Mal wieder ein beachtenswerter Vortrag des bekannten Psychiatrie-Professors
(noa) Am 07.09. gab es im und am Pumpwerk den 2. Wilhelmshavener Tag der Sozialpsychiatrie. Das war auch mal wieder Zeit nach fast zehn Jahren.
Bei den 1. Tagen der Sozialpsychiatrie im Oktober 2002 provozierte der Eröffnungsredner Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner mit der These „Heimleiter sind Geiselnehmer“. Trotzdem wurde er wieder eingeladen, und wenn ich nicht sowieso aus beruflichem Interesse zum Pumpwerk gegangen wäre, dann allein schon, um Dörner wieder einmal zu erleben. Und es hat sich gelohnt.
Vorab kündigte er an, man werde ihn bestimmt vom Podium zerren müssen, da er so viel Wichtiges zu sagen habe, und 40 Minuten sind kurz. Keine Ahnung, ob er auch annahm, man werde seine Ausführungen wieder so provozierend finden wie vor zehn Jahren.
Sein Thema lautete: „Sozialpsychiatrie: aktueller Stand und Ausblick“, und er begann mit den Worten „Je älter ich werde“ – er ist jetzt 79 Jahre alt – „desto häufiger bittet man mich um einen Ausblick“, um dann aber doch erst einmal zurückzublicken. Und da gab er – wie damals – allen wieder einmal zu denken. (Unser damaliger Artikel in der Ausgabe 184 trug den Titel „Das gibt zu denken“.)
Rückblick
Die Psychiatrie als Teilgebiet der Medizin ist noch recht jung; sie entstand in etwa mit der Industriegesellschaft, an deren Ende wir uns gegenwärtig befinden. Damals entstanden große Fabriken, und es entstanden große Anstalten zur z. T. lebenslangen Verwahrung der psychisch Kranken. Das Ideal der Industriegesellschaft war der selbstbestimmte und leistungssteigerungsfähige (nicht einfach leistungsfähige!) Mensch, und diesem Ideal konnten die Kranken natürlich nicht entsprechen und wurden weggesperrt. Die Entwertung der Kranken war neu, so etwas hatte es nie zuvor gegeben. Im Rahmen des Fortschrittsglaubens der eben beginnenden Industrialisierung erwartete man das Paradies auf Erden, die leidensfreie Gesellschaft nämlich („eine idiotische Idee“, so Dörner), und da störten die Gestörten und mussten hinter Mauern verschwinden. Mit der Entwertung der Menschen sinkt die Gewalthemmschwelle. Nicht erst im 3. Reich wurden Kranke sterilisiert oder umgebracht, sondern schon in den 1880er Jahren wurden Ärzte zu begeisterten Sterilisateuren (auch gegen geltende Gesetze). Und während des 1. Weltkrieges wurde die Verpflegung in den Anstalten zum Zwecke höherer Sterblichkeit reduziert – mit Erfolg: 60.000 Menschen mehr, als normalerweise zu erwarten gewesen wäre, verloren in dieser Zeit in Anstalten ihr Leben. So mussten die Nazis nicht viel dazuerfinden, die Vorübungen waren schon gelaufen. (Über die Ermordung psychisch Kranker durch Senkung der Lebensmittelrationen im Landeskrankenhaus Wehnen während der Zeit des Nationalsozialismus siehe z. B. „Euthanasie in Wehnen“ in GW 154 und „Euthanasie und Zwangssterilisation“ in GW 261).
Nach dem Zusammenbruch des 3. Reiches dauerte es noch gut zwei Jahrzehnte, bis das Schweigen über diese Barbarei gebrochen wurde. Dörner: „Wie ist es möglich, dass Menschen, die zum Schutz und zur Hilfe für Menschen da sind, dazu gebracht werden, sie zu ermorden, habe ich mich immer gefragt“, und „das lässt sich nicht weiter steigern.“ Aber von heute aus betrachtet denkt Dörner, dass die zwei Jahrzehnte des Schweigens vielleicht ganz gut waren: Hätte man damals sofort gefragt, was einen Arzt dazu veranlassen kann, die ihm anvertrauten Menschen umzubringen, wären eventuell nur Rechtfertigungen erfolgt, oder (O-Ton Dörner): „Hätte man das Maul aufgemacht, wäre nur Scheiße rausgekommen.“
In den Jahren des „Fortschrittsgeredes“ (gemeint ist der Zeitraum 1830 bis 1980) galt der Grundsatz „stationär vor ambulant“. Die Psychiatrie-Enquête 1975 postulierte demgegenüber „ambulant vor stationär“, doch sie berücksichtigte stärker die akut Kranken. („Akut Kranke sind eher Menschen als chronisch Kranke“, stellt Dörner zynisch fest.) Die VerANSTALTung der chronisch Kranken hielt noch ein wenig länger an, und das, obwohl das Bundessozialhilfegesetz schon 1961 den Grundsatz festschrieb, dass die ambulante Hilfe für psychisch Kranke den Vorrang vor der stationären Unterbringung haben soll.
