Auch Wilhelmshavener Kranke und Behinderte wurden in der Psychiatrie ermordet
(pwa/noa) Am 1. September jährte sich zum 60. Mal der Tag, an dem Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen seinen Vernichtungskrieg nach außen begann. Der 1. September 1939 steht auch für den Beginn des Vernichtungskrieges Adolf Hitlers nach innen, des Krieges gegen die Behinderten.
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“, erließ Hitler mit Datum vom 1. Sept. 1939 auf privatem Briefpapier. Er verwirklichte damit eine Absicht, die er schon 1935 dem Reichsärzteführer Wagner gegenüber geäußert hatte, die Absicht, im Krieg die Euthanasiefrage aufzugreifen und ihre Lösung durchzuführen.
Die Durchführung begann mit einem administrativen Akt: Ab Spätherbst 1939 sandte das Reichsministerium des Inneren Meldebögen an die Leitungen der Heil- und Pflegeanstalten. Zu melden hatten die Anstalten sämtliche Insassen, die an Schizophrenie, Epilepsie, senilen Erkrankungen, Huntington oder Schwachsinn jeder Ursache litten, sowie Patienten, die sich seit mehr als fünf Jahren andauernd in Anstaltspflege befanden. Diese Patienten wurden durch die eigens zu diesem Zweck gegründete „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ zunächst in Durchgangsanstalten und von dort in Tötungsanstalten verlegt.
Tötungsanstalten waren Grafeneck in Württemberg, Bernburg bei Halle, Sonnenstein bei Dresden, Hartheim bei Linz, Brandenburg und Hadamar. Sie waren ausgestattet mit Vergasungsräumen und Krematorien. Nach Dörner sind insgesamt ca. 100.000 Menschen diesem System zum Opfer gefallen – ca. ein Drittel aller psychisch Kranken und geistig Behinderten, die in Anstalten untergebracht waren. Außer den Menschen, die in den Tötungsanstalten starben, sind weitere Kranke und Behinderte „in Eigenregie“ der Anstaltsärzte gewaltsam zu Tode gebracht worden. Dieser Teil der Geschichte ist noch nicht erschöpfend erforscht, doch man muss von etwa 100.000 weiteren Patientenmorden ausgehen.
Für Wilhelmshavener Patienten war die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen zuständig, und von hier aus wurden viele Patienten „verlegt“. Außerdem fanden hier wie in den anderen reichsweit etwa 900 Anstalten Patientenmorde Monat für Monat „nebenher“ statt.
Das heutige PLK wurde 1858 als „Irrenheilanstalt zu Wehnen“ in der Gemeinde Ofen, drei Kilometer vom heutigen Stadtrand von Oldenburg entfernt, gegründet und war zunächst für 80 Kranke ausgelegt. 1888 bis 1892 wurde die Anstalt baulich erweitert und war um die Jahrhundertwende schon mit 225 Patienten belegt. Im Jahr 1903 änderte sie ihren Namen in „Heil- und Pflegeanstalt Wehnen“ und war zu einem Wirtschaftbetrieb mit Elektrizitäts- und Wasserwerk, Dampfwäscherei, Landwirtschaft mit Viehhaltung, Gärtnerei, Kanalisation u.a. angewachsen. 1911 waren 310 der dann 400 Betten belegt. Nach dem 1. Weltkrieg war die Belegung auf 176 abgesunken und stieg bis zum Beginn des Dritten Reiches auf knapp 300. Während der NS-Zeit erfolgte eine massive Überbelegung. Im Dezember 1935 konnte der damalige Anstaltsleiter Mönch feststellen: „Durch die jetzt endlich erfolgte Ausnutzung der Anstalt Wehnen hinsichtlich ihres Bettenraumes, wofür ich fast 10 Jahre, leider erfolglos, gekämpft habe, (hat sich die Belegung) seit April 1933 von 260 auf nunmehr über 700 erhöht.“ Auch danach stieg die Zahl der in Wehnen untergebrachten Kranken weiter bis auf 800. 1937 bestätigte der damalige Verwaltungschef Siems, dass diese enorme Überbelegung die Ausbreitung von Infektionskrankheiten begünstigte. Viele Patienten, die durch die Hungerrationen schon geschwächt waren, fielen Epidemien zum Opfer.
