Sozial Fall
Aug 191991
 

Kinderreich

Eine Familie verliert ihren Glauben an den Sozialstaat

(hk) Zwischen Resignation, Wut und Verzweiflung schwankte die Stimmung bei Herrn und Frau L., als sie dem GEGENWIND ihren „Fall“ schilderte: es geht um Wohnverhältnisse, Behörden und Ämter.

Familie L., das sind 8 Personen: 2 Erwachsene und 6 Kinder im Alter von 7 Monaten bis 18 Jahren. Frau L. hat einen kleinen Betrieb gegründet. „Wir wollen raus aus der Misere, aber mit Sozial- und Arbeitslosenhilfe ist das nicht zu schaffen. Das reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben“, begründet sie diesen Schritt.
Die Familie bewohnt 2 Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus. „Nachts können die Kinder, die in der anderen Wohnung ihre Zimmer haben, nicht einmal zu uns kommen, weil wir die Türen immer verschließen müssen“ so Herr L. auf die Frage, wie es sich denn in zwei ‚Wohnungen leben läßt.
Ein gemeinsames Frühstück oder Mittagessen kennt die Familie nicht: In der kleinen Küche muß abwechselnd gegessen werden. Die Außenwände sind so naß, daß die Heizungen samt Dübel aus der Wand fallen. Frau L.: „Muß erst ein spielendes Kind von einer Heizung erschlagen werden, damit endlich etwas passiert?“ Der Hauseigentümer wohnt irgendwo bei Köln, er interessiert sich nur dafür, die Miete pünktlich zu bekommen.

Herr L. hat wegen der vielen Mängel (die Mängelliste würde eine ganze Gegenwind-Seite füllen) die Mietzahlungen schrittweise auf 50 % reduziert. Dafür steht ihm jetzt eine Räumungsklage ins Haus. In unzähligen Briefen haben die L. ’s ihre Situation geschildert und um Abhilfe gebeten: Da wurde keine Behörde, kein Amt und kein Ministerium ausgelassen. Doch nichts rührte sich. Entweder wurden die Briefe gar nicht beantwortet oder man bekommt Auskünfte wie „nicht zuständig“, „sie müssen auf den freien Wohnungsmarkt gehen“ usw. Anträge auf Hilfen werden erst nach Monaten, zumeist abschlägig, beantwortet. Ein Antrag auf Zahlung einer einmaligen Unterstützung für die Kleidung der Kinder wird mit dem Hinweis, daß Herr L. ja über genügend Geld verfügen müßte, da er ja die Miete gekürzt habe, abgelehnt.
Erfolgversprechender scheint da der Weg über die Landesregierung zu sein: Zwei Petitionen an den Landtag werden dort bearbeitet. In den Petitionen geht es um die Bewilligung von Landesmitteln zum Erwerb von Wohnraum für kinderreiche Familien. „Die für uns beste Lösung wäre“, so Herr L., „wenn wir in ein genügend großes Einfamilienhaus ziehen könnten. Dadurch würde sich unsere Misere am besten beseitigen lassen. Das kann ja ruhig ein altes Haus sein, das wir noch umbauen müssen.“
Das vor wenigen Wochen gekommene Angebot der Wohnungsbaugesellschaft Jade, der Familie eine Doppelwohnung anzubieten, sieht Herr L. als Erfolg seiner Schreiben an die niedersächsische Landesregierung an. Und er wird es natürlich annehmen.
Familie L. sieht auch ein, dass die Stadt Wilhelmshaven angesichts der zugewiesen Aussiedler und Asylanten keinen Wohnraum herzaubern kann, aber „Mich interessiert in erster Linie was aus meiner Familie und den Kindern wird, das ist mir wichtiger als alles andere.“
„Die Kinder leiden am Schlimmsten. Zwei befinden sich deswegen bereits in therapeutischer Behandlung, doch genauso schlimm ist die Art und Weise, wie wir von den Behörden hier behandelt werden“, antwortet Herr L. auf unsere abschließende Frage, was für ihn denn das schlimmste an der jetzigen Situation sei.

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