Eine Frage der Umgangsformen
Im Kampf gegen schrumpfende Städte ist Kreativität gefragt
(iz) In einer bundesweiten Wir schrumpfenDemographiestudie, die im Mai von GEO veröffentlicht wurde, bildet Wilhelmshaven das Schlusslicht aller niedersächsischen Landkreise und kreisfreien Städte. Bundesweit hat mehr als Viertel aller Regionen die Note 4 und schlechter. Wir haben geschaut, wie man in Wilhelmshaven reagiert und wie man andernorts mit den Problemen umgeht.
GEO-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede im Vorwort zur Demographie-Statistik
In Wilhelmshaven heißt es von offizieller Seite: Nicht die Arbeit am Rathaus sei schuld an der schlechten Bewertung unserer Stadt, sondern die Studie. Der bis 2020 prognostizierte Bevölkerungsschwund um mehr als 15% basiere auf falschen Berechnungen des Landesamtes für Statistik. Auch dass sich, laut Studie, je 100 kleine Wilhelmshavenerinnen um 48 Kindergartenplätze prügeln müssen, wurde angezweifelt – bislang ohne Gegenbeweis.
Hand aufs Herz: Ist das Feilschen um eine Schulnote besser oder schlechter das Mittel der Wahl gegen Trends, die auch ohne die Studie auf der Hand liegen? Und wem nützt es, das Image der Stadt durch Argumente zu „verbessern“ statt zu handeln?
Insgesamt 22 Indikatoren wurden für die Gesamtnote herangezogen, die alle in Ursache und Wirkung miteinander vernetzt sind. Statt Einzelwerten muss das ganze System durchleuchtet werden. Soll die Stadtverwaltung sich jetzt beliebig lange damit beschäftigen, die Studie zu zerpflücken mit dem Ziel, sie madig zu machen? Oder besser diesen nicht unbeträchtlichen Zeitaufwand für Wege aus dem Dilemma nutzen?
„Wir brauchen die GEO-Studie nicht!“, verkündet SPD-Cheerleader Siegfried Neumann. Er selbst habe schon seit Jahren auf die Probleme hingewiesen und in der Verwaltung würde längst an Lösungen gearbeitet. Wie unvorsichtig von ihm. Statt die Studie als Chance zu begreifen, bescheinigt er seiner Mehrheitsgruppe und auch der in ihrem Auftrag arbeitenden Verwaltung, bereits ihr Bestes gegeben zu haben – ohne sichtlichen Erfolg. Sackgasse.
Jeder spricht mal, bevor er denkt. Also: Schwamm drüber.
Obwohl gemäß Nr. 1 und 2 nicht erforderlich, startet Oberbürgermeister Menzel Ende April sofort seine „Aktion Zukunft für die Stadt“. In Form der Anordnung einer vorläufigen (d. h. streng geprüften) Haushaltsführung. Im Mittelpunkt steht jetzt die Verbesserung der städtischen Infrastruktur. Prinzipiell ein guter Anfang, denn: Mit sinkender Zahl an Einwohnern und damit städtischen Einnahmen wird die Infrastruktur ausgedünnt, was die Lebensqualität schmälert und weitere BürgerInnen aus der Stadt treibt. Wo Nahverkehr, Postämter, Schulen, Schwimmbäder oder wohnungsnahe Einkaufsmöglichkeiten fehlen, herrscht bald tote Hose.
Wo gespart werden soll, um mit guter Infrastruktur die Leute hier zu halten und neue anzuziehen, wurde bislang nicht verraten.
Wohl aber, was Menzel für wichtig erachtet: Sanierung eines Teils der Marktstraße Ost und der Emsstraße, bessere Cityanbindung an den Hafen und die Hafentorbrücke als Zufahrt zum geplanten Gewerbegebiet Schleuseninsel – und natürlich den JadeWeserPort.
Alles olle Kamellen, die teilweise seit Jahren die WZ füllen. Sind Straßen und Gewerbeflächen das, was BürgerInnen unter Lebensqualität verstehen? Z. B. jene, die sich jetzt noch auf der Schleuseninsel erholen oder dort sogar einen Freizeitgarten haben, sicher nicht.
Schon vor Veröffentlichung der Studie war der Aufbau einer Neubürgeragentur begonnen worden. Zielgruppe sind die etwa 9000 Einpendler. Man will ihnen Angebote unterbreiten, sich hier auch niederzulassen statt nur zum Arbeiten herzukommen. Das ist von der Stadt Bremen abgeguckt, die so binnen zwei Jahren über 300 NeubürgerInnen gewonnen hat. Wären die 9000 also in nur 60 Jahren zu schaffen.
