Aus der Schule geplaudert
Apr 032007
 

Busemann ist doch immer wieder für eine Schlagzeile gut

Aus der Schule

Schon wieder! Dieser Vernor Muñoz! Vor einem Jahr schon hat er an unserem deutschen Schulwesen rumgemäkelt und es besser gewusst als unsere Experten, und jetzt zerrt er uns doch glatt vor die Menschenrechtskommission.


Das deutsche Schulwesen benachteiligt Kinder aus den unteren Schichten der Bevölkerung und aus eingewanderten Familien. Wenn man sich anschaut, welche Kinder auf welcher weiterführenden Schule sind, dann ist das so offensichtlich, dass man sich fragt, warum jemand so eine simple Erkenntnis überhaupt groß erwähnt. Aber Vernor Muñoz ist ja Ausländer und kann deshalb nicht wissen, wie so etwas in Deutschland läuft. Es läuft nämlich so:

1. Man behauptet, dass etwas so oder so ist.
2. Man richtet alles so ein, dass es dann auch so wird, wie man behauptet hat, dass es ist.
3. Man zeigt auf das Ergebnis und sagt „Siehste – Recht gehabt!“
4. Wenn dann noch jemand meckert, sagt man, dass der doch keine Ahnung hat.

Wir haben in Deutschland das dreigliedrige Schulsystem. Länder, in denen die Kinder länger, etwa bis zur 10. Klasse, gemeinsam unterrichtet werden, haben schlauere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als Deutschland. Da läge es nahe, darüber nachzudenken, ob die Misserfolge unserer Versuche, unsere Kinder zu bilden, vielleicht an der Dreigliedrigkeit unseres Schulwesens liegen könnten.
Nun haben wir in Niedersachsen nach dem Regierungswechsel 2003 die Situation noch weiter verschlechtert, indem wir die Selektion der Kinder um zwei Jahre vorverlegt haben. Das haben wir als „Schulreform“ bezeichnet, und deswegen hat es gut zu sein. Da soll uns nur keiner kommen und sagen, dass es nicht gut ist! Wir wissen das nämlich besser!
„Wenn man zehn Tage durch Deutschland reist, kann man sich kein Bild von der Effizienz des Bildungssystems machen“, so zitiert die „WZ“ vom 27.02.07 den niedersächsischen Kultusminister (kurz Kumist) Bernd Busemann. Vielleicht aber, wenn man schon immer in Deutschland wohnt und diese Effizienz in seiner Umgebung tagtäglich erlebt?
„Personalchefs in deutschen Unternehmen vermissen bei Schulabgängern vor allem Allgemeinwissen, wirtschaftliches Grundwissen und ausreichende Kenntnisse in Deutsch und Mathematik“, berichtete die „WZ“ am 07.03.07 über eine Studie, in der auch festgestellt wurde: „Ein Viertel der Personalchefs bemängelt das Fehlen sozialer Kompetenzen wie Verlässlichkeit, Selbstständigkeit und Hilfsbereitschaft.“
Kumist Busemann setzt auf andere Ziele: „Schüler sollen sich durchboxen“, titelt die „WZ“ am 16.02.07. Boxen als Schulsport ist in, und auch wenn Busemann das mit dem Durchboxen anders gemeint hat – die Schüler und ihre Eltern verstehen es schon richtig. Und durchboxen müssen sich die Schüler seit der „Schulreform“ in Niedersachsen schon in der Grundschule.
Nach der Vorverlegung der Selektion für den künftigen Schulbesuch ist der Druck schon bei den ganz Kleinen eingekehrt. Eine Drittklässlerin brachte jüngst eine Klassenarbeit nach Hause, in der ein nicht so ganz ordentlich geschriebener Buchstabe unterstrichen und mit der Randbemerkung versehen war: „In Zukunft gilt das als Fehler.“ Was denkt ein neunjähriges Mädchen, wenn es seine Leistung so honoriert sieht?
