Gesundheitssystemberatung
Aug 302006
 

Armut macht krank – Krankheit macht arm

Die Gesundheitssystemberatung hilft durch den Dschungel der Gesetze

(noa) Am 11. Juli war Marion Zuelz von der ALSO (Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg) zu Gast bei der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland (ALI). Sie stellte das neue Beratungsangebot der ALSO, die „Gesundheitssystemberatung“ vor.

2004 eingerichtet, informiert die GSB Erwerbslose und andere Ratsuchende über etwaige Leistungsansprüche, begleitet sie zu Ämtern oder verweist sie ggfs. an andere Selbsthilfeeinrichtungen. Für ihre Beratungsarbeit musste Frau Zuelz sich in die Gesetzestexte der Sozialgesetzbücher II, V und XII einarbeiten. Seit Bestehen des Angebots betrafen 50 bis 60 % der Fälle Fragen zum SGB II – das ist nicht erstaunlich, denn die Personen, die unter dieses Gesetz fallen, die Langzeitarbeitslosen, sind in ganz besonderem Maß darauf angewiesen, Hilfe und Beratung in Fragen des Gesundheitssystems zu bekommen. Ca. 30 % der vorgebrachten Anliegen betrafen das SGB V, gut 10 % drehten sich um sonstige Fragen des Sozialrechts.
Ein häufig auftretendes Problem (nicht nur bei der Gesundheitssystemberatung – auch die ALI und andere Hilfsorganisationen begegnen dem häufig) ist das Thema Zuzahlung zu Medikamenten und anderen Heilmitteln. Viele schrecken wegen des befürchteten hohen Aufwandes davor zurück, einen Befreiungsantrag bei ihrer Krankenkasse zu stellen; schlimmer noch: Viele wissen gar nicht, dass es Grenzen der Zuzahlungspflicht gibt. 2 % des Einkommens höchstens muss ein Mensch für Gesundheitsausgaben einsetzen. Bei chronisch Kranken ist es nur 1 %. Diese Grenzen sind bei Empfängern von Arbeitslosengeld II und von Grundsicherung natürlich schnell erreicht. Vom Alg II-Regelsatz sind 15 Euro für Gesundheitsausgaben (unter die auch die Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal fällt) vorgesehen. Die Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen hat ermittelt, dass chronisch Kranke 30 bis 50 Euro für medizinischen Bedarf aufwenden müssen. Die 15 Euro, die das SGB II (das ist Hartz IV) für Gesundheitsausgaben in den Regelsatz eingerechnet hat, sind am statistischen Bedarf orientiert, aber natürlich reichen sie nicht zur Bedarfsdeckung im konkreten Einzelfall.
Niemand soll in diesem Land ohne Krankenversicherungsschutz sein, beteuert die Bundesregierung immer mal wieder. Tatsächlich sind es etwa 200.000 Menschen in Deutschland, die in keiner Krankenkasse sind, und so kommt es, dass Frau Zuelz oft auch mit Ratsuchenden nach Möglichkeiten suchen muss, in eine Krankenkasse zu kommen.
Als ein weiteres häufig geäußertes Problem hat Marion Zuelz die Frage von chronisch Kranken angesichts eines Eingliederungsangebots der ARGE gehört: Soll man die Krankheit angeben, um keine Maßnahmen antreten zu müssen, die einem schaden könnten, oder soll man sie Krankheit besser verschweigen, weil man sonst Nachteile zu befürchten hätte?
In Sachen Erwerbsfähigkeitsüberprüfung macht Frau Zuelz, wie sie sagt, „paradoxe“ Erfahrungen: Sie hat Menschen kennen gelernt, die dem SGB II unterliegen und also Alg II empfangen, obwohl sie selbst sich als nicht erwerbsfähig betrachten. Sie haben sich vergeblich darum bemüht, ihre Erwerbsunfähigkeit anerkannt zu bekommen, um statt Alg II Rente oder Grundsicherung zu bekommen. Andere hingegen bekamen den Stempel „erwerbsunfähig“ und damit kein Alg II, obwohl sie arbeiten können und wollen. In beiden Varianten hat es sich als schwierig erwiesen, aus der jeweiligen Zuschreibung herauszukommen. Hier rät Frau Zuelz den Betroffenen, ein Zweitgutachten zu beantragen und gegen die Feststellung, die man falsch findet, Widerspruch einzulegen.
Die Frage, was passiert, wenn weder die zuständige ARGE noch der Rentenversicherungsträger zahlen wollen und ein Mensch sich zwischen Erwerbsfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit wiederfindet, beschäftigte die ALI schon vor Inkrafttreten von Hartz IV. So äußerte im November 2004 bei der ALI-Versammlung der Präsident des SoVD die Befürchtung, dass mit Hartz IV „Verschiebebahnhöfe“ entstehen würden (vgl Gegenwind 204). Und im März 2005 berichtete der Leiter des Sozialamtes Varel bei der ALI, dass die für solche Fälle vorgesehenen Einigungsstellen noch nicht eingerichtet seien (vgl. Gegenwind 206). Nach Erfahrungen der ALI wie auch der ALSO gibt es sie immer noch nicht – man hat sie jedenfalls noch nie in Aktion erlebt. Wie viele Menschen auf diesem Verschiebebahnhof stehen und daran verzweifeln, ist nicht bekannt.
Armut macht krank, und Krankheit macht arm. Unter den Hartz IV-Betroffenen ist Krankheit weiter verbreitet als unter der Gesamtbevölkerung: Ein Viertel von ihnen hat gesundheitliche Probleme oder Behinderungen. Bei den ARGEn gibt es jedoch keine einschlägige Beratung oder etwa dafür ausgebildetes Personal. Die Einrichtung des Gesundheitssystemberatung bei der ALSO schließt eine Lücke, die Hartz IV geöffnet hat.