Mitte April startete die Stadt eine überregionale Marketingkampagne, zunächst im gesamten nördlichen Weser-Ems-Gebiet, als Auftakt für eine bundesweite Anzeigenserie, „durch die Art ihrer Gestaltung auch eine Imagewerbung für Wilhelmshaven als Wohnort“ (Pressemitteilung der Stadt vom 16.4.).Große Versprechungen und ein Eigenheimchen am Stadtrand reichen aber nicht aus, es muss auch Butter bei die Fische: Erholungs-, Freizeit-, Bildungs-, Kulturangebote. Kindergärten, Schulen, Spielplätze. Lässt das Engagement nach, sobald man die Menschen sicher im Melderegister hat, fühlen sie sich geneppt und der Schuss geht nach hinten los. Man sollte nichts versprechen, was man nicht halten kann.
Und realistisch bleiben: Einwohnerverlust durch Wegzug und Geburtenmangel sind bundesweite Trends, und damit auch der Kampf um NeubürgerInnen. Warum sollten umzugsfreudige Deutsche ausgerechnet nach Wilhelmshaven strömen?
… machen sie dann nicht depressiv? Kann man in ihnen, die keine von Bäumen bestandenen Boulevards mehr haben, keine Bänke, die sich zum Ausruhen im faszinierenden Kaleidoskop der Stadt anbieten — kann man in ihnen mit Lust verweilen, zu Hause sein?
„Eine Verurteilung kann und soll dies nicht sein, wohl aber Orientierungshilfe, Trendbericht mit Frühwarnfunktion, Anstoß zur Diskussion“ erklärt GEO-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede im Vorwort zur veröffentlichten Statistik. Der Anregung folgend forderte die FDP-Fraktion im Rat der Stadt eine Analyse und einen Handlungskatalog bezüglich des Bevölkerungsrückganges in Wilhelmshaven. Was die Mehrheitsgruppe unter den eingangs erwähnten Argumenten (Studie ist falsch und wir arbeiten sowieso längst dran) ablehnte.
Vierteljährlich legt die Stadt ihren „Stadtistik-Report“ vor. Ein erster Ansatz wäre, die erfassten Bevölkerungsdaten noch detaillierter, etwa nach Alter, Geschlecht und Nationalität aufzuschlüsseln. So könnte man Problemgruppen besser erkennen und gezielter ansprechen. Z. B. verlassen bundesweit gerade junge, qualifizierte Frauen sozial schwache Regionen, da sie von Arbeitslosigkeit noch stärker betroffen sind als Männer. Ist dieser Trend in WHV durchschnittlich, stärker oder schwächer? Muss man sich vielleicht in Form bestimmter Angebote auf diese Gruppe konzentrieren, damit sie hier bleiben, Familien gründen, Kinder bekommen?
Der Ort Tiflingerode (Harz) lockt mit Babyprämien und Babysitting durch den Bürgermeister. Sollte auch Eberhard Menzel noch mal den Umgang mit Windeln und Schnuller trainieren? Zumindest ist es ein Anstoß, mit ungewöhnlichen Ideen zu arbeiten.
Unsere lokalen Meinungsmacher aus Politik, Verwaltung und Tagespresse glauben stets zu wissen, was die BürgerInnen von einer lebenswerten Stadt erwarten. Für Siegfried Neumann (schon wieder! Der weiß es nun mal immer am besten) sind es vor allem Arbeitsplätze. Klar sind die wichtig, aber bis in Deutschland wieder Vollbeschäftigung herrscht, also etwa während der nächsten 100 Jahre, muss man die Leute auch so bei Laune halten. Auch Kinder, Jugendliche, Alte, Hausfrauen und –männer.
Bauausschussvorsitzender Norbert Schmidt hat bei den dringend benötigten Zuwanderern Bauwillige im Visier. WZ-Schmid pflichtet ihm bei: „Zuwanderer wollen nicht unbedingt in eine der leerstehenden Wohnungen in der Südstadt ziehen, sondern aus einem Angebot an preiswerten Grundstücken ihre Wahl treffen.“ (WZ 27.3.2004) „Nicht unbedingt“ heißt, er weiß es nicht genau. Wir übersetzen es mal anders: Wenn man die richtigen Bedingungen schafft, lässt sich auch die Innenstadt wieder beleben.
