Auf zur anderen Seite des Wilhelminismus!
Hitler vor den Toren der Stadt
(von Hartmut Peters) Karlchen wohnt seit 30 Jahren in Wilhelmshaven. Beim traditionellen Treff mit alten Studienfreunden in Berlin schlägt jährlich seine Viertelstunde. „Sach maa, was, hicks, mach’ enn ei-eig’lich Willemshaafn?“ ist kurz vorm Koma-Kult. Und das war jetzt Axel, der seinem gedunsenen Gesicht einen finalen Schmiss abringt.
Karlchen (schlagartig nüchtern): In meiner Heimatstadt gibt es jetzt eine Gesellschaft für Wilhelminische Studien.
Axel: Ach so, der Wilhelmine mal so unter die …
Karlchen: Schwein! Nein, die wissenschaftliche Erforschung der anderen Seite des Wilhelminismus, so stand es in unserer Zeitung, dem Neuen Wilhelmshaven. Wilhelminismus nennt man die Kaiserzeit nach Bismarck unter Wilhelm II.
Heiko (kriegt noch ein Auge auf): Also, die Traditionslinien eines antisemitischen und größenwahnsinnigen Kaisers hin zu Auschwitz. Die Hunnenrede, der Boxeraufstand, die Ermordung der Herero, die Duldung des Genozids der Türken an den Armeniern und der Erste Weltkrieg und die Unterdrückung der Demokraten und …
Anna (starrt in den Ascher): Echt Luxus, das hätte ich nicht gedacht. Weil doch der Verwandte von Willy II., der Wilhelm I., wegen seiner zahlreichen Kriege und der Unterdrückung der Sozialisten erst vor 13 Jahren oder so ein neues Bronzestandbild von der SPD und den Unternehmern gekriegt hat. Hast du doch mal erzählt. Wie großzügig, dass da jetzt noch was nachgelegt wird!
Karlchen: Treffer. Wir sind die Speerspitze einer Geschichts- und Kulturpolitik, die jeder doitschen Stadt zum Vorteile gereichen würde! Schon letztes Jahr hat eine Ausstellung von Zeichnungen, Ölbildern und Architekturstudien von Willy II. den geistigen Boden rechter Denkungsart befruchtet. In unserer Kunsthalle. Ja, echt, so was haben wir. Lacht nicht so ungläubig!!
Anna: Cool, diese Parallele zu Adolf Hitler herauszuarbeiten, zwei große, leider verhinderte Künstler und Architekten! Den Willy II. als Möchtegern-Künstler zu entlarven und ihn so in die gebührende Linie zu Hitler zu stellen. Verdienstvoll und immer auf der Suche nach der Differenz. Denn Hitler hat ja Wilhelmshaven 1945 ziemlich platt gemacht, während Wilhelmshaven den Kaiser 1918 plättete. Richtig dekonstruktive postmoderne Diskurs-Fuzzies, die Jade-Fischköppe.
Axel: Diese andere Seite, so ungemein erregend wie die des Mondes. Und Willys ganze Biographien füllende Vorliebe für die andere Seite … Und jetzt noch eine ganze Gesellschaft für den Arsch. Ich sach ja, die Provinz, die Provinz, die bringt’s.
Karlchen: Genau. Wilhelmshaven heißt ja jetzt die technische Kaiserstadt, so die brandneue Sprachregelung im Neuen Wilhelmshaven. Das ergibt auch eine Novellierung des Wilhelmshavener Glaubensbekenntnisses in „Ich lege hiermit das Bekenntnis ab zur einzigen technische Kaiserstadt am einzigen deutschen Tiefwasserhafen.“ Leider keine reine Kaiserstadt, eben nur die technische. Deshalb lässt man ja auch die Südzentrale verfallen, damit das rein Kaiserliche später mehr auffällt. Das ist angewandte Dialektik! Hier machen Maulwürfe die Revolution.
Sabine (erwacht): Feldherrenhügel der angewandten Archäologie, würde ich sagen. Und wo wird der Sitz der Wilhelminischen Gesellschaft sein, im Steinhaufen der Südzentrale?