Die Lehrkräfte an den Grundschulen sollen die Auswahl treffen, welches Kind zur Hauptschule, welches zur Realschule und welches zum Gymnasium gehen darf. Irgendeine Ausbildung, die sie befähigen würde, bei sieben- bis zehnjährigen Kindern vorauszusagen, welche intellektuellen Kapazitäten sie später entwickeln werden (z.B. eine Ausbildung zur Hellseherin?) bekommen sie nicht. Ihre KollegInnen von den aufgelösten Orientierungsstufen, die diese Spökenkiekerei jahrelang bei älteren Kindern betrieben haben und darin im Laufe der Jahre einige Routine erworben haben, sind auf Haupt- und Realschulen und Gymnasien verteilt worden. Wie kommen die GrundschullehrerInnen, deren Aufgabe früher nur darin bestand, ihre Kinder zu unterrichten und zu fördern, damit zurecht? Die meisten von ihnen wissen, dass es unmöglich ist, bei Kindern in so zartem Alter gültige Voraussagen zu treffen, was sie einmal leisten werden; dafür sind Kinder zu unterschiedlich in ihrer Entwicklung, und viele, die am Anfang große Lernschwierigkeiten haben, machen, wenn man sie in Ruhe lernen und probieren lässt und ihnen die erforderlichen Mittel und die notwendige menschliche Wärme anbietet, irgendwann einen großen Sprung nach vorn, während andere, denen am Anfang alles leicht fällt, vielleicht später, wenn der Stoff anspruchsvoller wird, gar nicht mehr so gut klarkommen.
Und dann sollen die Lehrkräfte der Grundschulen noch mehr tun, wofür sie nicht ausgebildet wurden. Der niedersächsische Legasthenieerlass vom November 2005, seinerzeit als großer Durchbruch gefeiert (jedenfalls vom Kumist selber), erweist sich mittlerweile als böse Falle. Die Lehrkräfte an den Grundschulen sollen den Lese- und Schreiblernprozess der Kinder sorgfältig beobachten (haben sie das früher nicht auch gemacht?) und eventuelle Lernschwierigkeiten feststellen. Damit wird ihnen die Last der Diagnose auferlegt über eine Störung, von der sie im Normalfall an der Hochschule bestenfalls flüchtig etwas gehört haben. Das führt dann zu Blüten wie z.B. der Situation, dass eine Grundschullehrerin über ein Zweitklässlerin sagt, das Kind sei nicht legasthen, sondern könne dies und das und jenes nicht (Aufzählung einer Reihe von legasthenen Symptomen). Und das wiederum führt dazu, dass „erfahrene“ Eltern (solche nämlich, die auch ein älteres Kind mit einer Lese-/Rechtschreibstörung haben – wegen der genetischen Mitbedingtheit dieser Störung häufen sich diese „Fälle“ in manchen Familien, während sie woanders gar nicht vorkommen) den Eindruck haben, die Situation vor 2005 (ohne Erlass) sei für die Kinder besser gewesen als jetzt (mit Erlass). Da haben die meisten Lehrkräfte nämlich gar nicht erst versucht, diagnostische Aussagen zu treffen, haben sich auf die Diagnose von Fachleuten verlassen und – so gut es ging – getan, was ihnen geraten wurde, um den Kindern zu helfen.
Aber unser Kumist sieht all das ganz anders. Und als gelernter Jurist muss er ja über Pädagogik bestens Bescheid wissen! Er traut den LehrerInnen alles zu (was diese selber sich nicht so ohne weiteres zutrauen würden): „Lehrer schätzen Schüler meistens richtig ein“, lautet die Überschrift eines Artikels in der „WZ“ vom 06.03.07, in dem Busemann das dreigliedrige Schulsystem verteidigt und meint, dass die Eltern den Schullaufbahnempfehlungen vertrauen könnten.
Das tun die Eltern jedoch nicht, und so kommt es, dass die Hauptschule „kaum gefragt“ ist, wie aus der oben erwähnten Studie hervorgeht: „Nur noch zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die allgemeinbildende Schulen besuchen, lernen derzeit an einer Hauptschule.“ („WZ“, 07.07.07)