Fragen wir doch mal die Menschen, welche Bedingungen sie vorfinden möchten. Tatsächlich plant die Stadt eine Fragebogenaktion, deren Ergebnisse allerdings nur so gut und hilfreich sind wie die gestellten Fragen. Ganz wichtig: Was ist für die hier lebenden, nach WHV oder aus der Stadt weg ziehenden Menschen Lebensqualität? Was erwarten sie von ihrem Wohnumfeld? Es reicht nicht, Kunden der Nordseepassage zu befragen, warum sie hier sind (was positive Antworten erwarten lässt). Wichtig wäre zu wissen, warum Leute im Umland shoppen gehen, statt ihre Kaufkraft hiesigen Händlern zu widmen. Und ob die fest geplante „maritime“ Pflasterung und Beleuchtung von 200 Metern Marktstraße sie in die Stadt zurückholen wird. Was Menzel schick findet, muss nicht zwingend den Geschmack und die Bedürfnisse seiner WählerInnen treffen.
„Das menschliche Leben beginnt jenseits der Verzweiflung“, sagte Jean-Paul Sartre. Sagt heute Bernhard Reuter, Landrat des Landkreises Osterode. Der hat in Niedersachen die schlechteste Bevölkerungsprognose (Platz 47, WHV 46). Reuter plant nicht, „in den sich vollziehenden demographischen Wandel einzugreifen oder sogar zu versuchen, ihn umzukehren.“ Statt dessen: „Rückbau, zusammenlegen, ausdünnen, wo immer es geht. Das heißt Schließung von Schulen, Theatern, Freibädern, Sporthallen …“ Genau das wird in Wilhelmshaven auch getan – aber gleichzeitig wird hier das Ziel verfolgt, die Bevölkerungszahl anzuheben. Quadratur des Kreises. Reuter ist zwar nicht besser dran, aber realistischer.
1965 beschrieb Alexander Mitscherlich die „Unwirtlichkeit unserer Städte“. Heute zieht, wer es sich leisten kann, in ein Einfamilien-, Doppel- oder zumindest Reihenhaus am Stadtrand, während die Innenstädte immer weiter veröden. Wenn es so weitergeht, sind unsere Städte bald ringförmig mit totem Kern.
Staatliche Förderungen wie Eigenheimzulage und Pendlerpauschale haben diese Entwicklung gefördert. Erst seit 2004 werden gebrauchte Immobilien in gleicher Höhe gefördert wie Neubauten. Die Pendlerpauschale wurde gekürzt und für ÖPNV- und Fahrradnutzer aufgewertet. Möglicher Beginn einer Trendwende. Trotzdem steht durch die Angst vorm Rentenloch die eigene Immobilie als Altersvorsorge wieder hoch im Kurs. Doch ist sicher, dass jemand das Einfamilienhaus im Maadebogen in 20 Jahren abkaufen wird?
In Wilhelmshaven werden weiterhin Neubausiedlungen geplant, als würde bis 2020 die Einwohnerschar deutlich zunehmen statt absinken. Trotz Erkenntnis, dass es „nicht nur in Wilhelmshaven Kritik an der Zersiedlung durch die Ausweisung immer neuer Wohnflächen“ gibt (Max Schmidt, WZ v. 27.3.04). Aus ökologischer Sicht wird das dem Rat (mit Ausnahme der Ratsherren Tjaden und von Teichman) erfahrungsgemäß wurst sein. Aber Zersiedelung hat auch ökonomische Folgen: Neue Verkehrseinrichtungen, Begleitgrün, Ver- und Entsorgungsstränge, die unterhalten sein wollen. Mehr Verkehr. Neue Billigdiscounter auf der grünen Wiese, die den Einzelhandel der Innenstadt ausbluten und Arbeitsplätze killen. Längere Wege zu Schulen, Kindergärten, Schwimmbädern. Höherer Verwaltungsaufwand.