Macht Armut krank?
Die Einführung der Praxisgebühr hat kaum zu Einsparungen geführt, hat neulich das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt (vgl. „WZ“, 17.08.06). Die Versicherten gehen nicht seltener zum Arzt als vorher. Mag sein. Uns sind jedoch einige Leute bekannt, die ihre Arztbesuche aufgeschoben haben, um einmal Praxisgebühr zu sparen. Ein Wilhelmshavener hat in diesem Sommer, als er wegen des Wechsels vom Alg II-Bezug in die Rente einen Monat lang gar kein Geld hatte, einen Bekannten, der wie er dauernd starke Schmerzmittel benötigt, gebeten, sich eine Extra-Portion davon verschreiben zu lassen und ihm zu geben. Damit hat er es geschafft, ein Quartal ohne Praxisgebühr zu überstehen. Vermutlich ist die geringe Einsparung, die die Praxisgebühr halt doch gebracht hat, denen zu „verdanken“, die aus Geldmangel eine Krankheit ins nächste Quartal hinein verschleppt haben und damit ihre Gesundheit weiter geschädigt haben.
Trotzdem ist die Feststellung, dass Armut krank macht, nur bedingt richtig, weil verkürzt. Es ist die soziale Ungleichheit, die krank macht und Lebensjahre kostet.
„Studien unter britischen Verwaltungsangestellten ergaben, dass die Lebenserwartung unter den Top-Angestellten auf Gehaltsstufe 32 höher liegt als die der Angestellten auf Stufe 31, die wiederum eine höhere Lebenserwartung haben als Verwaltungsangestellte auf der Stufe 30 und so weiter, bis sich schließlich die niedrigste Lebenserwartung auf Stufe 1 findet. … Dasselbe Ergebnis fand man in anderen Ländern, zum Beispiel in Spanien: … Die Differenz zwischen den beiden äußeren Polen – Großbürgertum und Langzeitarbeitslose – beträgt zehn Jahre. Durchschnittlich liegt diese Distanz in Europa bei sieben … Jahren.“ So schreibt Vicente Navarro, Professor für Politik und Soziologie an der John Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore, USA, und an der Pompeii Fabra University, Barcelona sowie Chefradakteur des International Journal of Health Services im Artikel „Ungesunde Ungleichheiten. Warum soziale Hierarchien krank machen“ im Magazin „FANTÔMAS“ Nr. 7. Er stellt fest, dass ein britischer Verwaltungsangestellter der untersten Einkommensklasse oder ein US-Bürger der Unterschicht bestimmt mehr besitzt als z.B. ein Mittelklasse-Angehöriger aus Ghana, aber dennoch eine geringere Lebenserwartung hat als jener. „Warum? Die Antwort ist einfach. Es ist schwieriger, einer arme Person in den USA zu sein als eine Mittelklasse-Person in Ghana. Für die arme Person in den USA ist die schlimmste Komponente ihrer Existenz nicht unbedingt die Abwesenheit materieller Ressourcen, sondern vor allem ihr oder sein sozialer Abstand zum Rest der Gesellschaft“, schreibt Navarro weiter, und wir ergänzen: Dasselbe trifft auf die arme Person in Deutschland, auf die arme Person in Wilhelmshaven zu.
Hier verdanken wir die aktuellen Zahlen Frau Große Bockhorn von der „WZ“: 6733 Bedarfsgemeinschaften (also Familien oder Einzelpersonen) in Wilhelmshaven leben von Alg II; von den 10.840 Wilhelmshavener Kindern leben 2953, also mehr als 27 %, in Alg II-Haushalten (vgl. „Kindern fehlt mehr als warme Suppe“ in der „WZ“ vom 09.08.06). 2953 Kinder, die jetzt schon zu einem früheren Tod verurteilt sind als die anderen! (noa)

 

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