„Weniger Belastung für Schulleiter“, hieß es am 15.02.07 auf der Niedersachsenseite. Diese hatten über zuviel Arbeit geklagt und werden deswegen jetzt von einem Teil ihrer Unterrichtsverpflichtung entlastet. „Ausfallender Unterricht soll aufgefangen werden“, allerdings ohne dass mehr Lehrkräfte eingestellt werden. Man wird sehen, wie das gehen kann; angesichts der vielseitigen Begabungen der Lehrkräfte können diese sich ja vielleicht auch demnächst zerreißen und in zwei Klassenräumen gleichzeitig unterrichten.
Die niedersächsischen Eltern vertrauen darauf allerdings nicht so unbedingt. Laut „WZ“ vom 23.02.07 will eine Volksinitiative die Landesregierung dazu zwingen, Lehrkräfte einzustellen und die Unterrichtsversorgung zu verbessern.
In Wilhelmshaven fallen Hunderte von Unterrichtsstunden aus, stellt die „WZ“ vom 22.03.07 fest. Zwar liegt die Versorgung der Schulen mit Lehrerstunden rein rechnerisch nahe 100 %, doch der Krankenstand macht einen Strich durch diese Rechnung. „Wir brauchen rechnerisch 110 Prozent, um eine 100prozentige Versorgung zu erreichen“, so zitiert die „WZ“ im Artikel „Schulen können Lücken nicht füllen“ den Stadtelternratsvorsitzenden Bernd Rahlf.
Aber nein, in Niedersachsens Schulen steht alles zum Besten! Wir haben doch die Schulinspektion eingeführt! Die Schulen bekommen (angekündigten!) Besuch von eigens dafür ausgebildeten Schulinspektoren und werden benotet. „Schlechte Noten für jede 20. Schule“ („WZ“ vom 13.02.07) – das geht ja noch. In einer Schulklasse bekommt bestimmt mehr als jeder 20. Schüler schlechte Noten!
„Endlich wieder Frontalunterricht!“, stoßseufzte ein Wilhelmshavener Realschüler nach dem Besuch der Schulinspektoren an seiner Schule. Dort war im Vorfeld der Überprüfung alles getan worden, um einen guten Eindruck zu machen. Alles pädagogisch Mögliche war vorher eingeübt worden, damit die Inspektoren zufrieden sein sollten. Gruppenunterricht, Gruppenunterricht, Gruppenunterricht, damit die SchülerInnen während der Inspektion wussten, wie man sich im Gruppenunterricht richtig verhält. Das musste gründlich geübt werden, denn normalerweise ist das dort nicht üblich. Das Training hat sich allerdings gelohnt, die Schule hat gute Noten bekommen. Dass ein jüngerer Schüler sich verplapperte und den Inspektoren verriet, dass das, was sie hier erlebten, normalerweise nicht stattfindet und „extra für Sie“ inszeniert wurde, schmälerte die Bewertung zum Glück nicht. Und zur Erholung für alle Beteiligten gibt es jetzt endlich wieder den gewohnten Frontalunterricht.
Warum sollten unsere Schulen auch gut sein? In allen anderen Belangen neben der Bildung geht es den deutschen Kindern ja auch viel schlechter, als es in einem der reichsten Länder der Welt sein könnte – und schlechter als in vielen anderen europäischen Staaten. „Deutschland vernachlässigt seinen Nachwuchs“ („WZ“ vom 15.02.06) und landet nur auf Platz 11 einer Studie, die das Überleben, die Entwicklung, die Nichtdiskriminierung, die Wahrung der Interessen und die Beteiligung der Kinder erhebt. Und die Schuld am schlechten Abschneiden in dieser Untersuchung können wir nicht einmal einem Ausländer in die Schuhe schieben: Den deutschen Beitrag zu dieser Erhebung leistete der Berliner Soziologe und Familienforscher Hans Bertram, der auch für den Familienbericht der Bundesregierung zuständig ist.

Anette Nowak

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