Im Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ haben Leipziger Stadtplaner das Leitbild der „perforierten Stadt“ entwickelt: Mehr Freiraum statt Dichte. Andernorts werden ungenutzte Flächen als Mietergärten oder Spielwiesen genutzt. Historisch war Wilhelmshaven mal perforiert, schon aus kriegstaktischen Gründen gab es ursprünglich nur Satelliten-Stadtteile. Heute wird jede innerstädtische Freifläche schnell als Baulücke identifiziert. Da muss ein Parkplatz draus werden – wie aus dem kleinen Biotop Ebert-/ Ecke Gökerstraße. Da muss ein Haus drauf gebaut werden – wie auf der Wiese am Bontekai zwischen Virchow- und Neckarstraße. Avantgardistisch, passt zur umgebenden historischen Architektur wie Gummistiefel zum Minirock. Sechs solcher Blöcke waren ursprünglich geplant. Der erste gleich an der einzigen Ecke, wo zwei große alte Bäume standen. Über ein Jahr nach der Fertigstellung hat noch nicht mal die Hälfte der Wohnungen einen Besitzer gefunden. Ehe man weitere solcher Experimente genehmigt, sollte man sich bemühen, Dutzende leer stehender Altbauten wieder zu füllen. Neumann (schon wieder) hatte mal die Idee, sie abzureißen und durch Klinker-Mehrfamilienhäuser zu ersetzen. Kein Kommentar.
M. Bretschneider, Dt. Institut f. Urbanistik
Das Thema Schrumpfung „übersteigt den Horizont von Wahlperioden und widerspricht allen Wohlstandsversprechen“ (GEO). Das führte in der Politik zu einer „lange praktizierten Erkenntnisverweigerung“ (Heinrich Mäding, Leiter des deutschen Instituts für Urbanistik). Auch in Wilhelmshaven, aber nicht überall. „Den Osten finden Sie hier auch“ räumt der Gelsenkirchener Kämmerer Rainer Kampmann ein. Tatsächlich leuchten die in der GEO-Karte blau dargestellten Schrumpfungsgebiete in größeren Zusammenhängen vorwiegend in den neuen Ländern und im Ruhrpott. Auch Südniedersachsen und Teile des Saarlandes sind betroffen. Und Wilhelmshaven.
In der Prognose bis 2020 breitet sich der Blauton wie ein Virus über die Republik aus und nimmt in Wilhelms- und auch Bremerhaven eine dunklere Schattierung an.
Was ist den betroffenen Gebieten gemein? Neben einer geografischen Randlage eine ehemals einseitige Wirtschaftsstruktur. Im Osten das nach der Wende zusammengebrochene sozialistische Wirtschaftssystem, im Ruhrpott und im Harz der Bergbau, an der Küste Werften und Hafenwirtschaft. In Wilhelmshaven im Besonderen die deutsche Kriegsindustrie. Ohne die hätte sich kaum jemand für den ehemaligen Sumpf im letzten Winkel des Landes interessiert. Auch die A29 ist bis heute eine der gemütlichsten Autobahnen Deutschlands. Soll heißen: an der ungünstigen Lage der Stadt kann niemand etwas ändern. Und so lange sie durch Kriegspläne, später auch durch die Olympia-Werke mit Tausenden Beschäftigten blühte, dachte keiner daran, die Existenz der Stadt bzw. ihrer BürgerInnen neu zu definieren und auf breitere Füße zu stellen.
Als es soweit war, darüber nachdenken zu müssen, klammerte man sich in Panik an jedes mögliche Standbein: Sowohl Großindustrie als auch Tourismus, sowohl Nordseepassage als auch Filialdiscounter am Stadtrand, und jeder Investor wird bis heute mit Handkuss genommen, ohne zu überlegen, dass sich Nutzungs- und damit Erfolgskonflikte ergeben können. Es gibt kein typisches, gelenktes Stadtbild, es gibt keine Identität. Mangels sichtbarem Konzept (außer: „wir wollen und nehmen alles!“) hat die Stadt kein „Image“, so oft es auch beschworen wird, und das penetrant zitierte „maritime“ Image schlägt sich letztlich nur als böse blaue Farbe auf der Prognosekarte nieder.
Vielleicht ist Wilhelm an allem schuld. Vielleicht konnte es hier gar nicht anders laufen, als es nun mal gelaufen ist. Ohne ihn hätten sich aus den paar Wurtensiedlungen, die er hier vorfand, vielleicht bis heute ein schnuckeliger Kutterhafen und ein paar romantische Feriendörfer entwickelt.
Unsere Politiker sollten realistisch bleiben. Es gibt Dinge, die sie nicht ändern können: Die Lage der Stadt, die geschichtlichen Wurzeln der Stadt. Auch fehlt es ihnen an Kreativität und Durchhaltevermögen. Wie viele hoch aufgehängte Konzepte sind schon in der Schublade verschwunden. Wieviel Kreativität aus der Bürgerschaft wurde schon durch Arroganz, Formalismus und individuelle Interessen getötet. Mit Kühen ringsum statt Hornbach.
