Nacht und Nebel
Einige Folgen der überhasteten Umsetzung einer überhasteten „Reform“
(noa) In der Kneipe, im Wartezimmer beim Zahnarzt, in der Kassenschlange im Supermarkt, in Arbeitspausen, überall schnappen wir momentan Nachrichten auf, die direkt oder indirekt mit Hartz IV im Zusammenhang stehen. Es ist uns gar nicht möglich, allen Hinweisen nachzugehen. Was sich herauskristallisiert, ist: Hartz IV ist nicht nur insofern schlimm, als viele Arbeitslose auf das Existenzminimum gedrückt wurden. Es gibt auch zahlreiche Pannen.
Eberhard Menzel hat, wie wir in der letzten Ausgabe berichtet haben, das Hartz IV-Gesetz mit einer Nacht- und Nebelaktion verglichen, die auch sehr hastig umgesetzt werden musste. Er zeigte sich stolz darauf, dass man in Wilhelmshaven pünktlich damit fertig geworden ist. Doch offenbar ging das Tempo auf Kosten der Qualität, ähnlich wie das hektische Aufräumen in einem chaotischen Haushalt, wenn die pingelige Tante sich kurzfristig zum Besuch anmeldet: Schnell alles in die Schubladen geworfen, damit nichts im Wege liegt, doch danach findet man gar nichts wieder.
Ein Wilhelmshavener, der bis Ende 2004 Sozialhilfe bezogen hat, hatte im Dezember vom Sozialamt einen Berechtigungsschein für den Bezug von Möbeln aus dem Möbellager des Diakonischen Werkes bekommen. Beim Umzug fielen ihm die ganzen Sachen ein, die zu beantragen er vergessen hatte. Im Januar ging er wieder zum Sozialamt, um noch einen Berechtigungsschein für weitere Einrichtungsgegenstände zu erbitten. Doch auf dem Sozialamt fühlt sich niemand mehr für ihn zuständig. Er ist seit Anfang Januar Alg II-Empfänger und hat mit dem Sozialamt nichts mehr zu tun. Aber wohin soll er sich jetzt wenden, um seine erste eigene Wohnung einzurichten? Sein amtlicher Betreuer ist auch seit zwei Monaten damit beschäftigt, sich neue Kontakte aufzubauen, muss erst nach und nach dahinterkommen, an wen bei welcher Behörde er sich mit welchem Anliegen wenden kann.
Besonders nervig: Weder die amtlichen Betreuer noch die Angehörigen städtischer Dienststellen haben bisher eine Liste, der sie entnehmen könnten, wer bei der ARGE (Arbeitsgemeinschaft der Kommune mit der Arbeits-Agentur; neue Behörde wegen Hartz IV) wofür zuständig ist.
Beim Sozialamt arbeitet fast niemand mehr. Laut Aussage von OB Menzel sind 30 Beschäftigte von dort weg und zur ARGE gegangen. Nach uns vorliegenden Informationen sind es noch mehr. Nur noch 6 Beschäftigte sind beim Sozialamt geblieben. Klar, eine Menge Aufgaben, die das Sozialamt hatte, obliegen nach Hartz IV jetzt der ARGE. Ein paar Aufgaben hat das Sozialamt aber doch noch. Sind die Akten von Leuten, die noch etwas vom Sozialamt zu kriegen haben, jetzt bei der ARGE, oder fehlen der ARGE Akten, weil die noch beim Sozialamt sind? Beides scheint zuzutreffen, wenn man die Pannen sieht, die uns zu Ohren gekommen sind. So hat eine behinderte Frau, die eine Rente bezieht, bisher vom Sozialamt eine Haushaltshilfe gestellt bekommen. Diese Frau kommt nicht mehr, weil sie seit Anfang Januar kein Geld mehr für ihre Arbeit bekommen hat.
Eine andere Frau stellte Mitte Februar, als sie das erste Mal im neuen Jahr medizinische Leistungen in Anspruch nehmen musste, fest, dass sie nicht mehr krankenversichert ist. Sie selbst war völlig ratlos, doch der Helfer, der sich ihrer annahm, konnte erreichen, dass die ARGE sie sofort wieder bei einer Krankenkasse anmeldete. Es war nur ein kleines Versäumnis gewesen, das schnell wieder behoben wurde. Da fragt sich aber, bei wie vielen Menschen, die von der Zuständigkeit des Sozialamtes in die der ARGE übergegangen sind, solche Versäumnisse vorkamen und nicht schnell behoben wurden, weil sie selber ratlos sind, aber von niemandem, der sich traut, unterstützt werden.
Die städtischen Beschäftigten, die jetzt ARGE-Mitarbeiter sind, waren nicht alle gleichermaßen begeistert, ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Man versüßte ihnen die Pille mit der Aussicht, schönere, hellere Büros zu bekommen (wer die Sozialamtsräume im Rathaus und das Arbeitsamt kennt, weiß, dass das ein Lockmittel ist!), und vor allem mit der Ankündigung, dass sie neue Computer bekommen werden. Als sie in ihren neuen Arbeitsräumen ankamen, stellten sie fest, dass die Bediensteten der Arbeits-Agentur sich die neuen Computer schon gegriffen hatten und für sie nur die alten übrig geblieben waren.
Im Sozialamt hat man sich schon im alten Jahr auf die neuen Aufgaben vorbereitet. Nicht alle Bediensten haben das Mehr an Arbeit so ohne weiteres bewältigt. Wir hören von einer Beschäftigten, die es nicht packte und krank wurde. Ihre „Fälle“ liegen jetzt unbearbeitet auf irgendeinem Schreibtisch, denn ihre KollegInnen haben selber genug zu tun. Liegt vielleicht die Haushaltshilfe der behinderten Frau dazwischen? Und vielleicht noch mehr, worauf Hilfesuchende händeringend warten?
Als „Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe“ wird das Alg II gepriesen. Wer arbeitsfähig ist und bisher Sozialhilfe bekommen hat, bezieht jetzt Arbeitslosengeld II. Das sei toll, so sagen die Befürworter dieser „Reform“, weil jetzt auch die ehemaligen Sozialhilfeempfänger alle Segnungen der Arbeits-Agentur genießen: Jemand bemüht sich darum, sie in Arbeit zu vermitteln. Es ist auch ehrlicher, sagt Gerhard Schröder angesichts der plötzlich gestiegenen Arbeitslosenzahl.
In Wilhelmshaven wurden alle Sozialhilfeempfänger mit einem Schlag als arbeitsfähig erklärt (wie es scheint, haben das viele Kommunen so gemacht), und jetzt haben die Amtsärzte eine Menge Arbeit, all diese Menschen daraufhin zu untersuchen, ob sie tatsächlich drei Stunden täglich arbeiten können.
5,2 Millionen Arbeitslose meldete das ZDF am 1. März. Diese hohe Zahl kommt nicht nur von der anderen („ehrlicheren“) Zählung unter Einbeziehung der bisherigen Sozialhilfeempfänger, sondern auch durch Entlassungen. Die einzige gut ausgelastete Branche scheinen die ARGEen zu sein. Die Fallmanager dort erarbeiten mit den einzelnen Arbeitslosen einen Plan, dem die „Kunden“ freiwillig zustimmen müssen. Wenn nicht, wird das Alg II gekürzt.
Die Arbeitslosen haben aber auch jede Menge zu tun: Sie müssen sich bewerben. Und sie müssen nachweisen, dass sie sich bemühen. Eine Bekannte der Verfasserin dieses Artikels erzählt stolz, dass sie in diesem Jahr schon 14 schriftliche belegte Ablehnungen gesammelt hat. Toll!
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