wilhelmshaven bekamen Ende August Post von Dr. Greth, dem Vorsitzenden der Bezirksstelle Wilhelmshaven der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Darin heißt es u.a.:
„Einer Allgemeinärztin/einem Allgemeinarzt stehen 1999 pro Quartal in aller Regel Verordnungen bis zu folgender Höhe zur Verfügung:

Arznei- und Verbandmittel

  • pro Mitglied und Familienangehörigen DM 52,36
  • pro Rentner DM 172,40

Heilmittel

  • pro Mitglied und Familienangehörigen DM 9,73
  • pro Rentner DM 21,49

Bei entsprechender Überschreitung dieser Richtgrößen haften Sie im durchzuführenden Prüfverfahren persönlich!“

Die Grundlage dieser Richtgrößen ist ein Vertrag zwischen den Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, und derlei Verträge basieren auf dem „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung“.
Wenn Hausärzte darauf achten, nichts „Überflüssiges“ zu verordnen, kommen sie im Normalfall bei einem Durchschnittspatienten mit 52,36 DM pro Quartal für Arznei- und Verbandmittel wahrscheinlich aus. Der Schnupfen, der einen grippalen Infekt begleitet, geht auch ohne die als überflüssig bezeichneten Nasentropfen vorbei. Dass für betagte Kranke mit 172,40 DM ein höherer Betrag veranschlagt wird, ist realistisch. Erstaunlich ist aber doch, dass ein Allgemeinarzt in Nordrhein-Westfalen fast 100 DM mehr pro Vierteljahr für einen Rentner zur Verfügung hat.
Und 21,49 DM pro Quartal und Rentner für Heilmittel (Massagen, Krankengymnastik und dergl.), das bedeutet etwa eine knappe Dreiviertel-Krankengymnastik zu Hause; in einer physiotherapeutischen Praxis immerhin fast eine ganze: Eine KG-Behandlung kostet 25 DM, mit Hausbesuch 13 DM mehr.
Im vergangenen Jahr hatten die Berufsverbände der Physiotherapeuten schon Alarm geschlagen, als niedergelassene Ärzte, erschreckt durch die Androhung von Regressforderungen, ihren Patienten die notwendigen Heilmittel nicht mehr verordneten, und so manches gelockerte Kniegelenk versteifte wieder, weil der Patient nicht mehr zur Krankengymnastik kommen konnte. Damals bekamen die Ärzte und Ärztinnen lediglich alle drei Monate eine Mitteilung darüber, um wie viel DM sie über dem Durchschnitt lagen.
Wie die HausärztInnen auf die kürzlich erhaltene Nachricht reagieren werden, wird sich zeigen. „Die Vereinbarung ist rückwirkend zum 01.01.1999 abgeschlossen“, heißt es darin am Ende, und da schon fast neun Monate des Jahres vorbei sind, dürften einige ihr Soll schon lange überschritten haben. Die Reaktionen des letzten Jahres hochgerechnet, steht zu befürchten, dass sie gar nichts mehr verordnen werden. Und die Kranken werden das Nachsehen haben.
Dabei ist die Rechtsgrundlage der Verträge zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen mehr als zweifelhaft. „Das SGB V und aus ihm abgeleitetes untergesetzliches Recht lassen keinen Zweifel daran, dass die Versicherten gegen die Krankenkassen einen Rechtsanspruch auf Versorgung mit denjenigen Medikamenten haben, die notwendig sind, um ihre Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbe- schwerden zu lindern (§§ 27 Abs. 1 Nr. 3, 31 SGB V). … Nach den Regeln der ärztlichen Kunst ‚ausreichend und zweckmäßig’ (§ 28 Abs. 1 Satz 1) sind solche Medikamente, deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und die den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3). … Arzneimittelbudgets und –richtgrößen (§ 84 Abs. 1 und 3 SGB V) müssen so bemessen sein, dass diese Ansprüche der Versicherten aus ihnen befriedigt werden können.“ Dies führte Prof. Dr. jur. Raimund Wimmer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, in seinem Vortrag „Medizinische Indikation und Wirtschaftlichkeitsgebot – ein juristisches und ethisches Dilemma?“ am 29. Mai 1999 in Gütersloh aus. Demzufolge müssten, ja dürften die vom Regress bedrohten niedergelassenen MedizinerInnen sich keineswegs weigern, ihren Patientinnen notwendige Medikamente und Anwendungen zu verschreiben. „Weigert sich ein Vertragsarzt, das im konkreten Einzelfall fachlich gebotene bestmögliche Arzneimittel zu verordnen, so können die Versicherten gegen diesen sozialgerichtliche Klage auf Erlangung der erforderlichen ärztlichen Verordnung erheben“, führt Wimmer weiter aus.
Droht den niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen nun eine Welle von Klagen ihrer Patienten, die sie aus Angst vor Regressforderungen der Krankenkassen nicht angemes- sen zu behandeln wagen? Für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wäre das natürlich nicht gut. Die Ärzte selber haben mit den hier genannten Bestimmungen aus dem Sozialgesetzbuch ihrerseits ein Instrument an der Hand. Sie sollten weiterhin verordnen, was sie für medizinisch notwendig erachten, und sich gegebenenfalls dann gegen die Regressforderungen der Krankenkassen, für die laut Wimmer „die gesetzlichen Voraussetzungen … nicht gegeben sind“, juristisch zur Wehr setzen.

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