Vielleicht sind unsere Lokalpolitiker auch einfach zu alt. Eine Stadt, der es deutlich an Kindern und Frauen fehlt, wird von Männern um die 60 regiert.
Nein, viel wird in Wilhelmshaven in den nächsten Jahrzehnten nicht passieren. Man muss es sich nur eingestehen, kleinere Brötchen backen, dann kann man gut damit leben. Die Hoffnung darf man nie aufgeben, doch jedes weitere überzogene, nie einlösbare Versprechen tötet sie Stück für Stück. n
Es gibt noch viele Aspekte und Details der Demographiestudie und ähnliche Untersuchungen zum Thema, die für die Entwicklung Wilhelmshavens interessant sind. Wir werden uns in weiteren Ausgaben damit beschäftigen.
Die Ergebnisse der Studie sind abrufbar unter
http://www.geo.de/GEO/static/demographie/beilage.pdf www.berlin-institut.org
Zum Beispiel Gelsenkirchen
Gelsenkirchen ist mit der Gesamtnote 4,86 Schlusslicht in Nordrhein-Westfalen. Oberbürgermeister Oliver Wittke, 36 Jahre jung, packt Arm in Arm mit Kämmerer Rainer Kampmann die Probleme an, die sich seit den Zechenschließungen 1976 aufstauen. Fast ein Drittel der Einwohner hat die Stadt seitdem verloren.
Wittke will die Menschen und damit das Leben wieder vom Stadtrand ins Zentrum holen.
Er ließ Bürger interviewen, die aus der Stadt weggezogen waren. Die meisten hätte ein besseres Wohnumfeld in der Stadt gehalten.
Gesagt, getan. Eine ehemalige Zeche wurde in einen Park verwandelt, im Maschinenhaus ein Kindertheater eingerichtet. Eine Gesamtschule aus Holz, Glas und (Wasser-)gärten wurde von den SchülerInnen mitgeplant. Auf einer ehemaligen Halde entstanden ein Skulpturengarten und ein gläserner Wissenschaftspark.
In Wilhelmshaven soll z. B. die Südzentrale abgerissen und die Fläche mit Kühlhäusern bebaut werden, statt das historische Gebäude umzunutzen.
In Gelsenkirchen bot eine Wohnungsbaugesellschaft Häuser zum Selberbauen an. Zusätzlich entstand eine Solarsiedlung mit 72 Reihenhäusern. Auch Kampmann wohnt dort.
In Wilhelmshaven wollte Ende der 90er Jahre eine Gruppe sozial und ökologisch engagierter BürgerInnen eine Ökosiedlung errichten. Auf einem nicht mehr benötigten Stück Friedhofserweiterungsgelände. Geplant waren bedarfsgerechte Wohnraumzuschnitte für verschiedene Generationen und Lebensentwürfe. Gemeinsam, also effektiv genutzte Freiflächen. Gemeinsame, auch für Bewohner umliegender Stadtteile nutzbare Infrastruktureinrichtungen. Car-Sharing. Die Möglichkeit, sich in der Gemeinschaft wohl zu fühlen oder in ruhigere Bereiche zurückzuziehen, zum Beispiel für alte Menschen. Da wolle sich eine Elite auf ihre Insel zurückziehen, hetzten damals Konservative. Die Planungen wurden nicht genehmigt. Heute wohnt auf der Fläche eine Elite, die sich Villen auf Riesengrundstücken leisten kann.
In Gelsenkirchen will man Hauseigentümer motivieren, ihren Bestand zu sanieren, Wohnungen zusammenzulegen, Höfe zu entkernen.
In Wilhelmshaven heißt es, man käme an die oft auswärts lebenden Eigentümer nicht heran. So bleibt bei denen der schwarze Peter, bis die Abrissbirne droht.
Kampmann finanziert seinen Stadtumbau durch Aktien, Leasing und anderes privatwirtschaftliches Engagement. „Weniger Verkehrslärm, reinere Luft, mehr Grün. Eine derart verschlankte Stadt könnte eines Tages auch wieder Menschen anziehen.“
Von einer zukunftsweisenden und bürgernahen Stadtplanung ist Wilhelmshaven noch weit entfernt. Einzig die Wohnungsbaugesellschaften machen sich Gedanken, wie sie ihren Bestand durch Zusammenlegung, Gärten, Gästewohnungen u. ä. den Bedürfnissen potenzieller Bewohner anpassen können. (iz)
Alle nicht namentlich gekennzeichneten Zitate sind aus: Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1965.
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