Pflege nach Handbuch
Pauline-Ahlsdorff-Haus: Euro-Norm erreicht – Die Alten müssen’s ausbaden
(noa) Wenn Oma und Opa in das Alter kommen, in dem sie allein nicht mehr zurechtkommen, wenn dieses oder jenes Zipperlein dazukommt, dann stellt sich die Frage nach einer neuen Heimat. Die ist nach Einführung der Pflegeversicherung vielleicht häufiger als früher der Haushalt der Kinder, in den meisten Fällen jedoch ein Heim.
Und da der Fortschritt der Medizin uns immer länger am Leben hält, auch wenn wir vielleicht nicht mehr in der Lage sind, es allein zu führen, entstehen immer mehr solcher Heime. Früher hießen sie „Siechenheim“ und waren durchweg in städtischer oder kirchlicher Trägerschaft, heute heißen sie „Altenpflegeheim“ oder, etwas vornehmer, „Seniorenpflegezentrum“, und in vielen Fällen werden sie von Privatleuten oder gemeinnützigen Organisationen betrieben. Und die stehen in einem harten Wettbewerb um potentielle BewohnerInnen.
Zaubermittel Zertifikat
In diesem Wettbewerb hat die Arbeiterwohlfahrt Weser-Ems (AWO) als Träger des größten Altenpflegeheims in Wilhelmshaven lange die Nase vorn gehabt. Das Pauline-Ahlsdorff-Haus ist lange Jahre das einzige derartige Heim gewesen und ist wahrscheinlich das bekannteste. Um die Nase vorn zu behalten, hat sich das Pauline-Ahlsdorff-Haus im Frühling zertifizieren lassen und wirbt nun bei den potentiellen Pfleglingen bzw. ihren Angehörigen mit diesem Zertifikat. „Ähnlich einer TÜV-Plakette“, wie die AWO in ihrem „Leitfaden zur Qualität“ schrieb, den sie im Vorlauf der Zertifizierung ihren Beschäftigten an die Hand gab, bescheinigt das Zertifikat dem Haus, sich an sein „Qualitäts-Management-System nach DIN EN ISO 9001“ zu halten.
Es ist im gesamten Dienstleistungsgewerbe in Mode gekommen, sich nach einer ISO-Norm zertifizieren zu lassen. Zahlreiche Firmen, Läden, auch die Telekom, haben das Geld investiert, sich ein Qualitäts-Management-Handbuch zuzulegen, die Beschäftigten entsprechend schulen zu lassen und sich von einer Zertifizierungsgesellschaft den begehrten Stempel aufdrücken zu lassen. Insider behaupten, in wenigen Jahren werde es einfach nicht mehr ohne gehen.
Das Pauline-Ahlsdorff-Haus ist nach unserer Kenntnis in Wilhelmshaven allerdings der einzige Betrieb im Bereich der Sozialarbeit, der das Zertifikat erworben hat, und viele MitarbeiterInnen fragen sich nach dem Zweck der Übung. An die Zeit bis zur Überprüfung durch den „TÜV“ erinnern sie sich als „wahnsinnig stressig“, aber die Hoffnung, daß es nach dem Tag X wieder entspannter zugehen würde, bewahrheitete sich nicht. „Ein Teil der QM-Handbücher enthält unsere Pflegestandards. Die sind richtig gut. Nur wenn wir danach arbeiten wollten, dann wären die BewohnerInnen vor dem späten Nachmittag nicht fertig mit dem Waschen und Frühstücken“, so eine Altenpflegerin.
Eine andere Beschäftigte hat den Eindruck, daß sich nur wenige Zeilen in den fünf QM-Handbüchern tatsächlich auf die Altenpflege beziehen, aber ansonsten jeder Arbeits- gang reglementiert sei. „Wenn in einem Flur eine Glühbirne durchbrennt, dann beginnt erst einmal ein umfangreicher Papierkrieg. Das muß alles nach Handbuch gehen.“ Ihre Wahrnehmung ist sicherlich getrübt durch ihren Ärger, aber eine ihrer Kolleginnen bestätigt, daß der größere Teil der Anweisungen den Verwaltungskram betrifft. Das ist auch ganz folgerichtig.
Höhenflug durch die ISO-Norm?