Dies ist aber nicht der Hauptgrund dafür, dass bis in die 70er Jahre hinein Menschen, die in Wehnen eingeliefert werden sollten, Angst um ihr Leben hatten. In der Anstalt Wehnen wurden Kranke auch gezielt zu Tode gebracht – durch Überdosen von Betäubungs- und anderen Arzneimitteln und durch Nahrungsentzug. Verwaltungschef Siems, während der Novemberrevolution Mitglied des Soldatenrates in Wilhelmshaven, mittlerweile aber begeisterter Nationalsozialist, war eine führende Kraft bei der Durchführung der Hungermaßnahmen. Er verzichtete zu Gunsten der „Ernährungslage des deutschen Volkes“ auf einen wesentlichen Teil der der Anstalt zustehenden Lebensmittel, meldete im Oktober 1942 stolz die Einsparung von vielen tausend kg Fleisch, Fett, Butter und Zucker sowie vielen Zehntausenden Eiern und verursachte so den Hungertod vieler Patienten.
Wilhelmshaven als Kriegshafen war ein häufiges Ziel alliierter Luftangriffe. Zu den Luftschutzvorschriften gehörte die Bestimmung, Geisteskranke und Verwirrte als mögliche Störfaktoren aus der Öffentlichkeit fern zu halten. Hier waren Geisteskranke deshalb besonders unerwünscht und wurden bevorzugt nach Wehnen verbracht.
Nicht nur „Idioten“ und „Irre“ aus Wilhelmshaven kamen nach Wehnen. Als Wilhelmshaven durch alliierte Luftangriffe unter starkem Evakuierungsdruck stand, wurden alte Menschen aus dem Lindenhof in Wehnen aufgenommen. Nach einer schweren Beschädigung des Städtischen Krankenhauses Wilhelmshaven wurden 80 Betten in Wehnen geräumt und unter der Bezeichnung „Städtisches Krankenhaus Wilhelmshaven, Nebenstelle Ofen“ weitergeführt; nach weiteren Luftangriffen wurde das Hilfskran- kenhaus Wehnen mit Operationssaal, Röntgenanlage und einer chirurgischen und inneren Station ausgerüstet.
Man wird die Zahl der Patientenmorde in Wehnen wohl niemals genau ermitteln können. Zum einen kann man die „Normal- sterblichkeit“ einer Heilanstalt nicht genau festlegen; zum anderen sind nur unvollständige Krankenunterlagen vorhanden. Harms errechnet bei einer „Normalsterblichkeit“ von 5% eine Zahl von annähernd 2000 gewaltsam Gestorbenen; setzt man eine „Normalsterblichkeit“ von 7 % an, waren es 1500 Patientenmorde. „Da außerdem nachgewiesen werden konnte, dass die Verantwortlichen teilweise falsche Angaben über die Mortalitätsraten machten, ist nicht auszuschließen, daß die wirkliche Zahl der Opfer der ‚Euthanasie’-Maßnahmen in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen noch über den hier errechneten Werten lag. (…) Die numerischen Überlegungen führen jedoch zu einer weiteren Erkenntnis: Sie legen die Annahme nahe, daß das eugenisch motivierte Töten bzw. Sterbenlassen von Patienten in Wehnen auch zu Zeiten stattfand, in denen die nationalsozialistische Gewaltmedizin noch nicht begonnen hatte bzw. schon beendet war.“ (Harms S. 83)
Neben dem von Hitler durch den o.a. Erlass verordneten Morden fand schon vor 1939 und nach dem Widerruf des Euthanasie-Erlasses am 24.8.1941 eine „wilde“ Euthanasie statt. Schon vor 1933 durften „Rassehygieniker“ und Befürworter der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ungestraft mit „wissenschaftlichen Begründungen“ schreiben und lehren, dass ein großes „Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwertes Leben so lange zu erhalten, bis die Natur – oft mitleidlos spät – sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt. Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld, bedeckt mit tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wettern hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben – und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.“ So schrieb 1920 der Strafrechtslehrer Dr. jur. Dr. phil. Karl Binding. Zum selben Thema schrieb der Psychiater Dr. med. Alfred Hoche: „Zustände endgültigen unheilbaren Blödsinns oder wie wir in freundlicherer Formulierung sagen würden: Zustände geistigen Todes sind für den Arzt, insbesondere für den Irrenarzt und Nervenarzt etwas recht Häufiges. … In wirtschaftlicher Beziehung würden also diese Vollidioten, ebenso wie sie auch am ehesten alle Voraussetzungen des vollständigen geistigen Todes erfüllen, gleichzeitig diejenigen sein, deren Existenz am schwersten auf der Allgemeinheit lastet. … Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird. … ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen. … Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein Freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke.“
Obermedizinalrat Dr. Kurt Mönch, von 1924 bis 1937 Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, war ein Anhänger dieser Art Wissenschaft, nahm beispielsweise 1925 an einem Fortbildungskurs „über angewandte Erblichkeitsforschung und ihre Beziehung zur Sozial- und Rassehygiene“ teil, benutzte Anstaltspatienten für Versuche im Sinne des „medizinischen Fortschritts“ und tat sich mit Veröffentlichungen auf rassehygienischem Gebiet hervor. Er kam im Rahmen seiner „Forschung“ u.a. zu dem Ergebnis, dass Epilepsie und Schwachsinn meist miteinander einher gingen und dass diese beiden Formen der „Minderwertigkeit“ auf ein primitives Erbgut zurückgingen. Dieser Arzt erhielt am 15. Januar 1948 seine Niederlassungserlaubnis als Facharzt für Nervenkrankheiten in der Gemeinde Westerstede.
