(iz) Ausgemachte Halloween-Fans sind begeistert, dass sie 2017 am 31. Oktober – einem Dienstag – frei haben. Vermutlich ist vielen gar nicht mehr bewusst, dass dieses Datum in Deutschland eigentlich mit dem Gedenken an die Reformation der Kirche durch Martin Luther verknüpft ist. Luther? War das nicht der mit 95 Thesen? Richtig, die hat er 1517 veröffentlicht (der Überlieferung nach durch Aushang an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg) und dadurch einiges ins Rollen gebracht. Anlässlich des 500jährigen Jubiläums dieses Ereignisses feiert die Evangelische Kirche in Deutschland das Lutherjahr 2017. Der Reformationstag ist in diesem Jahr ein bundesweiter Feiertag und übers ganze Jahr gibt es dazu an vielen Orten religiöse und kulturelle Veranstaltungen. Die Landesbühne Niedersachsen Nord hat das Rock-Oratorium „Luther – Rebell wider Willen“ ins Programm genommen. Es wird ausschließlich in Kirchen im Spielgebiet aufgeführt, Premiere war in der Christus- und Garnisonkirche in Wilhelmshaven.
Die Garnisonkirche ist ein reizvoller, aber theatertechnisch anspruchsvoller Aufführungsort. Etwas sattelfest sollte man in der Reformationsgeschichte schon sein, um der temporeichen Handlung folgen zu können.
Weltpremiere hatte das Musical bereits 2013 in Eisenach. Das Libretto schrieb die Berliner Regisseurin Tatjana Rese, die Musik Erich A. Radke, musikalischer Leiter des Schauspiels an der Landesbühne. Für die hiesige Inszenierung haben sie ihr Werk in die Dramaturgie eines Oratoriums gebracht und für eine sechsköpfige Band umgeschrieben mit dem Ansatz „Was macht den Mann und sein Werk für heutige Zuschauer interessant?“ Ein ambitioniertes Ziel, dessen Umsetzung durch das gewählte künstlerische Format und die räumlichen und akustischen Eigenheiten einer Kirche nicht einfacher wird.
Ein Oratorium kommt, anders als eine Oper/ette oder ein Musical, ohne die Rahmenhandlung eines Schauspiels aus. Jedenfalls vom Prinzip her – in diesem Fall eher nicht. Der erste Teil des 100minütigen Stücks (ohne Pause) wird tatsächlich durchgängig nur durch Musik und Gesang transportiert. Das ist sehr anstrengend. Die Gesangsleistungen sind durchweg fantastisch, sowohl stimmlich als auch in der sprachlichen Akzentuierung, aber Tatjana Reses Texte sind sehr komplex. Eigentlich muss man sich jede Zeile auf der Zunge zergehen lassen, doch gleichzeitig schon auf das Folgende konzentrieren – nicht nur inhaltlich, auch akustisch, denn im Kirchengewölbe verliert jede noch so pointiert gesungene Silbe an Kontur, ehe sie das Ohr erreicht.
Radkes Musik ist peppig, variiert zwischen Rock Pop und Musical-Swing, mit Zitaten aus der Sakralmusik. Leider quillt, da die sechs Musiker aus Platzgründen hinter der Bühne eingekesselt sind, der Sound von dort suboptimal über die Akteure hinweg zum Publikum. Abgesehen von technischen Hürden ist es ein grundsätzliches Problem, sehr ausgefeilte, lange Textzeilen mit der Musik in Einklang zu bringen. Damit haben aber auch andere deutsche Musicals zu kämpfen, die englische Sprache zum Beispiel ist für solche Zwecke deutlich griffiger.
Im zweiten Teil wird es etwas einfacher. Das Ohr hat sich etwas in die problematische Akustik reingehört, vor allem aber gibt es nun längere gesprochene Dialoge, durch die sich die Texte der zugehörigen Songs besser erschließen. Legendäre Zitate, die Luther zugeschrieben werden und bis heute Eingang in die Alltagsspache gefunden haben („Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“), bleiben ohnehin im Ohr hängen. Auch gibt es mehr schauspielerische Akzente, die den Gesamtraum der Kirche bis zur Empore nutzen.