Karlchen: Nein, im Wasserturm an der Gökerstraße, der ist zwar preußisch, aber was macht es. Lesungen aus den Werken der Prinzessin Feodora garantieren das Niveau. Ein sträflich vergessenes lyrisches Talent, weit oberhalb von Karl-Heinz Funke! Anekdoten aus dem Leben Willys verbürgen die Wissenschaftlichkeit. Wie er auf dem ostelbischen Gut die 9. Magd geschwängert hat. Und für die wissenschaftliche Unabhängigkeit steht selbstredend die Verwaltung der Hohenzollern, die den ersten Abend federführend gestaltete.
Heiko, Anna, Sabine (im Chor): Und was hält man von einem „Carl-Peters*-Lehrstuhl für angewandten Imperialismus“ an der Fachhochschule im Rahmen des internationalen Wirtschaftsstudiums mit einem Auslandspraktikumssemester, sagen wir, im Irak?
Karlchen: Kommt, wenn Deutschland im Weltsicherheitsrat sitzt. Die Wilhelmshavener Wissenschaft muss dann ein Bekenntnis zur Marine ablegen. Da seid ihr platt, ihr notgeilen Katastrophentouristen. Bei uns ist niemals 1. April. Wir haben jetzt das magische Dreieck, den explosivsten Innensturm der Weltgeschichte. Jever ist die Bismarck-Stadt, Wilhelmshaven wird umbenannt in „Wilhelms-des-Zweiten-Haven“, und Varel schmiert sich den Hitler in die Geschichte, der ist ja noch frei.
Axel: Bä, bä, bä! Grottiges product placement. Wäre ich Senior History Manager of Schlicktown County, würde ich Varel mit Hindenburg sellen, um das superior branding Hitler für Wilhelmshaven in the middle zu saven. Wilhelm würde ich in Lizenz nach Horumersiel outsourcen.
Anna: Ja, ja, diese Billiggeistkaffs im Windschatten der globalen Fürze. In der Ecke kann jeder Doktor sein. Den Hamster zur Hausmaus machen, um den lokalen Siegfried zu geben, aber den Drachen eingemottet lassen.
Axel: Wie Recht du hast! Hitlershaven liegt doch in der Luft und muss nur noch inkarnieren. Warum sollte das Oberzentrum Nebenorten eine Marke lassen, die sich auch in Jahrtausenden noch selbst bewirbt? Wer hat denn auch ab 1933 erst ganze Stadtteile wachsen lassen? HHV, das klingt optimistisch, wie positive Zukunft. WH2V stinkt doch nach Fleckenpaste.
Sabine: Die Nazis, das sind doch eh bald nur noch Trachtenvereine. Nur wer sich heute das dickste Stück vom Braten der Geschichte abschneidet, wird im Zeitalter der Globalisierung die dickste Wurst drücken. In Auschwitz standen, medial gesehen, auch nur Gruselkammern. Das ist doch der Masterplan hinter der Wilhelminischen Gesellschaft. Nur kann man nicht immer gleich alles sagen. Man muss doch die Menschen mitnehmen! Vom Wilhelmsdenkmal über das Marinemuseum zur anderen Seite!
Karlchen: Oh, ich provinzieller Kleingeist! Ich sehe schon die chinesischen Touristen mit Hitler-Bärtchen, die mit den Arabern aus dem Holiday Inn über die Ölvorkommen darunter verhandeln. Das gibt Arbeitsplätze! HHV wird globaler Brennpunkt geschichtsmythologischer Vergangenheitsentsorgung als Wirtschaftsfaktor. In der Viererkette Bismarckseier (Ex-Jever) – Wilhelmssiel (Ex-Horumersiel) – Hitlershaven – Hindenburgel (Ex-Varel). Städtische Geschichtspolitik befiehl, wir folgen.
*) Dr. Carl Peters * 27.09.1856 Neuhaus an der Elbe – † 10.09.1918 Bad Harzburg
Dr. Carl Peters gilt als der Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Er schloss 1884 in Ostafrika die ersten Verträge ab und gründete 1885 die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft.1897 wegen verschiedener ihm zur Last gelegten Grausamkeiten gegen Eingeborene zur Dienstentlassung
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