Leserbrief 1
Apr 151991
 

Leserbriefe:

Das Kind mit dem Bade …
Mensch stelle sich vor: Otto Graf Lambsdorff verkündet stolz (!) und öffentlich, in der FDP gebe es „keine innerparteilichen Auseinandersetzungen“ mehr. Was würde geschehen?
Ein Protestgeschrei erhebt sich unter den letzten aufrechten Liberalen. CSU und PDS bieten ihm die Ehrenmitgliedschaft an – und neulich noch hätten ihm die Grünen zärtlich einen Volkshochschulkurs spendiert: „Demokratie für Anfänger“.
Heute prahlt ein grüner Ratsherr höchstselbst damit, dass bei ihm abweichende Meinungen nicht mehr vorkommen. Und niemandem fällt das auf. Warum beachtet kein Mensch mehr diese Partei ausgerechnet jetzt, da das armselige Schlachtgetümmel der Flügelfeldherrn verstummt ist und „Ruhe und Ordnung“ einkehren?
90% der Mitglieder, darunter fast alle ArbeiterInnen, Jugendlichen und AktivistInnen der „Neuen Sozialen Bewegungen“, sind aus der Partei geflüchtet oder wenigstens in die innere Emigration gegangen – Biehl und Kläne sind’s zufrieden. Waren das sämtlich Sektierer und notorische „Heckenschützen“ (Biehl), um die es nicht schade ist?
Alle unbequemen, womöglich linken Grünen als „Fundamentalisten“ zu schmähen, ist bestimmt populär, aber allzu simpel. In Wilhelmshaven haben wir mit den Fundis einige der phantasievollsten und engagiertesten Menschen vergrault. (Allerdings haben sie auch etwas eilig aufgegeben.) Im Kommunalwahlkampf werden sie Euch jedenfalls fehlen!
Die „allgemeine Politikmüdigkeit“, die Gerd Kläne beklagt, ist auch eine komische Ausrede für die fehlende Anziehungskraft der Grünen. Sind wir nicht gegen eben diese Resignation angetreten? Nun betrachten sich die Grünen freiwillig als Teil dessen, was sie überwinden wollten, und entschuldigen die Abgeschmacktheit ihrer Partei damit, daß die CDU auch nicht interessanter ist als sie.
Die „Realos“ haben wohl gewonnen – nicht zuletzt weil sie in vielem recht hatten:
– Wer sich auf Parlamente einläßt, kann in einer Mediengesellschaft nicht auf Dauer ausschließlich als „Kraft der Negation“ auftrumpfen.
– Das ritualisierte „Promi“-Schlachten per Rotationsprinzip zeugt eher von Minderwertigkeitskomplexen als von einer starken Basis.
– Altstalinistische Avantgardephantasien sind wirklich kein tragischer Verlust.
Aber wie in jedem „Krieg“ (daran, daß Selbstzerfleischung die Kommunikation verdrängt hat, sind alle Strömungen schuld) ist der Preis des Sieges zu hoch: er heißt Ausblutung und Langeweile.
Es gab einmal Zeiten, glaube ich, da hätten die Grünen in dieser Stadt ein klares öffentliches Nein zu umweltverpestender Großindustrie gewagt, auch wenn ganz Wilhelmshaven die Entmottung der Ölraffinerie zelebriert und dabei den Verstand verliert. Heute halten es auch in Wilhelmshaven viele mit unserem Starlet Joschka Fischer, der (Sinn für Satire hat er ja) nicht mehr für den sofortigen Atomausstieg sein will, „weil es dafür noch keine gesellschaftliche Mehrheit gibt“ (!) Raffiniert.
Manchmal sehne ich mich nach den historischen Auftritten der Autonomen auf Wilhelmshavener Mitgliederversammlungen; und wenn ich mich noch so sehr über sie geärgert habe. Aber wenigstens haben noch Leute die Grünen wahrgenommen und als Gesprächspartner angesehen, die nicht der um sich selbst kreisenden politischen Kaste angehören.
Kein Mensch übrigens verlangt von grünen Abgeordneten, dass sie sich während einer Ratsdebatte die Kleider vom Körper reißen und den Bürgermeister in die Nase beißen. Ich kann jedoch nicht daran glauben, daß wir einen einzigen „Wertkonservativen“ für die radikaldemokratische Sache gewinnen, wenn wir selbst sie gar nicht mehr verkörpern. Wer sich an den Zeitgeist anbiedert, kommt darin um. Und wenn er noch so respektabel geworden ist.
“ Die Grünen sind zuallererst menschlich gescheitert“, sagt Petra Kelly.
Und kulturell, füge ich hinzu.
In der Tat sind die parteiinternen Kreuzzüge der Kampfaffen aller (!) Flügel ein beschämendes Schauspiel gewesen. Aber das destruktive Getöse durch Grabesruhe zu ersetzen, kann nicht der Weg aus der Krise sein. Manche „Realos“ wollen die Grünen zu einem kreuzbraven Ameisenstaat umformen: straffe Organisation, klare Hierarchien, formale Demokratur und fleißiges Fußvolk. Efficiency statt Streitkultur und Basisdemokratie.
Vom Soziologen Jürgen Habermas stammt der Satz , die deutsche Linke sei geradezu „verliebt“ in ihre Bedeutungslosigkeit. Das trifft ebenso die „Realos“ , die auf dem Altar des Machtkalküls noch die letzte echtgrüne Idee opfern würden, wie jene Hüter der allerheiligsten Lehre, die am liebsten auf das Weltende warten würden, um dann rufen z u können: „Ätsch, das haben wir immer schon gewußt!“
Die Grünen bleiben wichtig, wenn sie das Bündnis mit den sozialen und ökologischen Emanzipationsbewegungen erneuern, und vor allem: wenn sie das Streiten lernen – unter sich selbst und hoffentlich bald wieder mit dem Rest der Gesellschaft. Eine weitere „ordentliche“ Partei aber mit hermetischer Organisation statt Buntheit, Glasnost und Aufgeschlossenheit kann noch so „erfolgreich“ werden: Sie ist schlicht überflüssig. Inhalt und Form sind nicht trennbar: Ein autoritärer Parteibonze kann nicht mehr für Volksentscheide eintreten. Konsequenterweise findet Joschka Fischer direkte Demokratie „nicht so wichtig“.
Die Grünen haben nur dann eine Chance, wenn sie den Verzicht auf scheinradikale Dogmen mit dem Mut verbinden, dennoch und schamlos anders zu sein.

Marcus v. Schmude,
ehemaliger Sprecher der Wilhelmshavener Grünen
P.S. Trotzdem zweifle ich nicht daran, daß Gerd und Werner im Rat immer noch kompetente und unverzichtbare Arbeit leisten. Und das bei dieser SPD!

 

 

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