Oftmals ist weniger bekanntlich mehr, vielleicht ist es zu viel des Gutgemeinten, Luthers gesamte Biografie in 100 Minuten zu packen, vom Elternhaus bis zum Sterbebett. Das Studium, der Bruch mit dem Vater, Thesenanschlag, Ächtung, Wartburg, Hochzeit, zwischendurch noch ein bisschen Bauernkriege, jede Etappe gespickt mit Reminiszenzen an historische Quellen, die nur Insider komplett erfassen und einordnen können.
Dabei wird Luther noch nicht mal in allen seinen Facetten dargestellt. „Das Rock-Oratorium stellt das Wirken des Reformators als populäre Legende vor und erzählt die Geschichte eines Mannes, der versucht, einen authentischen Weg zu Gott zu finden.“ Luther als Antisemit wird nicht thematisiert, was hier aber nicht negativ zu bewerten ist, denn durch pflichtschuldiges „Abhaken“ in der ohnehin schon dicht gepackten Story wäre man diesem kritischen Aspekt nicht gerecht geworden.
Die 95 Thesen schlugen damals ein wie eine Bombe und werden hier passend mit Knalleffekt inszeniert, das Ensemble zählt in Echtzeit durch von 1 bis 95. Das erinnert ein wenig an die 39 Peitschenhiebe, die in der (ziemlich genialen) Rockoper „Jesus Christ Superstar“ schmerzhaft ausführlich intonisiert werden.
An der künstlerischen Leistung gibt es nichts zu mäkeln, die gesangliche und musikalische Qualität haben wir bereits gewürdigt. Das Eisenacher Originalensemble wird durch SchauspielerInnen und einen Kirchenchor aus Wilhelmshaven auf Augenhöhe unterstützt. Opulente Kostüme, Bühne und Licht setzen die nötigen Akzente.
Insgesamt ist das Stück nicht geeignet, autonom die Biografie Luthers und der damit verbundenen religiösen wie auch gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse und Umwälzungen zu vermitteln. Wer als Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche, in der Schule, im Konfirmandenunterricht oder durch eigene Literaturstudien mit der Reformationsgeschichte vertraut ist, hat es deutlich einfacher, der Handlung zu folgen, als jemand, der inhaltlich unvorbelastet im Publikum sitzt.
Umgekehrt mag der Besuch dieses nicht leicht verdaulichen Theaterabends dazu anregen, sich anschließend mit der Eingangsfrage „Was macht den Mann und sein Werk für heutige Zuschauer interessant?“ zu beschäftigen. Die Autoren haben eher die „Wie“-Frage beantwortet: Durch die musikalische Umsetzung und den ungewöhnlichen Aufführungsort wecken sie großes Publikumsinteresse, vor Einlassbeginn bildet sich eine Schlange vorm Kirchenportal, von der jeder Pastor bei einem normalen Sonntagsgottesdient träumt. (Um den Wartenden die Zeit zu verkürzen, könnte man dort Banner mit den 95 Thesen anbringen).
„Eine Mischung aus allegorischen, erfundenen und überlieferten Figuren begleitet die Hauptfigur des Rock-Oratoriums. Martin Luthers Lebensweg wird dabei mit einem Blick von heute nachvollzogen: „Ganz aus dem Metrum ist die Welt“ – gravierende soziale und politische Umwälzungen prägten die Zeit, in der Luther unfreiwillig zur Gallionsfigur sozialer Kämpfe und eines theologischen Streits wurde, der nicht nur zur Reformierung, sondern auch zur Spaltung der Kirche führte. Die Suche nach neuer Orientierung in einer von Unruhe geprägten Welt beschäftigt auch uns heutige, die wir uns auch als Erben Luthers verstehen können.“ So beschreibt Tatjana Rese ihr Stück.
Aus den skizzierten Gründen vermag „Luther – Rebell wider Willen“ vielleicht nicht, nicht vollständig, nicht bei allen ZuschauerInnen die vom Theater geweckten Erwartungen zu erfüllen. Als Anker und Ausgangspunkt, um die Diskussion nicht nur um Luther und die Reformation, sondern auch um die historische und aktuelle gesellschaftliche Dimension von Religion im Allgemeinen auch in unserer Region anzustoßen, ist ein Besuch der Aufführung aber auf jeden Fall empfehlenswet.
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