Buchbesprechung: Ingo Harms „Wat mööt wi hier smachten…“
Hungertod und „Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im „Dritten Reich“
„Wat mööt wi hier smachten in die Anstalt Wehnen! De Plegers und de Dokters frät us das Fleesch ut’n Pott.“ Der Patient, von dem dies Zitat überliefert ist, hat seinen Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen nicht überlebt.
Der Oldenburger Ingo Harms hat für seine Doktorarbeit den Hungertod und die „Euthanasie“ in Wehnen untersucht. Nach einer kurzen Darstellung der Hintergründe – Oldenburgs nationalsozialistische Vergangenheit, Ursprünge und Entwicklung der Rassenhygiene, NS-„Euthanasie“-Programm – stellt er die Geschichte der Anstalt Wehnen vor. Er zeichnet die Karrieren dreier Wehner Ärzte nach und gibt an Hand von deren gutachterlichen Äußerungen einen Einblick in ihre Denkweise. Hier wird deutlich, dass die Tätergruppe des Holocaust nicht auf eine kleine Schar entmenschlichter SS- und Gestapo-Männer reduziert werden kann. Die Mörder des Dritten Reiches waren ganz normale Menschen, ÄrztInnen, Krankenschwestern, Pfleger und Beamte. Und sie hatten schon vor der Machtübernahme durch Hitler ihre Vordenker, waren ausgebildet und geprägt von Leuten, die die Ausmerzung der „Minderwertigen“ naturwissenschaftlich begründeten.
Anhand von Unterlagen der Anstalt Wehnen, Kirchenbüchern und anderen Dokumenten hat Harms die Entwicklung der Sterblichkeit in Wehnen erforscht und mit der Sterblichkeit in anderen Anstalten und den Werten vor dem Dritten Reich verglichen, um näherungsweise das Ausmaß des Mordens ermitteln zu können.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches haben die meisten von Hitlers willigen Vollstreckern sich bekanntlich distanziert, haben geleugnet, an Massenvernichtungsaktionen beteiligt gewesen zu sein, haben sich darauf zurückgezogen, dass sie Erlassen und Befehlen gehorchen mussten. An ausgesuchten Beispielen weist Harms nach, dass die Wehner Täter durchaus willig, wissend und aus innerer Überzeugung handelten.
Dies belegen auch die im Zusammenhang von vier Einzelfallberichten wiedergegebenen Auszüge aus Krankenakten und dem Schriftwechsel mit Angehörigen und Betreuern von Patienten.
Das letzte Kapitel hat Harms dem Thema der Behandlung der ausländischen, jüdischen und strafgefangenen Patienten gewidmet, von denen noch weit weniger überlebt haben.
Ingo Harms hat einen Teil verdrängter regionaler Geschichte aufgearbeitet und in die Gegenwart zurückgeholt.
Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dergleichen nie wieder geschehen wird. (noa)
Ingo Harms, „Wat mööt wi hier smachten“. Hungertod und „Euthanasie“ in der Heil und Pflegeanstalt Wehnen im „Dritten Reich“, Oldenburg 1996, ISBN 3-925713-25-5
Quellen: Alice Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, Reprint der Originalausgabe Frankfurt1948, Bonn 1998
Asmus Finzen, Massenmord ohne Schuldgefühl, Bonn 1996
Klaus Dörner et al., Der Krieg gegen die psychisch Kranken, Bonn 1989
Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Leipzig 1920
Ingo Harms, „Wat mööt wi hier smachten…“. Hungertod und „Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im „Dritten Reich“, Oldenburg 1996
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