Absurd
Die ALI informierte sich über die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung
(noa) Gut besucht war die Monatsversammlung der Arbeitsloseninitiative am 11. Februar, zu der Thomas Eiben, Marktbereichsleiter der AOK, als Referent zu Veränderungen im SGB V eingeladen war. Er versprach eine „neutrale Aufklärung“. Streckenweise ging es recht turbulent zu.
Ob nur noch Millionäre es sich leisten könnten, krank zu werden, war die provozierende Frage, mit der Werner Ahrens diese Veranstaltung überschrieben hatte. Ganz so schlimm ist es wohl nicht, aber unbestreitbar ist eine Erkrankung für einen Hartz IV- oder Grundsicherungsempfänger ein Ereignis, das die Finanzplanung für Monate durcheinanderbringen kann.
Schon seit 2004 gibt es die Befreiung von der Zuzahlung zu Medikamenten nicht mehr. Damals zu Beginn war es für Menschen mit sehr niedrigem Einkommen tatsächlich ein Desaster, wenn sie krank wurden und über längere Zeit Medikamente einnehmen mussten. Da konnte es leicht passieren, dass zur Monatsmitte das Geld alle war. Da half es vielen auch nicht, dass es eine Obergrenze für die Zuzahlung gibt, die bei 2 % des Einkommens – für chronisch Kranke bei 1 % des Einkommens – liegt. Damals rechneten die Betroffenen mit und gingen irgendwann, wenn sie die Obergrenze erreicht hatten, zur Krankenkasse, um dann für den Rest des Jahres von Zuzahlungen wie auch von der zu Beginn des Quartals fälligen Zahlung von 10 € beim Arzt und beim Zahnarzt befreit zu sein, oder sie rechneten am Ende des Jahres aus, ob sie eventuell von der Kasse Geld zurückbekommen würden. Mittlerweile hat es sich gut eingespielt, dass man gleich zu Beginn eines Jahres den Höchstbetrag zahlt und sofort für das ganze Jahr von Zuzahlungen befreit ist.
Für BezieherInnen von Alg II, Sozialgeld oder Grundsicherung liegt dieser Betrag bei 83,28 Euro bzw. – für chronisch Kranke – bei 41,64 Euro. Diese Summe im Januar aufzubringen ist schon ganz schön schwierig, wenn man nur über 347 Euro monatlich verfügt, aber es erspart einem die Mitrechnerei und das Sammeln von Quittungen. Leute, die schon seit längerer Zeit im Leistungsbezug sind, müssten es schon kennen und daran gewöhnt sein. Doch wer neu im Alg II-Bezug ankommt, hat seine Kämpfe damit auszustehen.
Seit 1996 gibt es die Wahlfreiheit bezüglich der Krankenkasse. Bis dahin waren Sozialhilfeempfänger automatisch AOK-Mitglieder; seither ist die AOK nicht mehr die einzige Kasse, die dieses Klientel betreut. Seither gibt es auch den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, die natürlich allesamt darauf erpicht sind, möglichst viele Versicherte mit hohem Einkommen (also hohem Beitrag) bei möglichst niedrigem Erkrankungsrisiko zu ihren Versicherten zu zählen.
Der Wettbewerb hat schon zu einer Reduktion der Krankenkassen geführt. Gab es 1996 noch 400 Krankenversicherungen, sind es jetzt nur noch 210.
Nun steht eine Neuerung an: Ab dem 1. Januar 2009 wird es den Gesundheitsfonds geben. Der Gesundheitsfonds, so erläuterte Eiben, ist ein Mischmasch aus den beiden Modellen, die in Frage standen: die Bürgerversicherung und die Kopfpauschale (sh. Kasten). Und mit dem Gesundheitsfonds wird einen einheitlichen Beitragssatz für alle Krankenkassen geben. Doch so einheitlich wird er in Wirklichkeit nicht sein, denn wenn eine Krankenkasse mit ihren Beiträgen nicht auskommt, wird sie einen Risikozuschlag erheben dürfen (müssen), der bei mindestens 8 Euro monatlich liegt und einkommensunabhängig ist.
Günther Kraemmer wies darauf hin, dass der Risikozuschlag im Unterschied zum Beitrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich teilen, von den Versicherten allein getragen werden muss. Die Unternehmer werden hier eine große Entlastung erfahren.