Eigentlich ist es erstaunlich, dass man sich allerorten so schwer mit der Entanstaltung tat, kostet die ambulante Versorgung psychisch Kranker doch nur etwa halb so viel wie ihre Unterbringung. Erst ca. 1980 trat die Wende ein, und heute gibt es in Deutschland keine psychiatrischen Großanstalten mehr.
Aktueller Stand
Gegenwärtig besteht „der größte Pflegebedarf aller Zeiten“, größer noch als zu Zeiten von Pest und Cholera. Grund ist u.a. die steigende Lebenserwartung.
Und: Entgegen anderslautenden Behauptungen in einschlägigen Publikationen ist auch der heutige Mensch ein Beziehungswesen. „Manche sind es mehr, manche weniger, aber wir alle haben ein Bedürfnis nach Bedeutung für andere Menschen.“ Dafür gibt es Nachweise: In den letzten 30 Jahren gab es bundesweit einen Anstieg von null auf 3000 Projekte, in denen Menschen ehrenamtlich für andere Menschen tätig werden, nachbarschaftliche gegenseitige Hilfe, Bürgervereine aller Art, sehr bekannt z.B. die Hospiz-Initiativen, und in Bielefeld gibt es schon 70 Wohnpflegegruppen, so dass man dort im Alter eine tatsächliche Wahl hat zwischen Heim und WG – es gibt dort „heimfreie“ Stadtteile. Dass eine steigende Zahl von Menschen bereit ist, Zeit für andere Menschen zu geben, hat nichts mit Moral zu tun, ist durchaus auch im eigenen Interesse der Ehrenamtlichen.
Ausblick
Und auf dem menschlichen Bedürfnis nach Bedeutung für andere Menschen fußt Dörners Ausblick, der eigentlich mehr den Charakter von Forderungen für die weitere Entwicklung der Sozialpsychiatrie hat: So ist er für ein „Therapieverbot“. Chronisch psychisch Kranke sind unheilbar, und sie werden bleiben, wie sie sind. Statt irgendwelcher (vergeblicher) Versuche, sie zu „heilen“, brauchen sie Begleiter, Freunde, Psycho-Paten.
Und Dörners Sozialraumregel sagt, dass die Hälfte der Zeit der Profis nicht für die Klienten, sondern für die Menschen drumherum gegeben werden soll: Wenn die Familien und Nachbarschaften von psychisch Kranken gestärkt, informiert und „gepflegt“ werden, geht es den „Patienten“ besser.
Inklusion, neuerdings die Formel für den Schulunterricht, gilt nicht nur dort und gründet auf der Erfahrung, dass nur Bürger Bürger integrieren können. Und Dörners Gemeinwohlregel schließlich besagt, dass bei demjenigen begonnen werden soll, bei dem es sich am wenigsten lohnt. Bei der Erläuterung dieser im ersten Moment nicht so ohne weiteres verständlichen Regel konnte er sich – 20 Minuten nach dem für seinen Vortrag vorgesehenen Ende – noch einmal so richtig warmlaufen: Anders als oft zu lesen ist, nehmen psychische Krankheiten nicht zu. Depressionen haben sich nicht vervierfacht – vervierfacht haben sich lediglich die entsprechenden Diagnosen. Statistik kann das belegen: Zwischen 1980 und 2010 erfolgte eine Halbierung der Suizide.
Und ganz besonders wichtig für psychisch kranke Menschen findet es Dörner, dass sie die Gelegenheit bekommen, zu arbeiten, wenn sie es können (und wenn es nur eine Stunde in der Woche ist), und sofort dafür bezahlt werden (und wenn es nur ein symbolischer Lohn von einem Euro ist), denn Menschen brauchen das Bewusstsein, dass sie etwas Sinnvolles tun, das anderen Menschen etwas bedeutet.
An dieser Stelle hatte er seine Redezeit bereits um eine halbe Stunde überzogen und wurde nun tatsächlich vom Mikro geholt. Eigentlich hatte er noch auf ein von ihm herausgegebenes Buch hinweisen wollen, in dem anhand von Berichten über die Auflösung einer Langzeitanstalt (Gütersloh) die referierten Vorstellungen von der Weiterentwicklung der Sozialpsychiatrie deutlich gemacht werden. Nun gut, diesen Hinweis geben wir hier gerne noch einmal:
Klaus Dörner (Hg.): Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie, Verlag Jakob von Haddis im Förderkreis Wohnen – Arbeit – Freizeit e.V.
Das Buch ist denen zu empfehlen, die sich für Möglichkeiten der Integration psychisch Kranker interessieren und es auch wagen wollen, Utopien zu verwirklichen.
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