Kinderarmut 2
Apr 032007
 

Strukturelle Rücksichtslosigkeit

(iz) Die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Sabine Toppe promovierte an der Uni Oldenburg und arbeitet jetzt an der Uni Marburg. „Armut von Kindern und Jugendlichen – eine Herausforderung an die Gesellschaft“ war das Thema ihres Vortrags bei der Auftaktveranstaltung am 2. März in der VHS. Im Folgenden fassen wir die Kernpunkte ihrer Ausführungen zusammen.


Armut ist von den gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig und kann nur für eine bestimmte Gesellschaft sowie einen begrenzten Zeitraum begriffen werden. Sie muss für einen Sozialstaat wie Deutschland anders definiert werden als für ein so genanntes Entwicklungsland, deshalb lassen sich Kinderarmut in Deutschland und einem afrikanischen oder lateinamerikanischen Land auch nicht miteinander vergleichen (was aber immer wieder getan wird). Arm ist man nicht nur durch feststehende Merkmale, sondern vor allem im Verhältnis zu anderen wie auch zu sich selbst.
Wenn in Deutschland von Armut gesprochen wird, ist überwiegend materielle Armut, d. h. Einkommensarmut gemeint. In Wilhelmshaven liegt die Zahl armer Kinder nach dieser Definition bei 27,9%, mehr als 15% über dem Bundesdurchschnitt. Dabei konzentriert sich Armut in sozialen Räumen, in einigen städtischen Wohngebieten Wilhelmshavens beträgt die Sozialhilfequote von Kindern über 50%.
Kinderarmut berührt neben einer mangelhaften Grundversorgung auch Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung, Kultur und soziale Teilhabe. Aber was ist für Kinder selbst denn überhaupt Armut? Dazu Nathalie, 9 Jahre alt: „Wenn man nicht genug zum Anziehen kaufen kann. Wenn man nicht so eine große Familie hat, nur 1 oder 2 Personen oder so … Wenn man kein warmes Bett hat. Wenn man kein Fahrrad hat oder ein Auto, um mal irgendwo hinzufahren … Wenn man nicht in den Kindergarten gehen kann. Wenn man nicht genug Licht ins Haus bringen kann. Wenn man keine Stifte hat zum Hausaufgabenmachen … Wenn man keinen Fotoapparat hat, für Erinnerungen. Wenn man etwas zur Schule mitbringen muss, ein Buch oder eine Kassette, und man das nicht hat …“
Laut ALG II-Regelsatz muss sich ein Kind von 2,62 Euro pro Tag ernähren. Gesunde Ernährung ist damit Luxus. Für Bus und Bahn sind 10,87 Euro vorgesehen, ein Schülermonatsticket kostet aber 28,20 Euro. Für ein gebrauchtes Fahrrad muss ein Jugendlicher 6 Jahre sparen. Bücher, Nachhilfeunterricht, Mitgliedschaft in Vereinen sind unbezahlbar. Fast das Einzige, für das man noch Mittel außer dem Regelsatz beantragen kann, sind Klassenfahrten, die einzige Chance für arme Kinder, mal „rauszukommen“. Jugendliche in Bremen haben deshalb alle Lehrkräfte angeschrieben mit der Bitte, regelmäßig Klassenfahrten durchzuführen.
An so genannten „Brennpunktschulen“ beobachten Lehrkräfte zunehmend Kinder, die hungrig und der Jahreszeit unangemessen bekleidet zur Schule kommen. Anmeldungen zum Mittagstisch werden zurückgenommen, Zeichenblöcke werden „vergessen“, Schulmaterialien sind monatelang nicht vorhanden. Hinzu kommen gehäuft Mängel in der Wahrnehmung, Sprachstörungen und Koordinierungsschwierigkeiten.
Bildung allein ist allerdings auch keine Garantie für gesellschaftliche Teilhabe. Eine vergleichbare Armutssituation wird von Kindern unterschiedlich bewältigt. Mädchen suchen eher soziale Unterstützung, während Jungen dazu tendieren, ihre Probleme an die Umwelt weiterzugeben.
Zahlen und Berichte zur Kinderarmut liegen zur Genüge vor und auch Lösungskonzepte, aber es fehlt der politische Wille, sie umzusetzen. Kinderarmut wird in ihrer Vielschichtigkeit nicht zur Kenntnis genommen. Befragte Lehrkräfte an Grundschulen machen häufig die Eltern und besonders die Mütter verantwortlich. Es besteht die Gefahr, der Individualisierung von Armut Vorschub zu leisten. Toppe sieht die eigentliche Ursache in einer strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber Kindern bzw. Familien mit Kindern.
Bei den Hilfsmaßnahmen liegt der Schwerpunkt auf dem Interventionsbereich, oft in Form von Modellprojekten, deren Übernahme in die Regelfinanzierung fraglich ist. Für die Prävention, die schon in der KiTa oder früher ansetzen sollte, bleibt dann kaum was übrig.
Die Ganztagsschule gilt momentan als „Wunderwaffe“ im Umgang mit dem Problem Kinderarmut. Damit soll z. B. Müttern eine Vollzeitbeschäftigung ermöglicht werden. „Die Idee ist klasse“, das Problem ist nur: Viele Schulen mit „Ganztagsprogramm“, die gegenwärtig in Deutschland entstehen, erweisen sich als Mogelpackung mit schmalen Personalzuwendungen, die von Zielen und Ansprüchen weit entfernt sind. Wirklich integrierte Strategien setzen ein neues Verständnis von Schule voraus. Sie sollte ein Ort sein, an dem Fachkräfte unterschiedlicher Profession zusammenkommen und Schülerinnen und Schüler als mitwirkende Akteure anerkannt werden. Unabdingbar ist der Verzicht auf eine viel zu frühe und allzu häufig nicht leistungsgerechte Selektion und der Verzicht auf das „Sitzenbleiben“. Eine längere gemeinsame Schulzeit bietet Gelegenheit, Entwicklungen Zeit zu geben und versäumte Lerngelegenheiten nachzuholen.

Fazit
Armut bedeutet für Kinder häufig nicht nur eine Einschränkung ihrer gegenwärtigen Handlungsspielräume, sondern auch eine Begrenzung ihrer zukünftigen Entwicklungschancen. Ein kinderunfreundlicher Sozialraum, in dem Hartz-IV-Bezug zur lebensweltlichen Normalität geworden ist, kann eine pessimistische Lebenseinstellung und eine negative Einschätzung eigener Möglichkeiten verstärken. Der eigentliche Skandal liegt dann nicht mehr – wie im 19. Jahrhundert – im Hunger und ausufernder Kinderarbeit, sondern in der historischen Zufälligkeit des Kohortenschicksals. Die Vermeidung von Kinderarmut ist eine Querschnittsaufgabe der Steuer-, Arbeitsmarkt-, Familien-, Sozial- und Bildungspolitik. Eine zentrale Maßnahme wäre der Aufbau einer armutsfesten, eigenen Existenzsicherung für Kinder, um sie vom Einkommen der Eltern bzw. deren Sozial- oder Arbeitslosengeld loszulösen. Durch Prävention und Intervention allein wird Kinderarmut nicht aus der Welt zu schaffen sein.

 

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