Regelsätze vor Gericht
Erstmalig seit dem Bestehen von Hartz IV interessiert sich ein Gericht für die Auswirkungen dieses Gesetzes auf Kinder
(noa) In ihrer ersten Monatsversammlung nach der Sommerpause am 9. September wollte sich die Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland (ALI) mit den zum 01.01.2009 geplanten Änderungen in der Arbeitsmarktpolitik beschäftigen. Aus aktuellem Anlass kam es anders.
Ernst Taux berichtete über einen Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. August (Az. 26AS336/07) in einem zweitinstanzlichen Verfahren einer dreiköpfigen Familie, nach deren Vortrag die Regelsätze beim Arbeitslosengeld II zu niedrig sind. Mit Sicherheit finden fast alle Betroffenen die Regelsätze zu niedrig. (Um 351 Euro für eine Einzelperson zuviel zu finden, dafür muss man schon Wirtschaftsprofessor in Chemnitz sein.) Doch wer kommt schon auf den Gedanken, deswegen die zuständige ARGE zu verklagen?
In der ersten Instanz vor dem Sozialgericht Kassel sind die Kläger, eine dreiköpfige Familie, erfolglos geblieben – mit welcher Begründung, können wir nicht herausfinden, denn das entsprechende Urteil ist nicht bei www.tacheles-sozialhilfe.de dokumentiert, und das Sozialgericht Kassel veröffentlicht seine Entscheidungen leider auch nicht auf seiner Homepage.
Die klagende Familie hat jedenfalls Berufung eingelegt, und das Berufungsgericht, das Hessische LSG, hat beschlossen: „Es soll Beweis erhoben werden über die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts durch die Regelleistungen gem. §§ 20, 22 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch: Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II- (…) durch Einholung zweier sozialökonomischer Sachverständigengutachten auf der Basis mikroökonomischer Datenanalyse.“ Als Sachverständige sollen Dr. Rudolf Martens, Leiter der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, und Dr. Irene Becker vom Projekt „Soziale Gerechtigkeit“ der Universität Frankfurt/Main siebzehn Beweisfragen beantworten.
Wie der Gesetzgeber die in § 20 Abs. 1 SGB II bezeichneten Bedarfe ermittelt, ob die zu diesem Zweck gewählte Methode geeignet ist und folgerichtig angewandt wird, ob Kinder im Zusammenhang zu den Regelsätzen als eigenständige Bevölkerungsgruppe wahrgenommen werden, das z.B. will das Hessische LSG von den Sachverständigen wissen. Weiter fragt es, ob die Bedarfsermittlung auf Grundlage der untersten Einkommensgruppe der Alleinstehenden stattfindet, welche Merkmale diese Gruppe hinsichtlich ihrer Zusammensetzung sowie der Zusammensetzung ihres Bedarfs aufweist, ob diese Gruppe nicht hauptsächlich aus RenterInnen besteht, wie groß diese Gruppe ist und wie sich deren Bedarfe von denen der Kläger (also einer Familie) unterscheidet. Die Antworten auf diese Fragen werden äußerst wichtig sein, denn Rentner und Rentnerinnen benötigen eher selten Schulranzen, Hefte und Radiergummis, sie wachsen auch nicht so schnell aus ihrer Kleidung heraus – Kinder schon erheblich häufiger, doch in deren Regelsatz sind diese Dinge nicht eingeplant. So sind die nächsten Fragen folgerichtig, in welcher Höhe der Unterschied des Bedarfs zwischen der unteren Einkommensgruppe und einer Familie zu beziffern ist und ob dieser Unterschied durch die Vorteile des gemeinsamen Wirtschaftens in einer Familie ausgeglichen werden kann.
Auf die Tatsache, dass die Bedarfsermittlung für Arbeitslose nur alle vier Jahre stattfindet, hebt offenbar die Frage danach ab, wann und für welchen Zeitraum die erste Berechnung vorgenommen wurde und ob sie noch zutreffend ist. Und besonders spannend wird es sein, was bei der Frage herauskommt, ob die existenzminimalen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen zutreffend ermittelt wurden, wie stark diese Bedarfe vom Regelsatz abweichen und ob der Grundsatz der „familiengerechten Leistungen“ eingehalten wird.
Die nächsten Fragen deuten darauf hin, dass die Klage der bewussten Familie sich gegen die Benachteiligung von Familien gegenüber Alleinstehenden bezogen haben könnte: Das Gericht will wissen, ob der Regelsatz für die soziale Teilhabe einer Familie ausreicht und ob und in welcher Höhe eine Benachteiligung gegenüber Einzelpersonen besteht, und dann wird es noch deutlicher: Da wird gefragt, welche bildungsrelevanten Bedarfe von Kindern berücksichtigt und welche nicht berücksichtigt sind.
Wir haben im Gegenwind 226 über die Broschüre „Reiches Land – arme Kinder“ berichtet, in der genau aufgeschlüsselt ist, wie wenig sich ein Kind vom Regelsatz z.B. an Büchern leisten kann – die Antwort auf diese Fragen des Gerichts wird aufschlussreich sein.
In einer weiteren Frage bezieht sich das Hessische LSG auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Kindern das Recht auf Mitgliedschaft in Vereinen, auf die Möglichkeit zur Begegnung, auf die Anwendung moderner Kommunikationstechnik u.v.m. zuspricht – ob diese Bedarfe durch den Hartz IV-Regelsatz gedeckt werden können oder ob die Deckung dieser kulturellen Bedarfe als defizitär zu bezeichnen ist und welche Auswirkungen auf die Lern- und Bildungsfähigkeit des Nachwuchses zu befürchten sind, ob konkrete Indikatoren sozialer Ausgrenzung für Kinder und Heranwachsende existieren – all das wissen die betroffenen Familien natürlich schon längst, aber nun wird das von Sachverständigen für ein Gericht genau nachgewiesen werden. Wir sind gespannt auf die Antworten!
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