Wenn es bis dahin noch nicht deutlich geworden war, wurde den TeilnehmerInnen spätestens bei der nächsten Erläuterung klar, warum es bei der AOK die Berufsbezeichnung „Marktbereichsleiter“ gibt. Die gesetzlichen Kassen führen demnächst etwas ein, was bisher nur privat Krankenversicherte kennen: Selbstbehalttarife. Das geht so: Wenn der Beitrag normalerweise 400 Euro betragen würde, kann man beispielsweise vereinbaren, dass man nur 300 Euro monatlich zahlt, aber Arzt- und Medikamentenkosten bis zur Höhe von 1000 Euro selber trägt. Als Versicherter hat man bei diesen Beispielzahlen mindestens 200 Euro im Jahr, im besten Fall (also wenn man nicht krank war) aber 1200 Euro gespart. Der Vorteil für die Krankenkasse liegt darin, eine Menge Kleinkram nicht abrechnen zu müssen, also Arbeitskraft einzusparen.
Außerdem gibt es schon Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern (Ärzten, Kliniken etc.) bezüglich bestimmter Krankheitsbilder – das hat vor geraumer Zeit ein Vertreter der DAK bei einer ALI-Versammlung erklärt. Und wenn der Gesundheitsfonds eingerichtet ist, werden Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen möglich sein.
Wenn man alt genug ist, um sich weit genug zurückerinnern zu können, weiß man noch etwas vom „Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz“ (70er Jahre) – heute heißt ein Gesetz, das Krankheit für die Menschen zum finanziellen Risiko machen wird, „Wettbewerbssicherungsgesetz“.
Die ursprüngliche Idee der Krankenversicherung bestand einmal darin, dass die Menschen einen regelmäßigen Beitrag entrichten, um im Krankheitsfall abgesichert zu sein. Heutzutage kann eine Krankheit alle, die sich keine Zusatzversicherungen leisten können, in den finanziellen Ruin treiben.
Ernst Taux äußerte sich zu den schon erfolgten und noch anstehenden Veränderungen recht heftig: „Das sind Absurditäten! Man schätzt sein Risiko ab und sichert bestimmte Risiken nicht ab. Durch solche Argumente fördert man die privaten Krankenkassen.“
Die „Solidarische Bürgerversicherung“: Alle Bürger zahlen einen bestimmten Prozentsatz aus der Summe aller eigenen Einkünfte (Lohnarbeit, Kapitalerträge, Mieteinnahmen, Zuschüsse und sonstige Einnahmen) ggf. bis zur Beitragsbemessungsgrenze in die Bürgerversicherung ein. Es ist umstritten, ob die Deckelung der Beiträge für besonders gut Verdienende (Beitragsbemessungsgrenze) aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend ist, da bei einer Pflichtversicherung der Beitrag immer in einem einigermaßen verträglichen Verhältnis zur Leistung stehen müsse. Durch die „Solidarische Bürgerversicherung“ soll die Einnahmesituation der gesetzlichen Krankenkassen so weit verbessert werden, dass weitere Beitragssteigerungen und Leistungskürzungen vermieden werden können. Dieses Konzept wird unter den derzeit (2006) im Bundestag vertretenen Parteien von SPD, Bündnis90/Die Grünen und der Linken (hier wird auch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze gefordert) befürwortet. Wenn der Begriff Bürgerversicherung in der Berichterstattung der Medien oder im politischen Diskurs gebraucht wird, ist fast immer diese Form gemeint.
• Um den rasch populär gewordenen Begriff Bürgerversicherung für den eigenen Standpunkt benutzen zu können, wurde von einigen irreführend versucht, ihn auf das Konzept der „Gesundheitsprämie“ auszudehnen. Dabei sollen alle Bürger einen gleichen Betrag (Kopfpauschale, Kopfprämie, Bürgerprämie) in die Versicherung einzahlen. Er kann bei Geringverdienern aus Steuermitteln subventioniert werden. Die Beiträge für Kinder sollen ebenfalls aus Steuermitteln aufgebracht werden. Dabei sieht das Konzept der Union allerdings vor, dass nur die derzeit gesetzlich Versicherten einbezogen sind. Selbständige, Beamte und Besserverdienende sollen davon nicht direkt betroffen werden, allerdings den Solidarausgleich (kostenlose Mitversicherung der Kinder, Unterstützung für Einkommensschwache) über die Einkommenssteuer (die keine Beitragsbemessungsgrenze kennt) mitfinanzieren.
Quelle: WIKIPEDIA
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