Die Zeitschrift „wirtschaft & weiterbildung“ untersucht in ihrer Ausgabe 3/97 den „Höhenflug durch die ISO-Norm“. Dieser Artikel befaßt sich zwar mit der Zertifizierung von Bildungsinstituten, doch was über DIN EN ISO 9001ff. ausgesagt wird, gilt allgemein: „Wenn von Qualität die Rede ist, geht man im deutschen Sprachgebrauch immer von Bestleistungen aus. Ein Unternehmen, das einen Qualitätsstempel erhalten hat, muß folglich ein Unternehmen mit herausragenden Produkten oder Dienstleistungen sein. Den Zertifizierer, der das ISO-Zertifikat vergibt, interessiert jedoch nicht, ob ein Unter- nehmen das beste Produkt oder die beste Dienstleistung erbringt. Ihn interessiert vielmehr, welche Art von Produkt respektive Dienstleistung erbracht wird und ob das auch genau so getan wird, wie es im Qualitätshandbuch des Unternehmens beschrieben wurde.“ Und weiter: „Das Zertifikat DIN EN ISO 9001ff. beschreibt die Organisation und die Prozesse zur Erbringung einer Dienstleistung (was gemacht wird), nicht die Inhalte der Dienstleistung (wie die Qualität ist).“
Von einem Altenpflegeheim sollte man erwarten können, daß die BewohnerInnen gut untergebracht und verpflegt werden, daß sie so viel Pflege und Hilfe bekommen, wie sie brauchen, daß sie ihre eigenen Fähigkeiten möglichst anwenden sollen, daß ihnen mit Respekt und Freundlichkeit begegnet wird usw. Wie eine solche gute Altenpflege durchgeführt wird, darüber geben die Handbücher keine Auskunft. Im Pflegeversicherungsgesetz ist eine „aktivierende Pflege“ vorgeschrieben, was z.B. heißt, daß eine alte Person, die noch allein essen kann, dies auch tun soll. Zeitdruck auf Grundaufgrund von Personalmangel führt allerdings häufig dazu, daß diese Person einfach gefüttert wird, weil das schneller geht, als wenn die Pflegekraft dabeisitzt, mit dem Pflegling spricht und ihn ermuntert.
Gerade diesen mitmenschlichen Kontakt braucht ein alter, vielleicht schon etwas verwirrter Mensch, um ein Mensch zu bleiben und nicht zum verwalteten Gegenstand zu werden. Das ist für viele, die sich für den Altenpflegeberuf entschieden haben, das Motiv für ihre Berufswahl gewesen, aber damit ist es durch die Zertifizierung nicht besser geworden. Ob es durch das Qualitätsmanagement kommt, daß die Pflege immer weniger menschlich ist, ob es sich unabhängig vom Zertifikat durch die Pflegeversicherung so stellt, oder ob Personalmangel und Arbeitshetze weder durch das eine noch durch das andere gegeben sind, darüber äußern sich die Beschäftigten des Pauline-Ahlsdorff-Hauses unterschiedlich. Unzufrieden sind aber die meisten. Die Unzufriedenheit wurde noch geschürt, und sie griff auf auch viele BewohnerInnen und Angehörige über, als im Sommer fast das gesamte Personal umgeschichtet wurde.
Rotationsprinzip?
Einige Wohnbereichsleiterinnen wurden degradiert und auf andere Wohnbereiche versetzt, andere Altenpflegerinnen wurden zu Wohnbereichsleiterinnen befördert, aber auf einer Station eingesetzt, die sie nicht kannten. Kein Wohnbereich hat mehr das Personal wie vorher, in einigen Bereichen sind sogar nur „neue“ (also für die BewohnerInnen fremde) Pflegekräfte. Ein Angehöriger ist empört: „Meine Mutter ist schon sehr verwirrt. Sie erkannte früher ihren Wohnbereich am Personal. Diese komplette Umbesetzung hat sie völlig durcheinander gebracht. Sie hat nach dem Wechsel des Personals stark abgebaut. Die neuen Pflegerinnen werden sehr viel Mühe haben, bis meine Mutter sich wieder orientieren kann.“ Besonders ärgerlich ist, daß dieser Sohn keine Auskunft darüber bekommt, warum die vertrauten Gesichter von einem Tag auf den anderen fehlten. Die Beschäftigten können ihm das nicht erklären, denn ihnen wurde es auch nicht erklärt.
Da blühen natürlich die Mutmaßungen , z. B. daß es darum gegangen sei, die „Cliquenwirtschaft“ zu zerschlagen, sprich: die Nester des Widerstandes gegen die Arbeit nach dem Qualitäts- Managementhandbuch. Gegenüber dem GEGENWIND gaben verschiedene Beschäftigte unterschiedliche Auskünfte darüber, ob es denn Widerstand gegen das Handbuch gibt oder gegeben hat: „Natürlich haben wir uns über den Rummel aufgeregt“, „Ich kümmere mich nicht um das Handbuch, ich mache gute Arbeit“, „Wir würden uns gerne an die Pflegestandards halten, aber wir sind zu wenig Personal“ und ähnliche Aussagen haben wir eingefangen.
„Die totale Rotation ist genauso erfolgt wie die Zertifizierung: Ohne Erklärung, ohne unsere Meinung dazu einzuholen, ohne unsere Beteiligung. Das mit der Zertifizierung hat man uns dann mit der Broschüre mitgeteilt, nachdem alles schon beschlossen war. Ob man uns irgendwann mal erklärt, welchen Sinn die Umbesetzung des Personals haben sollte, werden wir ja sehen“, erklärt eine Beschäftigte resigniert.
Alle MitarbeiterInnen, mit denen wir über die Umschichtung des Personals und die Folgen der Zertifizierung gesprochen haben, sind überzeugt, daß im Pauline-Ahlsdorff-Haus gute Arbeit geleistet wird. Sie erleben es aber als immer schwieriger, diesen hohen Standard auch zu halten. q
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